1. Kapitel
Was ist Wirtschaftskrieg? Definitionen und Geschichte(n)
Enge Verbindung: Wirtschaft, Wettbewerb und Wettstreit
Es gibt zu viele, die vom Wohlstand durch Globalisierung schwärmen und achselzuckend an deren Opfern vorbeisehen; die den Freihandel loben und ihn zum eigenen Vorteil verhindern; die eine »regelbasierte internationale Ordnung« preisen, darin aber bloß Trittbrettfahrer sein wollen und die Instandhaltungskosten anderen überlassen. Oliver Cromwell verlangte von seinem Portraitmaler ein ungeschöntes Gemälde: Es solle ihn zeigen mit allen Unzulänglichkeiten, »warts and all«, Warzen inbegriffen. Solchem Realismus fühlen wir uns verpflichtet bei der Beschreibung der Zusammenhänge zwischen Wirtschaft, Wettstreit und Krieg.
Die meisten Menschen wollen mehr als nur leben – sie wollen gut leben. Dafür arbeiten sie, dafür arbeiten sie mit anderen zusammen, und dafür arbeiten sie gegen andere an. Schon im friedlichen Handel und Wandel steckt harter Wettkampf, ja strukturelle Gewalt: Wer bietet die beste Ware, produziert am günstigsten, macht den meisten Gewinn? Wer schlägt die Konkurrenten aus dem Feld? Was Ordnungshüter »die Fähigkeit zur Aggression« (»the gift of aggression«1) nennen, das kennzeichnet auch so manchen ehrbaren Unternehmer und sein Handeln; es hat zu Begriffen wie »schöpferische Zerstörung« (Joseph Schumpeter) geführt. Die Zerstörung alter Strukturen durch fähige Unternehmer erhöht meist die allgemeine Wohlfahrt. Die Spinning Jenny zum Beispiel, die weltweit erste Spinnmaschine für Baumwollfasern, vervielfachte die Produktivität bei der Herstellung von Webgarn. Sie machte dadurch für alle Tuch und Kleidung viel erschwinglicher, und sie half den Weg bahnen für die Exportmacht der englischen Textilindustrie. Aber Jenny und die ihr folgenden Textilmaschinen raubten in England, auf dem europäischen Festland und in Übersee auch ungezählten handwerklich arbeitenden Menschen Lohn und Brot, und die Betroffenen haben die Gewalt dieser Veränderung oft erlitten und empfunden wie ein Kapitalverbrechen. Gewiss, in der längeren Frist wurden die vorindustriellen Webersleute Europas frei, in neuen Berufen ein weniger karges Dasein zu fristen. Zuerst aber brachte ihnen der technische Fortschritt noch größeres Elend, und Hilfen auf dem Weg zu neuem Auskommen suchten sie meist vergebens. Die englische Textilindustrie wiederum wurde so produktiv und politisch einflussreich, dass England seinen Indienhandel entsprechend manipulierte: Das blühende indische Textilgewerbe wurde mit hohen Abwehrzöllen auf Distanz gehalten und ausgezehrt, die indischen Einfuhrzölle für Textillieferungen der britischen Kolonialherren minimiert, die indische Baumwolle nach England gebracht, die daraus gefertigte Ware zum großen Teil teuer den Indern verkauft, und Hunderttausende indische Weber hungerten, weil ihre Handspinnräder zum Stillstand gezwungen waren. Mahatma Gandhi hat darum das Spinnrad zum Symbol des Widerstands gegen Ungerechtigkeit gemacht. So gleitend kann er sein, der Übergang von unternehmerischem Fortschritt und allgemeinem Wohlfahrtsgewinn zu räuberischen internationalen Handelsbedingungen mit kriegsähnlicher Not im Gefolge.2
Selbst ein vollkommen friedlich und fair erreichter, großer volkswirtschaftlicher Erfolg entwickelt nicht selten ein Eigenleben und erzeugt immer weiter ausgreifende und angreifende Sachzwänge, die zu Konfliktursachen werden können: Je erfolgreicher ein Land sich industrialisiert, desto mehr Rohstoffe müssen her und desto größere Absatzgebiete, und immer längere Liefer- und Vertriebswege verlangen nach immer mehr Infrastruktur. Je weiter das entsprechende Netz von Handelsniederlassungen und Auslandsinvestitionen, von Schürf- und Transportrechten, Lieferverträgen und Wirtschaftsabkommen, Häfen und Kanälen, Eisenbahntrassen und Flugplätzen ausgebaut wird, desto mehr wird dieses Netz wie von selbst zu einem internationalen Einflussfaktor und gewinnt Freunde, Verbündete und Abhängige, und desto mehr erscheint das Erreichte seinen Erbauern schützenswert und schutzbedürftig – was nahelegt, spätestens jetzt auch militärische Macht zu projizieren. All das weckt nur zu leicht den Argwohn anderer. Die erblicken womöglich selbst in fairen Handels- und Finanzbeziehungen ein Austauschverhältnis, von dem sie relativ weniger als die Gegenseite profitieren – eine Leiter, auf der der Gegner von morgen ihnen über den Kopf steigt und die er umstößt, sobald er sich auf den »kommandierenden Höhen der Weltwirtschaft« festgesetzt hat, von denen schon Lenin sprach. Darum lautet ein Schlüsselbegriff zum Thema Wirtschaftskriege: Latenz. Latenz bedeutet das allmähliche, zuerst kaum wahrnehmbare Reifen von Entwicklungen, das sachte Heranrücken der Ereignisse, das langsame Erkennen der im Gegebenen schlummernden Möglichkeiten.3 Wenn sich täglich die Fläche der Seerosenblätter auf dem Teiche verdoppelt, dann mag das lange Zeit recht idyllisch und biodivers ausschauen, und das noch am vorletzten Tag – aber dann! Für die Latenz vor dem Umschlag haben Groß- und Hegemonialmächte meist empfindlichere Fühler und ein wacheres Bewusstsein als Klein- und Mittelmächte. Die neigen mangels Gestaltungsmacht eher dazu, sich in den Gegebenheiten einzurichten und zu hoffen: Meine Nische wird schon nicht verschwinden.
Bereits im friedlichen Handel und Wandel also stecken viel Druck und Stress, persönliches Leid und riskante internationale Dynamik. Oft bleibt es aber nicht friedlich, wo es um Handel, Rohstoffe und Märkte geht. Durch die Jahrhunderte wurden Zwischenhändler physisch ausgeschaltet, fremde Handelsstationen zerstört, Monopole aller Art errichtet, exklusive Wirtschafts- und Fischereizonen behauptet und mit Gewalt durchgesetzt, Länder okkupiert und Völker unterdrückt – alles für Machterhalt und weitere Expansion. Dabei wirken Staatsgewalt und Privatwirtschaft eng zusammen. Mal übernimmt die eine, mal die andere das operative Geschäft, und obendrein sind sie Gestaltwechsler: Hier verkappt sich der Staat als Unternehmen,4 dort übernehmen Firmen Hoheitsgewalt und stellen dafür ganze Armeen auf, wie es zum Beispiel die East India Company und ihr niederländisches Pendant getan haben.
Welche Akteure sind mit wirtschaftlichen Zielen oder Mitteln aggressiv, und was versprechen sie sich davon? Das hängt von der jeweiligen politischen Ordnung ab, vom Stand der Produktivkräfte und der volkswirtschaftlichen Erkenntnisse und Denkgewohnheiten, von den logistischen und militärischen Möglichkeiten, von der öffentlichen Meinung (falls zugelassen), von der relativen Stärke der beteiligten Staaten und vom Weltbild und den Erwartungen der Entscheider. Da liegt natürlich jeder historische Fall etwas anders, und die Faktoren der jeweiligen Willensbildung lassen sich im Nachhinein oft nur schwer rekonstruieren, gewichten und eindeutig bewerten. Doch lässt sich mit Blick auf Wirtschaftskriege immerhin eine wichtige geistesgeschichtliche Zäsur erkennen, und eine beliebte Theorie über den angeblichen Haupttreiber der meisten Konflikte lässt sich ausschließen.
It’s not the capitalists, stupid!
Zu der geistesgeschichtlichen Zäsur: Im Frankreich der absoluten Könige diente noch alles Wirtschaften vor allem der Macht des Staates, verkörpert in der Person des Monarchen, und es erschien nach der herrschenden, merkantilistischen Wirtschaftslehre plausibel, möglichst viel ans Ausland zu verkaufen und möglichst wenig von dort einzukaufen. Außenpolitik und Außenhandel wurden als ein Nullsummenspiel um Macht und Reichtum betrachtet. Handel und Gewerbe hatten nicht vorrangig dem Wohlstand der Bürger zu dienen, sondern dem Staat und seinem Machtinstrument, der Armee. Handel galt quasi als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln – und umgekehrt.5 Der Merkantilismus wurde bis Ende des 18. Jahrhunderts in unterschiedlichen nationalen Spielarten praktiziert, aber seine Grundannahmen und Ziele waren überall die gleichen: Er war wirtschaftlicher Nationalismus, um einen wohlhabenden und mächtigen Staat zu bauen. Die Regierungen strebten danach, Wohlstand anzuhäufen, und nahmen an, dass sie das nur auf Kosten der anderen Staaten tun könnten. Man hielt das Volumen des internationalen Handels für begrenzt und nicht vermehrbar. Es ging also darum, ein möglichst großes Stück davon zu bekommen, und gemessen wurde der Erfolg am eigenen Handelsüberschuss und am Bestand an Gold und Silber in der Staatskasse. Um beides zu erreichen, arbeiteten die Eliten von Politik und Wirtschaft eng zusammen, und viele tummelten sich in beiden Sphären. Der Staat verlieh seinen Kaufleuten Monopolrechte und bevorzugte die heimische Wirtschaft, indem er sie vor auswärtiger Konkurrenz schützte und bei der Eroberung neuer Märkte subventionierte. Sie dankten es ihm durch Treue und Abgaben und dadurch, dass sie seine Flagge um die Welt trugen (und einrammten wo immer möglich).
Für merkantilistisch denkende Akteure hatten Wirtschaftskriege aller Hitzegrade eine viel größere Plausibilität und ökonomische Unbedenklichkeit als für Regierungen und Gesellschaften, die bereits mit dem Freihandelsgedanken nach Adam Smith und David Ricardo vertraut waren6 und deren Volkswirtschaften sich mit anderen in tausenderlei Zusammenhängen verzahnt hatten. Auch sie strebten nach Wohlstand und Einfluss für ihre Nation, nach Gold und Größe für das Vaterland. Diese Post-Merkantilisten erkannten aber zunehmend in Krieg und Wirtschaftskrieg eine Störung der internationalen Arbeitsteilung, die insgesamt zu Wohlstandseinbußen führt. Das hatte Folgen für die Faktoren und Interessengruppen, die bei der...