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E-Book

Wozu brauche ich einen Gott?

Gespräche mit Abtrünnigen und Ungläubigen

AutorFiona Lorenz
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2009
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783644401211
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Fiona Lorenz hat sich auf die Spuren der Religionskritiker gemacht und zahlreiche Interviews mit Atheisten, Zweiflern und Agnostikern geführt: Darunter sind Prominente wie Janosch, Ralf König, Mina Ahadi und Nina Vorbrodt, aber auch ganz «normale» Menschen, die sich aus unterschiedlichen Gründen gegen den Glauben aussprechen. Das Ergebnis dieser Gespräche ist ein intensiver, persönlicher Blick in die Gründe für die Abkehr von Kirche und Religion. Er soll Mut machen, sich zum eigenen Unglauben zu bekennen, und zeigen, dass es nicht nötig ist, an Gott zu glauben, um ein sinnerfülltes Leben zu führen

Dr. Fiona Lorenz promovierte am Fachbereich Pädagogik der Universität Trier. Fiona Lorenz engagiert sich in der Giordano Bruno-Stiftung und dem humanistischen Pressedienst hpd.

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Leseprobe

Konfessionslos im Münsterland – Ein Erfahrungsbericht


Marion Wirth, Nachhilfelehrerin, verheiratet, zwei Söhne

Im Frühjahr 1997 war es meiner Familie und mir in unserer Bochumer Dreizimmerwohnung mit zwei kleinen Kindern endgültig zu eng geworden. Das führte zu der Überlegung, ein Haus zu kaufen, das geräumig genug sein sollte, um uns Entfaltungsmöglichkeiten zu geben, am besten mit Garten und in einer kinderfreundlichen Umgebung. Da mein Mann als Polizeibeamter tätig ist, waren wir gezwungen, einen Wohnsitz in Nordrhein-Westfalen zu finden. Nachdem wir uns auf dem örtlichen Immobilienmarkt umgetan hatten, wurde schnell klar, dass es unsere finanziellen Mittel nicht zuließen, ein Haus im Ruhrgebiet zu erwerben. Wir hatten bereits Ausschau im Sauerland und Westerwald gehalten, als ich in der Zeitung von einem Haus in Stadtlohn las, im westlichen Münsterland, nahe der niederländischen Grenze. Schon die Anreise entlang der weiten Felder, mitten durch die Münsterländer Parklandschaft mit ihren vielen Wasserschlössern, war ein Genuss. Das Haus sagte uns zu, und ich war mir sicher, die richtige Entscheidung zu treffen. Die Infrastruktur schien uns perfekt. Eine anschließend durchgeführte Umgebungsbesichtigung führte uns auch zum romantisch anmutenden Marktplatz, der durch die St.-Otger-Kirche, einem majestätischen Gebäude, dominiert wird und von Rathaus und einem künstlerisch ansprechenden Brunnen gesäumt ist. Es war ein sonniger Frühlingstag. Wir ließen uns auf einer Bank inmitten blühender Frühjahrsblumen nieder, betrachteten die rotgeklinkerten Häuser und genossen ein Eis, als der Dechant höchstpersönlich angeradelt kam, laut und freundlich grüßte, unseren Kindern ein freundliches «Na, schmeckt’s?» zurief. Beinahe im selben Moment fiel mein Blick auf einen Kondomautomaten, der gegenüber der Kirche an einem Sanitätshaus angebracht war. In einer so wunderschönen, weltoffenen, wenn auch zu über 90 % katholischen Gemeinde, in der die Gläubigen einen Kondomautomaten an einer derart «prekären» Stelle zuließen, konnte ich leben – dachte ich. Was ich damals nicht wusste, war, dass jener Kondomautomat erst wenige Stunden zuvor montiert und bereits montags aufgrund massiver Proteste aus der Bevölkerung wieder entfernt worden war.

Im Münsterland wird, wie wir nach unserem Hinzug feststellten, alles geweiht: Palmstöcke, Pferde, Industriebetriebe, Autos, bevor man mit ihnen in Urlaub fährt – um nur eine kleine Auswahl zu nennen. Die Statuten der Schützenvereine sind verbunden mit den Worten: Glaube, Sitte, Heimat.

Wir nahmen nie an der Messe teil, was für viele Dorfbewohner einen Affront darstellte. Wir mussten uns rechtfertigen und betonen, konfessionslos zu sein. Unsere Nachbarn fühlten sich persönlich durch diese Tatsache angegriffen, ohne dass wir sie jemals für ihren Glauben kritisiert hätten. Wir mussten uns vorwerfen lassen, dass wir unsere Kinder nicht getauft hatten, und wurden gefragt, ob wir kein schlechtes Gewissen haben würden, wenn unsere Kinder plötzlich versterben würden und als Heiden nicht in den Himmel kämen. Eine Dame wollte unsere Kinder am liebsten «heimlich nehmen» und taufen lassen. Wir sollten uns gefälligst einordnen, denn schließlich brauche man doch seine Nachbarn, wurde uns mitgeteilt.

Eine andere Nachbarin lud uns zum Gebetskreis ein. Mitglied dieses, wie sich herausstellte, fundamentalistischen Gebetskreises ist auch der heutige Bürgermeister (CDU), der zum damaligen Zeitpunkt ihr Vorgesetzter im Altersheim war. Unsere Nachbarin hielt es also durchaus für karriereförderlich, mit ihrem Chef zu beten. Ihr Sohn lebte seine Perversionen nicht nur als Messdiener, sondern gemeinsam mit seinem Freund an meinem damals fünfjährigen Sohn aus, indem er ihm die Hose herunterzog, sodass dieser entblößt dastand. Zu meinem anderen, damals zweijährigen, Sohn sagte er: «Knie nieder und piss dich an!»

Eine ebenfalls dem fundamentalistischen Gebetskreis angehörige Nachbarin grüßte mich abrupt nicht mehr und ging sogar dazu über, mir vor die Füße zu spucken, nachdem unser Atheismus bekanntgeworden war.

Die hiesige Kindergarten- und Schullandschaft ist extrem religiös, selbst in der örtlichen Musikschule hing ein riesiges Plakat mit der Aufschrift: «Willst du in den Himmel kommen, komm zu uns und werde Messdiener!»

Mein zweiter Sohn besuchte die Grundschule. Eines Tages kam er total aufgelöst nach Hause und berichtete, er sei von einem Mitschüler gefragt worden, warum er nicht am Religionsunterricht teilnehmen würde. Er erwiderte, er sei nicht katholisch. Was er denn dann sei, wurde er gefragt. «Nichts» habe er geantwortet. Aber alle Menschen seien doch katholisch. Folglich sei er kein Mensch, sondern ein Tier. Nur Tiere seien nicht katholisch. «Spinnst du? Du siehst doch, dass ich kein Tier bin», hatte mein Sohn geantwortet. Der andere Junge wusste nicht mehr weiter. Er hatte dafür keine Erklärung, wie ein augenscheinlicher Mensch nicht katholisch sein konnte. «Also doch ein Tier», zog er schließlich sein Fazit, «und mit Tieren spiele ich nicht.»

Als ich schließlich das Zeugnis meines Sohnes in den Händen hielt, staunte ich nicht schlecht. Bei Religion stand dort die Note «gut». Wie konnte das sein? Er hatte doch gar nicht daran teilgenommen! Es stellte sich heraus, dass er oftmals aus der Spielecke heraus eigene Kommentare zum Religionsunterricht abgegeben hatte, weil er ihn zwangsweise mitbekam. Ich erinnere mich gut daran, dass er einmal total aufgebracht aus der Schule gekommen war und sich empörte, jetzt seien alle durchgeknallt: Im Religionsunterricht sei behauptet worden, dass Nichtchristen nicht so lange leben würden wie Christen. Da hatte er sich zu Wort gemeldet und gesagt: «Guckt mich an, ich bin genau so alt wie ihr! Und meine Eltern leben auch noch beide! Und meine Oma ist noch viel älter, und die lebt auch noch immer, obwohl sie aus der Kirche ausgetreten ist!» Einige Kinder kamen daraufhin immerhin ins Überlegen. Sie meinten: «Später musst du dafür aber bestimmt in die Hölle.» – «Das lasst mal meine Sorge sein», hatte ihnen mein Sohn entgegnet.

Doch nicht nur im schulischen Umfeld, sondern auch im Berufsleben machte sich der Einfluss der katholischen Kirche bemerkbar. So lernte ich Menschen kennen, die längst nicht mehr mit der Lehre der katholischen Kirche einverstanden waren, aber nicht aus der Kirche austraten, weil sie um ihre wirtschaftliche Existenz hätten fürchten müssen. Isolation wäre die Folge und mit ihr der Existenzverlust. Dies gilt für Kindergärtnerinnen ebenso wie für Geschäftsleute, Handwerker, Rechtsanwälte oder Ärzte. Im Münsterland ist keine Berufsgruppe davon ausgenommen. Man würde mit Normen brechen, die Gesellschaft würde sich attackiert fühlen, auch wenn sie es natürlich gar nicht wird.

Uns selbst ist mehrfach nicht nur damit gedroht worden, sondern es ist auch versucht worden, meine Selbständigkeit als Nachhilfelehrerin zu unterbinden. Behördliche Genehmigungen wurden jahrelang verschleppt (man kennt sich eben), Nachbarn hielten Kunden an und berichteten, wir seien unmögliche Menschen, zu denen man seine Kinder besser nicht in die Nachhilfestunde bringe. Sie schickten uns mehrfach unbegründet das Jugendamt auf den Hals und bedeckten uns mit haltlosen Anzeigen bezüglich Kindesmisshandlung. Die Leiterin des Jugendamtes fand unsere Familie aber immerhin so ungefährlich, dass ihre eigene Tochter Nachhilfeunterricht von mir bekam. Meine Nachbarn ließen nichts aus, um uns zu diskreditieren und zu vertreiben. Sie scheuten auch vor massiven Sachbeschädigungen nicht zurück und hatten überlegt, uns eine niederländische Schlägertruppe auf den Hals zu hetzen. Davon ließen sie jedoch ab, weil sie damit rechneten, dass mein Mann als Polizeibeamter seine Waffe zu Hause haben und unter Umständen auch davon Gebrauch machen könnte. An dieser Stelle könnte ich einen ganzen Roman einfügen. Und das alles nur, weil wir uns nicht in die «christliche» Gemeinde einfügen wollten. Dabei habe ich immer gedacht, wenn mich meine Mitmenschen erst mal richtig kennenlernen würden, würden sie merken, dass ich ganz umgänglich bin. Aber sie gaben uns keine Chance.

Irgendwann war ich an dem Punkt, an dem ich dachte, ich will nicht mehr, ich kann nicht mehr, ich halte es nicht mehr aus. Ich war restlos verzweifelt, und meine Familie auch. Wir haben viel geweint, uns manchmal angeschrien und gegenseitig Vorwürfe gemacht. Wir fragten uns immer wieder: Was haben wir falsch gemacht? Welche Schuld tragen wir? Ist es nicht besser, in die Kirche einzutreten, unsere Kinder taufen zu lassen? Bin ich ein schlechter Mensch, ein schlechter Nachbar? Kann ich das meinen Kindern noch zumuten? Bin ich verrückt? Kann ich mich wirklich diesem Irrsinn anpassen? Kann ich so tun, als ob ich mich anpasse? Bin ich noch ich, wenn ich nachgebe? Ist es nicht viel einfacher nachzugeben, mit den Wölfen zu heulen?

Ich kam zu dem Schluss, dass überall, wo wir uns ein Haus hätten leisten können, ähnliche religiöse und soziale Strukturen herrschen wie im Münsterland. Im Sauerland sei es auch nicht viel besser, wusste eine alte Klassenkameradin zu berichten. Hinzu kommt die Tatsache, dass mein Mann Polizeibeamter ist und landesweit denselben Dienstherrn hat. Nicht nur Personalakten, sondern auch Gerüchte und Flurfunk eilen einem dort voraus. Beruflich würde sich also nichts verbessern. Im Gegenteil. Hier wissen doch noch einige, welches Unrecht ihm widerfahren ist, und einige Kollegen bewundern ihn für sein Durchhaltevermögen und sein Rückgrat.

Mit der Zeit überkam mich eine Mischung aus Wut und Verzweiflung. Ich wollte keinen Psychokrieg, sondern einfach nur in Frieden...

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