Einleitung
Die heute Vierzigjährigen sind als erste Generation mit Asien in Berührung gekommen. In ihren Jugendzimmern standen Stereoanlagen von Sony oder Onkyo, vor den Schulen parkten Honda-Mofas und Suzuki-Mokicks, und zu den gängigen Sportangeboten gesellte sich Judo. Noch war es weit bis zu den ersten Sushi-Snacks und Billigreisen nach Bali oder Phuket, und unvorstellbar schien, dass ein Traditionsunternehmen wie Volkswagen nur eine Generation später mehr Autos auf dem chinesischen Markt absetzen sollte als auf dem heimischen deutschen. Die späten siebziger und frühen achtziger Jahre markierten so etwas wie den sichtbaren Anfang des asiatischen Wiederaufstiegs. Er kam daher in Form eines Kaufangebots, als harmloses Hallo aus einer fernen Welt.
Für die Jugend, die heute in den Städten Europas und Amerikas lebt, ist Asien zum festen Bestandteil der Alltagskultur geworden. Das Spiel mit japanischen Tamagotchis und Pokemons wird ihre Kindheitserinnerungen ähnlich prägen wie die Lektüre des ersten Harry-Potter-Buches. Sie arbeiten an taiwanischen Computern und bedienen in Indien programmierte Software. Der Restaurantbesuch beim Thailänder hat seine Exotik ebenso sehr verloren wie der Power-Yoga-Kurs. In den Regalen der Jugendzimmer stehen neben den einschlägigen Musik-CDs aus dem Westen die Hits von Punjabi MC, in den Buchläden liegen Werke von Haruki Murakami, Khalid Husseini oder Arundhati Roy, in den Kinos laufen Filme von Ang Lee oder Wong Kar Wai. In nur zwanzig Jahren ist aus dem zarten Gruß ein kräftiges ‹Wir sind hier› geworden.
Noch wird der beachtliche Konsum- und Kulturexport als schöne Bereicherung wahrgenommen. Er ist da, so wie der Strom aus der Steckdose, und nur wenige interessieren sich für die Quelle, für die Kraft im Hintergrund.
Das ist erstaunlich, denn der asiatische Kontinent hat sich in den vergangenen Dekaden zu einem gewaltigen Erzeuger aller denkbaren Energien entwickelt, und der Westen bekommt längst nicht mehr nur die angenehme Abwärme zu spüren. Der rasante wirtschaftliche Aufstieg am anderen Ende des eurasischen Kontinents bietet eben nicht nur vielbesungene ‹Chancen›, sondern bedrängt die Alte Welt auch mit immer stärkeren Zumutungen. Unternehmer fühlen sich gezwungen, ihre Geschäfte in den Osten zu verlagern, weil dort niedrigere Kosten und mehr Käufer warten. Zugleich drückt der direkte Wettbewerb auf die Arbeits- und Produktionsbedingungen in den (noch) reichen Ländern. Während Löhne und Gehälter fallen, steigen die Preise für Öl und andere Stoffe, die vermehrt aus Asien nachgefragt werden. Die Bedürfnisse der neuen asiatischen Verbraucher erhöhen die Umweltbelastung, auch im Westen. Von der ‹Win-win-Situation›, die Unternehmer und Politiker beschwören, wird bald nicht mehr viel zu sehen sein. Die Globalisierung bringt Asien voran – auf Kosten Europas und langfristig wohl auch auf Kosten Amerikas.
Längst hat sich der ökonomische Aufschwung in politische Macht übersetzt. Schon heute üben Länder wie China und Indien mehr Einfluss auf die Weltpolitik aus, als den meisten Europäern bewusst ist. Die typische ‹Tagesschau-Haltung›– Was sagt Berlin? Was sagt Brüssel? Was sagt Washington? – vermag die Zusammenhänge in der Welt nicht mehr ausreichend zu erklären. Fast alle absehbaren Herausforderungen, die den Erdball in den kommenden Jahren und Jahrzehnten politisch in Atem halten werden, sind im Fernen Osten zu Hause: das strategische Mächteringen zwischen China, Indien und Amerika um die Vorherrschaft in Asien; die Krisenherde Kaschmir, Taiwan und Korea; das nukleare Wettrüsten; die Gefahr frei verfügbarer Massenvernichtungswaffen; die Brutstätten des islamischen Fundamentalismus in Pakistan und Afghanistan.
Schon in einer Generation könnte die internationale Nachrichtenlage ganz anders aussehen. Weltpolitik wird im Jahr 2040 vermutlich von den Großmächten China, Amerika und Indien geprägt, die dann unter sich ausmachen, ob sie etwa in Europa intervenieren, wenn Massenproteste arbeitsloser Demonstranten die Lage in Berlin und Paris außer Kontrolle geraten lassen. Die Wirtschaftsmagazine berichten vielleicht über die erfolgreiche Übernahme des Siemens-Konzerns durch die indische Reliance-Gruppe. Und die Feuilletons wiederum könnten erstaunt registrieren, dass die internationalen Filmfestspiele in Taipeh erstmals seit langem wieder einen Beitrag aus Europa im Wettbewerbsprogramm zeigen, während das «Goldene Pferd» – die dann höchste Auszeichnung der Kinowelt – an eine koreanisch-malaysische Koproduktion gegangen ist.
Europa gleicht zu Beginn dieses Jahrhunderts einem Dorf, das von wuchtigen Neubausiedlungen bedrängt wird. Lange profitierte es von den Fremden am Rand, die zum Einkaufen ins alte Zentrum kamen. Doch inzwischen hat sich in den Siedlungen eigenes Leben entwickelt. Mehr und mehr Dorfbewohner zieht es an den Stadtrand, wo Gründerstimmung herrscht und Güter und Dienstleistungen noch billig zu haben sind. Gleichzeitig beginnen sich die reicher werdenden Neulinge ins alte Dorf einzukaufen. Immer höher schießen die Siedlungen in den Himmel und tunken das alte Zentrum in ihren Schatten. Das Dorf wird langsam nervös, aber seine Handlungsmöglichkeiten sind begrenzt: Umkehren kann es die Entwicklung nicht mehr – in seinen Händen liegt jetzt nur noch, welchen Platz es in der neuen Großraumsiedlung einnehmen will: den des schicken Altstadtviertels oder den des Slums.
In fünfzig oder hundert Jahren wird das Emporkommen Asiens mit einiger Wahrscheinlichkeit als wichtigste Zäsur unserer Zeit betrachtet werden, womöglich folgenreicher als die Repolitisierung des Islam. Noch fehlt das symbolische Datum, gewissermaßen der «11. September» des Wiederaufstiegs. War es womöglich ein unscheinbarer Tag wie der 8. Dezember 2004, als die Computersparte des amerikanischen Traditionsunternehmens IBM an die chinesische Linovo-Gruppe verkauft wurde? War es jener Tag im Mai 2005, als die ersten 200 Billigautos aus chinesischer Produktion im Hafen von Rotterdam ausgeladen wurden? Wird es ein prächtiges Ereignis wie die gigantomanisch geplante Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Peking? Wird es ein Krieg?
Die Umwälzungen erfassen uns schleichend, so wie die Entwicklung Amerikas zur Weltmacht das Europa des frühen 20. Jahrhunderts zunächst nicht zu berühren schien. Erst mit dem Eintritt der Vereinigten Staaten in den Ersten Weltkrieg wurde den meisten klar, dass sich die Verhältnisse verändert hatten.
Den Aufschwung Asiens als Epoche machenden Wandel zu begreifen ist auch deshalb so schwer, weil es Asien, streng genommen, gar nicht gibt. Im Vergleich zu Europa und erst recht zu den Vereinigten Staaten handelt es sich um einen fragmentierten Kontinent. Zurzeit gibt es mindestens ‹zwei Asien›, das helle und das dunkle, den duftenden Café au Lait vor der Oper in Hanoi und die verstümmelte Hand, die in Delhi ans Autofenster klopft, das lebenslustige Gelächter der Jugendlichen in Singapur und die Hassgesänge der Mullahs in Quetta. Es gibt das prosperierende, weltoffene, friedliche Asien – und das bitterarme, religiös-fanatische, gewalttätige Asien. Oft befinden sie sich in ein und demselben Land.
Wollte man eine Trennlinie durch den Kontinent ziehen, verliefe sie von Nord nach Süd, zwischen dem pazifischen und dem subkontinentalen Asien. Die Küstenregionen Chinas, Japan, Korea und das südöstliche Asien befinden sich im Großen und Ganzen auf einem konstruktiven Weg und schicken sich an, die Welt wirtschaftlich und eines Tages politisch zu dominieren. Die Regionen westlich des Golfs von Bengalen haben in den vergangenen Jahrzehnten überwiegend Unheil ausgebrütet. Sie bringen Fanatismen hervor, muslimische wie hindunationalistische, und sie zeigten sich lange Zeit unfähig, ihre ideologischen, ethnischen und sozialen Probleme zu lösen – erst die jüngere Entwicklung Indiens zur neuen Wirtschaftsmacht korrigiert das Bild. (Das weiter westlich anschließende, arabisch geprägte Gebiet, das die Inder «Westasien» nennen, gehört zwar geographisch zum Kontinent, wird aber in diesem Buch als Naher und Mittlerer Osten nur am Rande behandelt.) Was die etwa dreißig Länder verbindet, die hier als «Asien» beschrieben werden, ist ihre gemeinsame ethnische und religiöse Heterogenität, ihre Prägung durch die hinduistisch-buddhistische Kultur – sie behauptet sich selbst im größten muslimischen Land der Welt, Indonesien – und ihr regionales Wir-Gefühl. Auch wenn sich Thailänder in erster Linie als Thailänder bezeichnen und Inder als Inder, so akzeptieren sie doch als nächste Bezugsgröße das «Asiatische». Auf eine derartige Idee kämen Iraker oder Syrer kaum.
Die Wucht, die vom modernen Asien ausgeht, steckt in seinen widersprüchlichen Kräften. Die Menschen zwischen Bangalore und Schanghai drängen den Westen nicht nur mit ihrem wirtschaftlichen Ehrgeiz in die Defensive. Sie bedrohen ihn auch mit religiöser Radikalität und mit Terror. Vor allem aber konfrontieren sie ihn mit einem flächendeckenden Nationalismus, der die zahlreichen Krisenherde im Osten weiter befeuern wird. Dass sich überdies inmitten einer Phase nuklearen Aufrüstens in Asien zwei neue Großmächte – China und Indien – herausbilden, kündigt nicht nur neue Konflikte an, sondern auch eine Verschiebung der weltpolitischen Kraftfelder, deren Auswirkungen derzeit nur zu erahnen sind.
Mit der Stunde der Asiaten, die gerade anbricht, beginnt für uns keine einfache Zeit. Sie wird die Geschichte verändern und die Europäer zu einem neuen Selbstverständnis zwingen. Schon die Kinder der heute Vierzigjährigen, spätestens aber ihre Enkel drohen als Zaungäste am...