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Woran ich mich erinnere

85 Jahre Leben

AutorHeinrich von Tiedemann
VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl450 Seiten
ISBN9783739269207
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Das Leben eines Journalisten zwischen den Jahrhunderten wird hier beschrieben. Die Kindheit und Jugend zwischen den beiden Weltkriegen, das Fronterlebnis und der Zusammenbruch des sich selbst als Tausendjähriges Reich rühmenden Großdeutschlands. Der spätere Rundfunkkorrespondent ist viel unterwegs, in allen Kontinenten, aber vor allem in Afrika und Skandinavien. Die Begegnung mit bedeutsamen politischen Persönlichkeiten prägt auch sein Bild von Vergangenheit und Gegenwart.

Der Autor wurde 1924 als Sohn eines Diplomaten geboren. Nach Kriegsdienst und Studium folgten einige Jahre als freier Schriftsteller und Journalist. Dann verpflichtete ihn der Rundfunk als Auslandskorrespondent für die ARD zunächst in West- und Zentralafrika, dann in Skandinavien. Zuletzt leitete er die Abteilung Zeitfunk des Norddeutschen Rundfunks in Hamburg. Er schrieb zudem Hörspiele, Romane und Kinderbücher. Er lebt jetzt in Eutin.

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1


Ich wurde am 9. Juli 1924 in Bad Tölz, Oberbayern, im Haus meiner Eltern am Kalvarienberg geboren. Es war sieben Uhr früh, und die Hebamme, eine Frau Leiß, vermerkte in ihren Aufzeichnungen, ich sei 52 Zentimeter lang und 323o Gramm schwer gewesen. Am Tage meiner Geburt meldete das Lokalblatt „Tölzer Zeitung“ in fetter Schlagzeile: „Adolf Hitlers zeitweiliger Rücktritt!“ Und darunter war zu lesen: „Herr Adolf Hitler teilt aus Landsberg mit, dass er die Führung der nationalsozialistischen Bewegung niedergelegt habe und sich auf die Dauer seiner Haft jeder politischen Tätigkeit enthält.“ In Berlin regierte eine bürgerliche Koalition aus Deutscher Demokratischer Partei, Deutscher Volkspartei und Zentrum. Der Reichskanzler hieß Wilhelm Marx; Reichspräsident, also Staatsoberhaupt war Friedrich Ebert. Das Tageshoroskop bescheinigt den am 9.7.24 Geborenen beherrschtes Auftreten, analytischen Verstand, Ehrlichkeit und Selbstlosigkeit; typisch Krebs. Als Schutzpatron wurde der heilige Andreas empfohlen.

Ich war nicht das erste und einzige Kind meiner Eltern. Schon vor mir waren Hubertus (1917), Priska (1919) und Vera (1922) zur Welt gekommen. Und wir waren auch keine waschechten Bayern, wie mein Geburtsort vermuten lassen könnte. Meine Eltern waren erst vor vier Jahren in den damals noch idyllischen Kurort gezogen, weil meine Mutter dort eine Hautkrankheit auszukurieren hoffte, und wohl auch, weil man der unruhigen Atmosphäre im Berlin der Nachkriegszeit ausweichen wollte. Mein Vater wollte sich nicht mit einem mehrwöchigen Kuraufenthalt begnügen, er beschloss, gleich mit der ganzen Familie nach Bayern zu ziehen und kaufte in Bad Tölz ein stadtnahes Bauernhaus. Es war im Stil des Isartals gebaut und sehr geräumig. Es lag im alten Teil der Stadt, die vor allem durch ihre Kirchen und die malerische Marktstraße auch heute noch ihren Reiz hat. An diese ersten Jahre in Tölz habe ich keine erwähnenswerten Erinnerungen mehr. Erst viel später, als mein Vater wieder dorthin zurückgekehrt war und wir bei ihm Ferien machten, suchte ich nach Spuren meiner frühesten Kindheit. Doch alles zu seiner Zeit. Um diese naturbedingten Gedächtnislücken auszufüllen, will ich etwas über unsere Familie, meine Vorfahren erzählen. Zwar habe ich nie, wie andere Verwandte, großen genealogischen Ehrgeiz entwickelt; doch fragt wohl jeder irgendwann einmal, woher kommt, was vor ihm war, zumal dann, wenn er Teil einer Familie ist, die über Generationen zusammenhält, und dies sogar bis in die Gegenwart mit regelmäßigen Treffen demonstriert.

Mein Vorname „Heinrich“ sollte an meinen Großvater väterlicherseits erinnern. Dahinter stand vielleicht der fromme Wunsch, ich könnte dem Ahnen an Persönlichkeit und Bedeutung ähnlich werden oder zumindest nacheifern. Nun war dieser Großvater Heinrich zweifellos ein bemerkenswerter und bedeutender Mann zu seiner Zeit. Auf alten Fotografien gleicht er äußerlich mit seinem gepflegten Backenbart dem Preußenkönig und ersten Deutschen Kaiser Wilhelm I., und das nicht nur zufällig, denn dieser Monarch, der gemeinsam mit Bismarck zur Symbolfigur der deutschen Reichseinheit geworden war, galt sicher meinem Großvater als Vorbild. Heinrich der Ältere, wenn ich ihn einmal so nennen darf, hat in den Jahren um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert durch vielfältige, teils umstrittene politische Aktivitäten den Namen Tiedemann im damaligen Preußen bekannt werden lassen. Denn preußisch war unsere Familie „bis auf die Knochen“, und leidenschaftlich protestantisch dazu. Über die Herkunft ist viel geforscht und spekuliert worden. Es gab eine dramatisch klingende Geschichte von einem Georg Tiedemann, der angeblich von Karl V. 1522 wegen Tapferkeit vor dem Feind in den Reichsadelsstand Adelsstand erhoben worden sein sollte, andere Quellen nennen weniger martialische Gelegenheiten für den Erwerb der Silbe „von“. Sicher ist wohl, dass unsere Vorfahren aus Niedersachsen nach Danzig ausgewandert sind und sich dort als tüchtige Kaufleute und später im Königreich Preußen als ebenso erfolgreiche Offiziere bis zum Generalsrang bewährt haben. Über den Ursprung des Namens und des adligen Wappens hat sich mein Urgroßvater Friedrich-Wilhelm Gedanken gemacht und folgendes geschrieben:

„Der Name Tiedemann deutet in der Ursprache Niedersachsens auf einen gezeitigten, reifen, verständigen Mann. Die Taube und die Schlange in und über dem Wappenschild versinnlichen den Bibelspruch ‚Seid klug wie die Schlange und ohne falsch wie die Taube.’ Der Strom unter der Schlange bedeutet Kraft und Beharrlichkeit in der als Recht und Wehr erkannten Aufgabe menschlicher Bestrebungen.“

Grob gezeichnet kann man sagen, dass die Tiedemanns unter den Preußenkönigen als Danziger Patriziergeschlecht aufgrund ihrer Abstammung und ihrer Berechtigung, adlige Güter zu besitzen, in den Genuss der Nobilitierung gelangt waren. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts hatten sie in oft hervorragenden Stellungen dem König gedient, als Verwaltungsbeamte, Diplomaten, Hofchargen und vor allem als Offiziere. Sie heirateten zumeist in vergleichbare Häuser ein und wurden dadurch Teil des weitverzweigten, im gleichen Kulturkreis verwurzelten preußischen Landadels, einer relativ engen Gemeinschaft mit übereinstimmenden Wertvorstellungen.

Großvater Heinrich war ein typischer Repräsentant dieser preußischen Oberschicht, die den ursprünglich eher ärmlichen und abgelegenen deutschen Kleinstaat zur beherrschenden Macht im Reich gemacht hatte. Auch er war, wie sein Vater Friedrich-Wilhelm, für den Offiziersberuf bestimmt. Den Krieg von 1866 gegen Österreich überlebte er mit nur einer leichten Verwundung, eine bayerische Kugel hatte ihn am Fuß getroffen. Vier Jahre darauf musste er abermals ins Feld ziehen, diesmal gegen die von Napoleon III. angeführten Franzosen. Mit dem anschließenden Besuch der Kriegsakademie wurde ein weiterer Schritt in Richtung einer zielstrebigen militärischen Laufbahn getan. Doch es kam anders. Auf der Hochzeit eines Vetters lernte er Dora Hardt, die Tochter eines rheinischen Tuchfabrikanten kennen und lieben. Die Familie Hardt betrieb nicht nur einträgliche Fabriken, sie hatte sich auch in Übersee ein bedeutendes Handelshaus aufgebaut und spielte in Berlin eine wichtige wirtschaftliche und gesellschaftliche Rolle. Das Oberhaupt Richard Hardt, der später geadelt wurde, gehörte zu den Donatoren der „Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche“. Neben seiner kaufmännischen Tätigkeit beschäftigte er sich intensiv mit Landwirtschaft, wozu ihm das Gut Wonzowo in der Provinz Posen ein geeignetes Experimentierfeld bot. Mein Großvater Heinrich hatte in der Tat, als er Dora von. Hardt heiratete, eine „glänzende Partie“ gemacht, wie man damals zu sagen pflegte. Obwohl er die Kriegsakademie noch mit der obligatorischen Prüfung und der Beförderung zum Hauptmann beenden konnte, erschien ihm die Zukunft als Offizier wenig verlockend. Er war nun auch finanziell unabhängig, und größere kriegerische Verwicklungen waren nicht zu erwarten. Eine lange Friedenszeit schien bevorzustehen, für einen aufstrebenden Dreißigjährigen im bunten Rock des Kaisers keine verlockende Perspektive. Als Offizier im Rang eines Hauptmanns konnte man, selbst in Preußen mit seiner Vorliebe für Uniformen und Paraden, keine großen Sprünge machen. Heinrich d. Ä. hatte andere Chancen zu nutzen. Er trat in das Handelshaus seines Schwiegervaters ein, wo seinen schlummernden Fähigkeiten ein weites Betätigungsfeld geöffnet wurde. Ich habe meinen Großvater Heinrich nicht mehr gekannt. Er starb zwei Jahre vor meiner Geburt, aber aus vielen Erzählungen und Berichten weiß ich, dass er eine ungewöhnlich starke und eindrucksvolle Persönlichkeit gewesen sein muss. 1882 erwarb er in der Nähe von Posen ein Rittergut von etwa 24.ooo Hektar. Es hieß Jeziorky; das war ein polnischer Name. Polen freilich gab es zu jener Zeit nicht mehr. In drei Teilungen hatten sich Preußen, Österreich und Russland das einstige Königreich einverleibt. Posen, wo Großvater Heinrich sich nun niederließ, war zunächst Großherzogtum, dann jedoch von Berlin regierte preußische Provinz. Über Generationen hatten Deutsche und Polen friedlich nebeneinander und miteinander gelebt, die jeweiligen Oberhoheiten waren nicht völkisch, sondern dynastisch geordnet und geprägt. Landesgrenzen wurden verschoben, ohne dass die Bevölkerung darunter zu leiden hatte. Deutsche nach Sprache und Herkunft waren polnischen Königen untertan. Der König von Polen residierte zeitweilig in Dresden. Von Nationalismus war wenig zu spüren. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als sich hüben und drüben die Ideologen zu formieren begannen, als von Panslawismus und deutschem Volkstum gesprochen wurde, als sich auch anderswo, etwa auf dem Balkan, die nationalen Bewegungen erhoben, entwickelte sich ein Konfliktpotential, das unseren Kontinent bis weit ins nächste Jahrhundert erschüttern und schließlich völlig verändern würde....

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