Werte und Kulturen
Die Freiheit besteht darin, alles tun zu können, was keinem anderen schadet.
So lautet der Artikel 4 der «Menschen- und Bürgerrechte» von 1791: Das Recht auf Freiheit schließt auch die moralische Pflicht ein, niemandem zu schaden. Auf kulturelle oder religiöse Praktiken ausgelegt ist diese Forderung gar nicht so eindeutig, denn wer entscheidet, «was keinem anderen schadet»?
Werte und ihr Konfliktpotenzial
Der Einzelne steht immer im Spannungsfeld zwischen Verantwortung für sein Handeln im Kontext der Gemeinschaft und seiner Freiheit, das zu tun, was er will.
Die Diskussion über das Recht auf körperliche Unversehrtheit und die Beschneidung moslemischer und jüdischer Jungen, die Ende 2012/Anfang 2013 in Deutschland und vorübergehend auch in Österreich geführt wurde, zeigte auf, dass der Begriff der körperlichen Unversehrtheit kulturell sehr unterschiedlich interpretiert wird.1
In diesem Sinne sind Werte Orientierungen für die Vorstellungen, Ideen oder Ideale einer Gruppe oder Gemeinschaft und diese können daher sehr unterschiedlich sein. Sie dienen als Kriterien für Verhaltensweisen und sind Ziele von Handlungen. Sie steuern unsere Wahrnehmung. Sie spiegeln das Verhalten des Einzelnen in einer Gruppe wider. Sie dienen der sozialen Kontrolle und der Handlungskoordination.2 Werte als Grundlage für jede beliebige soziale Gruppe sind von kulturellen und religiösen Traditionen bestimmt und verändern sich mit der Zeit. Allerdings verändern sie sich langsam, weil sie über die Erziehung weitergegeben werden. Dies wird ein Thema im Kapitel «Familienstrukturen und Erziehungsmodelle» sein.
Der deutsche Werte-Index 2012 rückt den Wert der Freiheit an die erste Stelle. Auch in der im April 2013 erschienenen Broschüre «Zusammenleben in Österreich», in der die zentralen Werte Österreichs dargelegt werden, stehen Freiheit und Selbstbestimmung an erster Stelle.3 Freiheit ist in unserer Gesellschaft der wichtigste Wert. Sie symbolisiert Individualität, Autonomie, Selbstbestimmung. Dazu aus dem deutschen Werte-Index 2012 zu Freiheit: «Bislang haben institutionelle Strukturen für Stabilität und Sicherheit – die Grundlage für Freiheit – gesorgt. Diese erweisen sich in hochdynamischen Zeiten zunehmend als ineffizient. (...) Ein neues Verständnis von Freiheit wird deshalb wichtiger: Unabhängigkeit. Heute geht es darum, selbst über sich zu bestimmen und sich nicht in die Zwänge anderer zu begeben.»4
In diesem Zusammenhang wird verständlich, dass wir auf jene sozialen Systeme (politische Systeme, Institutionen, Familien, aber auch Religionen) mit Argwohn reagieren, bei denen dieser Wert nicht an erster Stelle steht. Freiheit erscheint uns als etwas so Grundlegendes, dass wir uns nicht vorstellen können, dass dieser Wert in einer anderen Kultur nicht vorrangig ist.
Spannungsfeld Gruppe und Individuum
Werte sind die Stützen für unsere Gesellschaft, für eine Gemeinschaft oder Familie – kurz, für jede Gruppe, der man sich zugehörig fühlt. Solche Gruppen sind Familien und Großfamilien, Sprachgruppen, Geschlechtergruppen, religiöse Gemeinschaften, Berufsgruppen, Freundesgruppen. In diesen Gruppen werden Werte vermittelt, durch die sich die Einheit der Gruppe konstituiert und die den einzelnen Mitgliedern als Orientierung dienen.5 Sie bilden die Basis für die soziale Identität eines Menschen. Die Identität eines Menschen setzt sich aus seiner sozialen und personalen Identität zusammen. Zwischen beiden besteht ein dynamisches Verhältnis.6
Der Einzelne ist in einer Gemeinschaft aufgehoben und hat bestimmte Erwartungen an sie (Schutz und Grundversorgung, Arbeitsmöglichkeit, Gesundheitsversorgung, Bildungsmöglichkeiten und so weiter), er ist aber auch verpflichtet, aktiv von seinen demokratischen Rechten Gebrauch zu machen und sich durch politische oder soziale Aktivitäten an der Gemeinschaft zu beteiligen.7 Die Wahrnehmung der demokratischen Rechte, das Mitwirken und Mitgestalten unserer Gesellschaft und unseres Lebens in dieser Gesellschaft werden erwartet. Darin manifestiert sich die Dynamik von Individuum und Gesellschaft. Individuelle Freiheit und Menschenwürde sind nach diesem Modell eng an das Engagement in der Gesellschaft gebunden, in der man lebt. Die Basis ist das demokratische Verständnis von Freiheit, Individualität und Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft.
Abgesehen von der Zugehörigkeit zu Gesellschaft und Staat, in denen man lebt, gehört man als Individuum immer mehreren unterschiedlichen Gruppen an. Die Summe dieser (oft vielfältigen und im Laufe des Lebens sich verändernden) Zugehörigkeiten ermöglicht eine individuelle Entwicklung und ist die Grundlage der personalen Identität.8 Diese Dynamik zwischen Individuum und Gemeinschaft wird nicht in allen Kulturen in dieser Weise gelebt. In manchen Gemeinschaften wird erwartet, dass sich der Einzelne den Gruppeninteressen in jeder Hinsicht unterordnet.
Mehrheitsgesellschaft und Minoritäten
Nicht immer sind die Werte von Minoritäten mit den Werten der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft zu vereinbaren, so sind etwa Interessen einer Gruppe, die dem Gleichheitsgrundsatz einer Demokratie widersprechen, beispielsweise wenn der Grundsatz «Niemand bestimmt über mich, meine Meinung und mein Leben, außer mir selbst», nicht gewährt.9 Gruppen wie Großfamilien, religiöse oder ethnische Gruppen, die nach ihren eigenen traditionellen Werten leben, können auf ihre Mitglieder großen Druck ausüben.10 Das geschieht immer dann, wenn die Gruppe vom Einzelnen besondere Unterordnung verlangt, so dass die individuelle Entwicklung behindert wird.
Der Mensch braucht für die Entwicklung einer stabilen Persönlichkeit einerseits die Stabilität der Werte vonseiten seiner Familie oder Bezugsgruppe, andererseits muss er sich als Subjekt eigenständig verwirklichen können. In dieser Dynamik liegt die Basis unseres Individualismus und Freiheitsgedankens: Ohne Rückhalt der Gruppe oder der Gesellschaft kann der Einzelne nicht überleben, aber ohne individuellen Spielraum sich nicht eigenständig entwickeln.
Diese Dynamik wird deutlich, wenn ich weiter unten kulturell unterschiedliche Wertesysteme an der Schnittstelle von Kulturen behandle. Für viele junge Menschen mit Migrationshintergrund, die in Europa leben, ist es schwer, die Werte ihrer Familie, also ihres primären kulturellen Bezugssystems, infrage zu stellen und sich an den durch die Mehrheitsgesellschaft vorherrschenden (in unserem Kontext) westeuropäischen Werten zu orientieren, weil sie dadurch den emotionalen Rückhalt durch ihre Familie aufs Spiel setzen würden. Ein Beispiel wäre das Dilemma, in dem sich junge Frauen befinden, die aus ihrem Familienverband ausbrechen wollen, weil die Gefahr einer Zwangsverheiratung droht, oder wenn sie wegen ihres liberalen («westlichen») Lebensstils von ihren Familienmitgliedern verfolgt werden. Das werde ich beim Thema Ehre noch ausführlich erläutern.
Teil der kulturellen Anpassung ist es, beide Wertesysteme zu verbinden. Der Einzelne schafft sich dadurch einen eigenen Orientierungsrahmen. Die Verbundenheit zur Ursprungs- oder Herkunftskultur bleibt aber wichtig, denn es gilt inzwischen als erwiesen, dass es schwierig ist, sich als Individuum in seiner Eigenständigkeit ohne Rückbindung an seine Ursprungskultur zu entwickeln. Die Folge sind oft kulturelle Orientierungslosigkeit und die Suche nach Unterstützung in kleinen Peer-Gruppen wie Gangs oder Banden von Subkulturen. Der Sinnverlust, der durch die Distanzierung zur Ursprungskultur entsteht, kann durch eine neue Orientierung ausgeglichen werden, aber das ist oft schwierig, besonders für junge Menschen, die zwischen zwei Kulturen aufwachsen. Ich werde weiter unten zeigen, wie hartnäckig sich bestimmte Werte in kulturellen Überschneidungssituationen halten und als Orientierungsrahmen dienen.
Kulturelle Anpassung
Es gibt Unterschiede beim kulturellen Anpassungsprozess in Bezug auf die sozialen Unterschiede der Betroffenen. Im Migrationsmilieu bei niedrigem Bildungshintergrund, schlechter wirtschaftlicher Lage und starkem Einfluss der Religion besteht eher die Tendenz, unter sich zu bleiben und die eigenen Werte hochzuhalten, ohne sich an die bestehende Mehrheitsgesellschaft anzupassen. Bei der Expatriation11 handelt es sich um berufliche Auslandsentsendungen von gut ausgebildeten Technikern, Managern oder Führungskräften, die in ihrem Berufs- und privaten Alltag mit kulturellen Unterschieden konfrontiert sind. Bei einer solchen Entsendung passt man sich nur partiell an, denn der Auslandsaufenthalt ist zeitlich begrenzt. Anpassung, sei es in der Migration oder in der Expatriation, gelingt vor allem, wenn die Betroffenen bereit sind, Neues (neue Verhaltensweisen, neue Sichtweisen und Einstellungen) anzunehmen und Altes (Gewohnheiten und Einstellungen, die in der neuen Umgebung nicht mehr passen) abzulegen.12 Kulturelle Anpassung bedeutet aber nicht, seine eigene Kultur völlig aufzugeben. Ideal ist, wie erwähnt, eine Verbindung beider Orientierungssysteme zu erreichen. Hier ein Beispiel der Schriftstellerin Irena Brezna, die in die Schweiz auswanderte:
Um mich ans fremde Klima anzupassen, musste ich Erfahrungen von ganzen Generationen in einer einzigen Lebenszeit bewältigen, die Evolution meiner Art beschleunigen. (...) Ich eignete mir bodenständige Eigenschaften an, gerade so viel, dass sie mich nicht allzu beschwerten, und gewann an Höhe. (...) Nein, nicht alles, was ich mitbrachte, musste ich wegwerfen, also doch nicht bei null...