1 Einleitung
1.1 Das Forschungsprojekt
Meine Dissertation entstand im Kontext des Forschungsprojekts Personale Bildungsprozesse in heterogenen Gruppen (I und II, P 225313 G-16, P 22230 G-17), das vom FWF, dem Österreichischen Fonds zur Förderung wissenschaftlicher Forschung, gefördert wurde. Dieses Forschungsprojekt geht der Frage nach, wie Schülerinnen und Schüler1 Schule in unterschiedlichen didaktischen Settings erfahren, was ihnen an diesem Ort widerfährt und wie sie auf die dort an sie gestellten Ansprüche antworten (vgl. Schwarz et al. 2013; Schwarz und Schratz 2014). Das Forschungsprojekt Personale Bildungsprozesse in heterogenen Gruppen setzt es sich zum Ziel, „Phänomene des Lernens, wie sie sich in personalen Bildungsprozessen von SchülerInnen in heterogenen Gruppen“ zwischen dem ersten und dem vierten Lernjahr „an verschiedenen NMS-Standorten in ganz Österreich zeigen“,2 zu untersuchen. Dabei stehen die Erfahrungen der einzelnen Schülerinnen und Schüler im Mittelpunkt des Interesses.
Allein schon aufgrund ihrer Verfasstheit als Verlaufsstudie und auch aufgrund des Forschungsfeldes der Neuen Mittelschulen in Österreich, einer Schulform, die erst in den letzten Jahren entstand und an der richtungsweisende erziehungswissenschaftliche, schulpädagogische und didaktische Ansätze und Modelle erprobt und umgesetzt werden, kommt den wissenschaftlichen Arbeiten, die im Zuge des Projekts Personale Bildungsprozesse in heterogenen Gruppen entstanden sind und noch entstehen, eine Sonderstellung zu.
Darüber hinaus gelingt es in den bereits vorliegenden Studien3 durch die lernseitige Perspektive, durch die miterfahrende Forschungshaltung – in Anlehnung an Beekmans „teilnehmende Erfahrung“ (Beekman 1987) –, durch Vignetten als „Klangkörper des Lernens“ (Meyer-Drawe 2012d, S. 11) und Anekdoten als „Klangkörper der Erinnerung“4 den (Lern-)Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler in ganz besonderer Weise auf die Spur zu kommen. Im Gegensatz zu Test- und Messverfahren im Bildungsbereich, die vor allem auf das Erheben von Outcomes ausgerichtet sind, beschreitet die Innsbrucker Anekdoten- und Vignettenforschung hier bewusst andere Wege.
1.2 Das Phänomen Begehren nach Wissen und die Forschungsfrage
Das Phänomen Begehren nach Wissen wurde ausgehend von den im Feld gemachten Erfahrungen und der Auseinandersetzung mit Literatur entwickelt. Wie aus dem Eingangszitat von Käte Meyer-Drawe deutlich wird, sind das Begehren nach Wissen, die Hingabe und Leidenschaft für eine Sache oder ein Thema zentrale Voraussetzungen für das Lernen. Schulischem Lernen mangelt es oft an diesem Pathos; Lehrende verfallen nicht selten „unter dem Druck der Zeit und der Forderung nach Effizienz in die Attitüde ‚des Informierens‘“ (Meyer-Drawe 2012a, S. 36) und auf der Seite der Lernenden stehen das Erledigen von Aufgaben und das Bestehen von Prüfungen im Vordergrund. Und doch blitzt das Begehren nach Wissen in den Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler immer wieder auf. Diese Eindrücke und Überlegungen führten mich zu meiner Forschungsfrage: Wie und als was zeigt sich das Begehren nach Wissen, zeigen sich Wissbegierde und Neugierde in den Erfahrungen und erzählten Erinnerungen der Schülerinnen und Schüler? Was trägt dazu bei, diese zu wecken, und was lässt sie verstummen?
Meine Arbeit verortet sich – in methodologischer Hinsicht – im Bereich der empirischen qualitativen Erziehungswissenschaften, und zwar in den Teilgebieten der Schulpädagogik und pädagogischen Lernforschung und – in theoretischer Hinsicht, aber auch hinsichtlich der methodologischen Begründung – in leibphänomenologischen Ansätzen im Anschluss an Merleau-Ponty, Waldenfels und Meyer-Drawe. Grundgelegt ist ein pädagogischer Lernbegriff, Lernen wird als „bildende Erfahrung“ verstanden (vgl. Meyer-Drawe 2008a; Dewey 2011 [1993]).
Dem Phänomen des Begehrens kommt vor allem in der Philosophie, Theologie und in der Psychoanalyse ein zentraler Stellenwert zu. Im Bereich der Erziehungswissenschaften und der Schulpädagogik und auch in der Psychologie steht dem zentralen Thema dieser Arbeit der Begriff Motivation wohl am nächsten. Ein Grund für die Bevorzugung des Begriffs Begehren ist die – in Anknüpfung an Merleau-Ponty, Waldenfels und Meyer-Drawe – bereits erwähnte leibphänomenologisch orientierte Ausrichtung meiner Arbeit. Das Begehren stellt in diesem Verständnis ein Phänomen dar, das geradezu idealtypisch die Leibgebundenheit unserer Wahrnehmungen und Empfindungen wie auch unseres Strebens und Sehnens zeigt. Es reiht sich ein in jene dem Pathos zuzurechnenden Erfahrungen, die Waldenfels als Widerfahrnisse bezeichnet, „sofern etwas nicht nur ohne unser Zutun und wider Erwarten, sondern auch entgegen unseren Wünschen eintreten kann und überdies in Situationen vorkommt, wo wir nicht mehr Herr der Lage sind“ (Waldenfels 2002, S. 15).
In der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Begehrens war es daher unumgänglich – über die oben genannten philosophisch-phänomenologischen Texte hinaus –, Diskurse aus Nachbardisziplinen der Erziehungswissenschaft einzubeziehen, wenn auch auf ausführliche Darstellungen – allein schon aus praktischen Gründen – verzichtet werden musste.
Im letzten Jahrzehnt ist im Diskurs zum Lernverständnis – vielleicht auch in kritischer Resonanz auf den Chor derer, die Lehrpersonen auf die Rolle von Coaches und Lernbegleitern und -begleiterinnen beschränken und offene Lernformen als Rezeptur gegen jegliche Art von Lernunlust verstehen wollen – ein Gegentrend zu beobachten: Immer mehr Bildungswissenschaftlerinnen und Bildungswissenschaftler machen auf die Bedeutung der Negativität des Lernens aufmerksam und betonen, dass zum Lernen notwendigerweise auch Irritation, Enttäuschung oder sogar Schmerz gehören bzw. dass solche Erfahrungen Lernprozesse oft erst in Gang setzen (vgl. Meyer-Drawe 2008a; Mitgutsch 2008 u.a.). So wichtig diese Korrektur eines einseitigen Lernverständnisses ist, so sehr ist die Bedeutung des (leidenschaftlichen) Interesses und der Freude am Lernen nicht diskutierbar. Dieses Anliegen verfolge ich in meiner Dissertation: Das Begehren nach Wissen, die Neu(be-)gierde und wie sie zu wecken, zu befördern wären, in den Mittelpunkt der Überlegungen zu stellen. Dabei wird deutlich, dass das Pathos, die Ekstase und die Leidenschaft, die mit dem Begehren eng verknüpft sind, sowohl auf schmerzliche als auch auf lustvolle Erfahrungen verweisen.
1.3 Vorgangsweise und Forschungsmethoden
Vorgangsweise und Methoden der Datenerhebung und -bearbeitung der Dissertation basieren auf dem Forschungsinstrumentarium des Projekts Personale Bildungsprozesse in heterogenen Gruppen I an der Universität Innsbruck, das im gesamten Bundesgebiet durchgeführt wurde. Ein Team von zwölf Forscherinnen und Forschern hat im Schuljahr 2009/10 48 Schülerinnen und Schüler an 24 Neuen Mittelschulen im gesamten österreichischen Bundesgebiet durch ihren Schulalltag begleitet. Dabei kamen unterschiedliche Erhebungsmethoden qualitativer sozialwissenschaftlicher Forschung, wie Gespräche mit den Schülerinnen und Schülern, den Eltern, den Lehrpersonen und den Schulleiterinnen und Schulleitern, Protokolle teilnehmender Erfahrung aus dem Unterricht, Fotos und andere Leistungsdokumente zum Einsatz (vgl. Schratz; Schwarz; Westfall-Greiter 2012, S. 17).
Ausgehend von der Miterfahrung mit Schülerinnen und Schülern in ihrem Schulalltag entstanden Vignetten, die „ausgewählte Momente gelebter Schulerfahrung sprachlich […] verdichten“ (ebd., S. 33). Die während und unmittelbar nach den Unterrichtsbesuchen entstandenen Rohvignetten wurden im Gespräch mit Schülerinnen und Schülern kommunikativ validiert und in der Forschungsgruppe im Gespräch und in rekursiven Schreibprozessen angereichert. Diese Vignetten bilden in der überarbeiteten Form eine zentrale Datenbasis der Forschungsarbeiten, die bisher im Rahmen des Projekts entstanden sind. Die Texte werden unter dem Blickwinkel eines bestimmten Phänomens, wie z.B. Vertrauen, Schweigen, Unterbrechen, Sich-Einlassen oder Zuschreibung, gelesen.
In der zweiten Projektphase5 wurden dieselben Schülerinnen und Schüler in der vierten Klasse in zwei weiteren Feldphasen im Schuljahr 2012/13 durch ihren Schulalltag begleitet und die oben genannten Erhebungsmethoden noch einmal eingesetzt. Auf der Basis der Miterfahrung der Forscherinnen und Forscher entstanden wiederum Vignetten, die auch in der zweiten Projektphase im Gespräch mit Schülerinnen und Schülern kommunikativ validiert und im Team der Forscherinnen und Forscher angereichert wurden. Um wichtige Erfahrungsmomente der Schülerinnen und Schüler in den vier Jahren ihrer Sekundarschulzeit zu erfassen, wurden darüber hinaus auf Basis der Gespräche mit ihnen sowie mit Fokusgruppen bzw. den Transkripten dieser Gespräche, also auf der Basis der erzählten Erinnerungen, Anekdoten verfasst. Die im Team der Forscherinnen und Forscher entwickelte Kurzdefinition beschreibt eine Anekdote als „merk-würdige Geschichte, in der Ereignisse mit besonderer Wirkkraft pointiert verdichtet werden, welche dem/der Forscher/-in (von einem/einer Schüler/-in) aus der erinnerten Erfahrung ihrer Mittelschulzeit erzählt werden“ (Protokoll der Forschungsgruppe, Juli...