Matthias Hoesch und Martin Sticker
Parfit über Kantianismus und Konsequentialismus
Mit der Metapher »climbing the mountain« beschreibt Parfit in seinem Monumentalwerk On What Matters die Idee, dass sich drei der wichtigsten Typen ethischer Theorien – Kantianismus, Kontraktualismus und Konsequentialismus – durch die Suche nach ihrer jeweils plausibelsten Ausarbeitung aneinander annähern und sich schließlich auf dem Gipfel desselben Berges treffen, den sie von unterschiedlichen Seiten aus bestiegen haben. Parfits Unternehmen liegt die optimistische Annahme zu Grunde, dass sich eine normative Theorie formulieren lässt, die die jeweils besten Elemente der verschiedenen Theorietypen in eine einzige, einheitliche Moralphilosophie integriert und von den Verfechtern all dieser unterschiedlichen Theorietypen akzeptiert werden kann. Diese vereinheitlichte Theorie ist die Triple Theory, der zufolge gilt:
An act is wrong just when such acts are disallowed by some principle that is optimific, uniquely universally willable, and not reasonably rejectable (OWM I, 413).
Parfits damit verbundener Anspruch, dass Kantianismus und Konsequentialismus auf einer abstrakten Ebene miteinander vereinbar sind, kann als Bestandteil einer anhaltenden Debatte darüber gesehen werden, ob es so etwas wie einen Kantischen Utilitarismus1 geben kann bzw. ob Kant »actually provides support for a form of normative consequentialism«2. Zu zeigen, dass die Wahl zwischen Konsequentialismus und Kant kein strenges ›Entweder-oder‹ darstellt, ist v. a. deshalb ein Desideratum, weil beide Ansätze wichtige Bestandteile unseres alltäglichen Moralverständnisses einfangen. Insofern eine philosophische Theorie darauf abzielt, unserem vortheoretischen Moralverständnis Rechnung zu tragen, wäre es durchaus wünschenswert, dass sie zentrale Elemente von Konsequentialismus und Kantianismus aufnehmen kann.
Dieses Unterfangen ist aber mit großen Schwierigkeiten behaftet, führen doch die verschiedenen konsequentialistischen und kantischen Elemente unseres alltäglichen Moralverständnisses zu teils gegensätzlichen moralischen Bewertungen, wie einige der Beispiele aufzeigen, die Parfit diskutiert. Noch relativ unstrittig ist der Fall Lifeboat, in welchem ein Akteur vor die Wahl gestellt ist, entweder eine einzelne Person oder eine Gruppe mit fünf Personen von zwei auseinanderliegenden Felsen im Meer zu retten – im Wissen, dass die steigende Flut nur eine von beiden Optionen zu verwirklichen erlaubt, bevor sie den oder die Verbliebenen ins Meer reißt (vgl. OWM I, 186). Unsere Intuition sagt uns deutlich, dass es besser ist, die größtmögliche Zahl zu retten.
Schwieriger sind zwei andere Beispielfälle. Im Fall Tunnel rast eine Straßenbahn führerlos auf einen Tunnel zu, in dem sie fünf Bauarbeiter überrollen würde. Durch das Umstellen einer Weiche könnte sie in einen anderen Tunnel umgelenkt werden, in dem nur ein einziger Bauarbeiter sein Leben verlöre (vgl. OWM I, 218). Im Fall Bridge könnte eine führerlos den Abhang hinunter rasende Straßenbahn nur gestoppt werden, indem eine unbeteiligte Person von einer Brücke auf die Schienen gestoßen würde – andernfalls würde die Straßenbahn fünf Personen überrollen (vgl. OWM I, 186). Während in Lifeboat der Tod des Einzelnen lediglich in Kauf genommen wird, ist er in Tunnel eine vorhersehbare, wenn auch nicht intendierte Folge des Umstellens der Weiche; in Bridge ist der Unbeteiligte sogar das Mittel selbst, mit dem die anderen gerettet werden. Parfit gesteht zu, dass unsere Intuitionen in solchen Fällen auseinandergehen: Einige würden denken, in Tunnel wäre das Umstellen der Weiche moralisch falsch; und bzgl. Bridge würde vermutlich eine Mehrheit glauben, dass der Unbeteiligte nicht gegen seinen Willen als Mittel benutzt werden darf. Offenbar gibt es eine Spannung zwischen dem konsequentialistischen Gebot, große Übel abzuwenden, und dem ›kantischen‹ Verbot, jemanden als bloßes Mittel zu benutzen, sogar wenn dies zur Rettung dritter dient.
Wie diese Beispiele bereits andeuten, ist der Versuch einer Vereinigung von Kantianismus und Konsequentialismus einigen Hürden ausgesetzt. In Abschnitt 1 identifizieren und diskutieren wir fünf solcher Hürden. Der Abschnitt 2 soll dann klären, wie Parfit diese jeweils zu meistern sucht. Im Abschnitt 3 wird schließlich diskutiert, was aus unserer Sicht die zwei größten Probleme sind, mit denen Parfits Versuch der Versöhnung von Kantianismus und Konsequentialismus konfrontiert bleibt.
Zwei Bemerkungen sollen vorangestellt werden. Zunächst fällt auf, dass Parfit ein sehr breites Verständnis des Konsequentialismus voraussetzt. Eine Theorie sei konsequentialistisch, wenn die moralische Richtigkeit von Handlungen ausschließlich davon abhängt, wie die Dinge ihren bestmöglichen Verlauf nehmen3. Der Ausdruck ›Konsequentialismus‹ ist laut Parfit irreführend, weil er nahelegt, dass nur Konsequenzen zählen. Parfit geht dagegen davon aus, dass der Konsequentialismus sowohl die Verteilung von Konsequenzen als auch den moralischen Status von Handlungen selbst berücksichtigen kann, wenn diese Handlungen intrinsisch4 gut oder schlecht sind. Wenn wir wissen wollen, wann die Dinge ihren bestmöglichen Verlauf nehmen, fragen wir laut Parfit, was zu erhoffen von einem unparteiischen Standpunkt aus jeder die stärksten Gründe hat (vgl. OWM I, 374). Damit kann Parfit einige der Standardeinwände gegen den Konsequentialismus von Anfang an aushebeln; man denke etwa an den Einwand, dass der Konsequentialismus der gerechten Verteilung von Gütern nicht ausreichend Rechnung tragen kann.
Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass Parfit keine Kant-Exegese betreiben möchte. Sein Ziel ist, Kants Theorie so zu revidieren, dass sie von den ihr innewohnenden Schwächen, die seine Untersuchung in OWM aufdeckt, befreit wird. Das Ziel des vorliegenden Beitrags, der Parfit aus einer kantischen Perspektive kritisch zu hinterfragen sucht, kann daher nicht einfach darin bestehen aufzudecken, in welcher Hinsicht Parfit Kant missversteht. Stattdessen soll gezeigt werden, dass Theorien, die sich relativ stark am Geist der Theorie Kants orientieren, Vorteile aufweisen, die in Parfits Kantischem Konsequentialismus verloren gegangen sind.
1. Kant und der Konsequentialismus: Fünf Schwierigkeiten
Parfits OWM ist nicht der erste Versuch zu zeigen, dass Kant und der Konsequentialismus mehr Ähnlichkeiten aufweisen, als in der Regel angenommen wird. Parfit geht auf die vorhandene Debatte nicht explizit ein. Umso gewinnbringender ist es, einige Aspekte dieser Debatte herauszuarbeiten, denn hieraus ergibt sich, welchen Problemen sich Parfits Projekt gegenüber sieht. Soweit wir sehen, lassen sich mindestens sieben grundlegende Differenzen zwischen dem Kantianismus und der einfachsten Fassung des Konsequentialismus ausmachen, laut der eine jede Handlung ein unpersönliches Gut maximieren solle.5 Im Folgenden werden wir fünf dieser Differenzen einführen. Die zwei verbleibenden sollen außen vor bleiben, da sie selbst innerhalb des Kantianismus sehr kontrovers diskutiert werden: Zum einen ist dies die Frage nach der moralischen Berücksichtigung von Tieren6; zum anderen die Idee von ›Pflichten gegen sich selbst‹7.
1.1 Parteilichkeit
Der Konsequentialismus ist, wie Jens Timmermann in Bezug auf die gängigste Spielart des Konsequentialismus, den Utilitarismus, feststellt, streng egalitär8, denn er fordere, Glück in unparteilicher Weise zu befördern. ›Unparteilichkeit‹ zielt hier allerdings nicht darauf ab, dass Güter möglichst gleich unter den Begünstigten verteilt werden sollen; sondern darauf, dass ein bestimmter quantitativer Güterzuwachs immer gleich viel zählt, ungeachtet der Frage, welche Person diesen Zuwachs erfährt. Aus der Unparteilichkeit folgt etwa, dass im Utilitarismus Strafe per se etwas Schlechtes ist und gegen andere Güter abgewogen werden muss, auch wenn der Bestrafte sie ›verdient‹ hat. Unparteilichkeit ist aber auch für die Frage relevant, ob wir denen bevorzugt helfen sollten (oder helfen dürfen), die uns in irgendeiner Weise nahestehen. In einer Variante des Beispiels Lifeboat kann man entweder sein eigenes Kind oder ein anderes Kind retten, aber nicht beide. Laut einer einfachen Fassung des Konsequentialismus wäre ich verpflichtet, ein fremdes Kind statt meines eigenen vor dem Ertrinken zu retten, wenn aufgrund der besseren Lebensbedingungen des fremden Kindes durch dessen Rettung eine Steigerung des Gesamtwohlbefindens zu erwarten ist, welche die Rettung meines eigenen Kindes überwiegt.
Kants Ethik fordert dagegen nicht, dass wir Glück ungeachtet aller Umstände maximieren sollen.9 Für Kant stellt etwa Strafe nicht per se etwas Schlechtes dar, sondern ist die...