2.
Bei Baba Mama
Hundert Meilen von Zuhause ist der Lebensstil anders.
Tausend Meilen von Zuhause sind die Sitten anders.
Zehntausend Meilen von Zuhause ist das Essen anders.
Die Yunnan-Küche wird beeinflusst von Vietnam, Laos und Burma, an die sie grenzt. Die Provinz war mir schon bei einer ersten Reise vorgekommen wie das Tessin von China: Die gleiche perfekte Mischung aus Bergen, Seen und schnuckeligen Altstädten, wie man sie in der italienischen Schweiz findet. Dali liegt in einer Ebene zwischen bewaldeten Bergen und dem langgezogenen Erhai-See. In Peking und den anderen Großstädten hat nach Maos’ kulturfeindlichem Kommunismus spätestens der Wirtschaftsboom die meisten alten Stadtteile geschluckt. Dali hat zwar auch eine hässliche Neustadt mit hohen Apartmentblocks. Aber die liegt angenehmerweise eine gute halbe Stunde Autofahrt vom historischen Zentrum entfernt. Das hat sich zum seltenen Eldorado für Backpacker, Rumhänger und Sinnsucher entwickelt.
Die Altstadt wird von einer alten, massiven Stadtmauer eingegrenzt, und in den kopfsteingepflasterten Gassen drängen sich kleine Steinhäuser mit geschwungenen grauen Ziegeldächern. In zahlreichen Cafés und Bars lässt es sich unter immergrünen Bäumen wunderbar entspannen. Das lockt Chinesen und Westler gleichermaßen an, um Qigong, Buddhismus, Kung Fu oder Traditionelle Chinesische Medizin zu studieren, unterstützt durch spottbilliges Essen und Trinken.
Über ein Internetforum finde ich eine private Chinesischlehrerin. Sie ist 32 und heißt Li Qiang, hat kurze Haare und Sommersprossen und spricht von sich als Freelance-Journalistin, Lehrerin, Dolmetscherin und Unternehmerin. »Unternehmerin?«, frage ich verwundert. »Ja, ich verkaufe Hanfprodukte.« Auf die Frage nach ihrem Lieblingsrestaurant empfiehlt mir Li Qiang ohne zu zögern das »Yi Hua Yuan«, angeblich eine lokale Institution. »Wegen der Wohnzimmeratmosphäre wird es aber einfach ›Baba Mama‹ (›Papa und Mama‹) genannt«, fügt sie hinzu. Auf einem Spaziergang durch die Altstadt von Dali mit ihren engen Gässchen und niedrigen grasbewachsenen Ziegeldachhäuschen schließlich finde ich den Ort, wo meine kulinarische Abenteuerreise beginnen soll.
Das »Yi Hua Yuan« ist ein traditionelles Familienrestaurant in einem alten Eckhaus aus Stein. Durch eine gläserne Schiebetür tritt man ein und wähnt sich tatsächlich in einem Wohnzimmer. Es gibt zwei Esszimmer, beide klein. Das größere hat drei Tische und eine Theke mit meterhohen Plastikcontainern voll Flüssigkeiten und rätselhaften Früchten. Davor reiben sich in einem Aquarium silberne karpfenartige Fische eng aneinander. An der rechten Wand steht ein breites Regal mit Gemüse. Über dem Regal türmt sich buntes Kinderspielzeug. Die andere Wand ist tapeziert mit Werbepostern für Dali-Bier. In dem kleineren Nebenraum stehen zwei runde Tische, eine Waschmaschine und ein Kinderfahrrad.
Als ich eintrete, sind schon fast alle Tische belegt. Ein alter, etwas gekrümmt gehender Herr mit hohen Wangenknochen in roter Kordjacke mit Stehkragen kommt lächelnd auf mich zu.
»Wie viele Personen?«, fragt er.
»Nur eine.«
Er führt mich zum letzten freien Tisch direkt vor Aquarium und Theke und drückt mir die Speisekarte in die Hand. Sie besteht nur aus einem doppelseitig bedruckten laminierten Blatt – leider ohne Bilder. Der Alte bleibt mit gezücktem Notizbuch neben mir stehen. Ich bin zu faul, mich an den Schriftzeichen abzuarbeiten – und wieder einmal ängstlich, in welcher Form alles Fleischliche wohl erscheinen mag. »Irgendwas mit Gemüse vielleicht?«, versuche ich es. Der hagere Mann winkt mich zum Gemüseschrank. Wie bei einer deutschen Kuchentheke kann man in vielen einfachen Restaurants die Grundzutaten per Fingerzeig bestellen. Ich zeige auf ein Körbchen mit Pilzen – für die ist die Yunnan-Küche schließlich berühmt. Dann fragt er etwas, das ich nicht verstehe und ich sage einfach: »Dui!« – Genau. Was der Alte schließlich bringt, sind kleine Scheibchen von zartem Schweinefleisch mit Pilzen. Zwar nicht ganz wie erwartet, aber es schmeckt köstlich. Und der gütige alte Mann scheint mir so freundlich und geduldig, dass mir sofort klar ist: Wo, wenn nicht hier, bringt man das nötige Maß an Geduld mit einer quasi analphabetischen Kochanfängerin auf?
Am nächsten Tag nehme ich all meinen Mut zusammen und komme nachmittags mit Chinesischlehrerin Li Qiang wieder. Als wir durch die Schiebetür treten, ist das Restaurant leer, nur ein dickes Mädchen rumort hinter dem Gastraum in der Küche. Li Qiang bittet sie um ein Gespräch mit dem Chef. Eine junge Frau mit geradem Pony und Schürze kommt zum Vorschein und stellt sich als »Yang Xucai« vor. Wie sie wohl auf mein Ansinnen reagiert? »Die lassen dich niemals in ihre Küche, das ist in China ein geheimer Ort«, hatte mich Li Qiang gewarnt.
In China geht mal viel mehr und mal viel weniger als im Westen. Wenn sie keine Lust haben, einem weiterzuhelfen oder Angst, einen Fehler zu machen, sind die Chinesen so stur und regelfixiert, dass es einen in den Wahnsinn treibt. Zum Beispiel hatte ich einmal am Flughafen mein Telefon bei der Sicherheitskontrolle liegengelassen. Obwohl das Gate nur knapp hundert Meter entfernt war und ständig weitere Passagiere zustiegen, weigerten die Stewardessen sich, mich noch einmal hinauszulassen oder jemanden zu schicken. Es halfen weder Flehen noch Fluchen. Aber die Regeln können auch so biegsam sein wie Gummi. So hatte das chinesische Außenministerium mein Journalistenvisum für ein ganzes Jahr verlängert – obwohl man dort längst über das nahende Ende der Zeitung informiert war. »Gibt es denn ein offizielles Dokument, dass auch das Büro in China geschlossen wird?«, fragte mich der Presseverantwortliche. »Nein«, antwortete ich verdattert. Woher sollte es auch kommen? Das China-Büro bestand schließlich aus mir selbst, meiner Wohnung und meinem Lieblingscafé. »Bis das Dokument vorliegt, können wir Sie möglicherweise noch einmal akkreditieren. Wir werden das prüfen«, sagte der Beamte. Pünktlich zum letzten Erscheinungstag meiner Zeitung durfte ich meinen neuen zwölf Monate gültigen Presseausweis abholen.
»Ähäm«, räuspere ich mich. »Also, ich habe gestern Abend hier gegessen, und es war wirklich ganz vorzüglich.« Ein Kompliment am Anfang schadet nie, schon gar nicht in China. Dann verlassen mich auch schon der Mut und das Vokabular. »Ich habe eine Bitte. Meine Freundin hier erklärt alles«, sage ich noch und puffe dann Li Qiang in die Seite.« Die redet wie verabredet wortreich auf Yang Xucai ein. Ich verstehe Brocken wie »interessiert sich fürs Kochen«, »Praktikum«, »gucken« und »ein bisschen mithelfen« und warte gespannt auf die Reaktion.
Yang Xucai verzieht keine Miene. Aber mein Praktikumsgesuch scheint in die Kategorie »flexible Lösungen« zu fallen. Die Chefin sagt nur ganz trocken »keyi«, als wäre es das natürlichste Anliegen überhaupt. Keyi ist eines meiner chinesischen Lieblingswörter. Es bedeutet: »Das ist erlaubt« oder »Das ist möglich« oder einfach: »Ja, geht.« Leider hört man ähnlich häufig bu keyi, also »geht nicht« oder Meiyou, ein Wort, das für alles steht, was eben nicht geht oder was es nicht gibt. Sie wendet noch ein, dass man aber nur Hausmannskost mache, ich überschütte sie mit Dankesbeteuerungen und frage, wann ich kommen dürfe. »Um neun Uhr gehe ich morgen zum Markt«, sagt Yang.
Pünktlich um neun am nächsten Morgen stehe ich wieder im »Baba Mama«. Alles ist ganz still, nur ein Fisch springt hin und wieder im Aquarium vor der Theke in die Luft. Kein Mensch ist zu hören oder zu sehen. Hatte Frau Yang wirklich neun Uhr gesagt? Ist sie einfach schon ohne mich gegangen? Bestimmt. Welcher professionelle Gastronom geht schon erst um neun Uhr auf den Markt? Mein Praktikum fängt ja gut an, denke ich gerade – da kommt auch schon Yang die Treppe des anliegenden schmalen Wohnhauses hinunter. Sie ist geschminkt, ihre schwarzen Zöpfe sind mit einer rosa Schleife am Hinterkopf befestigt. Dazu trägt sie ein schwarzes Tüllröckchen über einer lila Nylonstrumpfhose. An ihrem Rockzipfel hängt ein brüllender Dreijähriger, den schließlich das Küchenmädchen entfernt. »Du kommst jetzt zu Opa, Weiwei«, redet Yang auf den renitenten Balg ein.
In der Morgensonne durchqueren Yang und ich die Altstadt, und ich frage sie nach ihrer Familie aus. Wegen ihres Dialekts verstehe ich allerdings nur wenig. Ich brauche ein Backup. »Ist es in Ordnung, wenn ich unser Gespräch aufnehme?«, frage ich und zeige auf mein Handy, dessen Aufnahmefunktion mich schon oft gerettet hat. Auch das geht für sie in Ordnung – eine echte Keyi-Frau. Der alte, freundliche Mann, bei dem ich gestern bestellt habe, ist ihr Schwiegervater. Mit ihrem Mann Liu und Sohn Weiwei wohnt sie über dem Restaurant. Ihre Schwiegereltern und die Großmutter ihres Mannes wohnen nur zwei Straßen weiter.
Wenn Chinesen heiraten, zieht die Braut für gewöhnlich ins Elternhaus des Mannes ein und kümmert sich um die Schwiegereltern statt um die eigenen. Wohnt der Mann weit weg, dann ist ein verheiratetes Mädchen für die Familie gänzlich verloren. Deshalb werden weibliche Babies auch »verschüttete Milch« genannt und wurden seit der Einführung der Ein-Kind-Politik 1980 häufig abgetrieben. »Meine Eltern wohnen auch in Dali, und ich sehe sie regelmäßig«, sagt Yang.
»Und wer kocht bei euch?«
»Mein Mann, seine Mutter und ich. Meine Schwiegermutter hat es meinem Mann beigebracht und er...