YOGA – JAHRTAUSENDEALTES WISSEN
>>It (Yoga) does not just change the way we see things; it transforms the person who sees.<<2
Iyengar, Light on Life
DER ACHTGLIEDRIGE PFAD DES PATANJALI
Yoga, die alte indische Philosophie, ist längst in der westlichen Welt angekommen. Zwischen Heidelberg und Husum entstanden in den letzten Jahren zahlreiche Yogaangebote. Allein in Berlin gibt es eine riesige Auswahl an Yogastudios. Dazu kommen ungezählte Kurse, etwa in Fitnessstudios, Volkshochschulen oder Kieztreffs. Längst hat sich Yoga aus der Esoterikecke herausbewegt. Er hat sich als eigener Markt etabliert, mit Retreats und trendigen Accessoires, von der speziellen Yogamatte und dem passenden Mattenspray bis zum nackenfreundlichen Kopfstandstuhl. Soziale Netzwerke wie Instagram geben uns die Möglichkeit, uns mit Yogaübenden weltweit zu verbinden – und buhlen oftmals mit Fotos von spektakulären akrobatischen Haltungen um unsere Aufmerksamkeit.
Yoga ist Atmen. Yoga ist Meditation. Yoga ist Kultivieren von Achtsamkeit.
Darüber vergessen wir manchmal – vor allem in den Großstädten –, dass Yoga mehr bedeutet als reine Körperertüchtigung im loungigen Studio. Yoga ist Atmen. Yoga ist Meditation. Beim Yoga horchen wir nach innen und halten die eigene Stille aus, um die innere Fülle zu entdecken. Yoga ist ein Kultivieren von Achtsamkeit. Yoga bedeutet auch, auf Kraftausdrücke und destruktive Verhaltensmuster wie Neid oder Negativität zu verzichten, auch wenn uns das oftmals schwerfällt. Yoga ist Verbindung von Körper, Seele und Geist, von Himmel und Erde, von innen und außen.
Der Gelehrte Patanjali definiert Yoga so: »Yoga ist die Fähigkeit, sich ausschließlich auf einen Gegenstand (...) auszurichten und in dieser Ausrichtung ohne Ablenkung zu verweilen.«3 Patanjali legte mit seinem »Yoga Sûtra« vor rund 2000 Jahren als Erster die Grundlage für Yoga schriftlich fest. Er gilt gemeinhin – und nicht nur für den bekannten Yogaguru Iyengar – als Vater des Yoga. Das »Yoga Sûtra« umfasst den sogenannten achtgliedrigen Pfad: acht Aspekte, die jedem Yogaschüler die maßgebliche Richtung weisen.
An erster Stelle des achtgliedrigen Pfads steht nicht – so könnte man meinen – die Yogapraxis, sondern ein moralisches Regelwerk, die sogenannten Yamas. Yamas sollen einen guten Umgang zwischen den Menschen gewährleisten, beschreiben also die ethische Grundlage, auf der das soziale Miteinander fußen soll.
Zwei der insgesamt fünf Yamas heißen Ahimsa und Satya. Ahimsa bedeutet Gewaltlosigkeit, auf allen Ebenen und gegenüber allen Lebewesen (daher sind die meisten Yogis Vegetarier oder Veganer). Ahimsa meint ebenfalls Freiheit von Gewalt auf der Kommunikationsebene. Damit ist Ahimsa auch für alle Menschen interessant, die mit Kindern zu tun haben: Unbedachte Worte und Gesten können unser (kleines) Gegenüber verletzen.
Natürlich sind wir alle auch nur Menschen – und wenn zum wiederholten Mal das Kinderzimmer nur durch eine Schneise zu betreten ist, lassen wir uns nur zu leicht zu einer Standpauke hinreißen. Hier kann uns Ahimsa helfen, indem wir erst einmal durchatmen und uns daran erinnern, dass wir mit Schreien und Beschimpfungen weder viel erreichen noch gewaltfrei handeln. Durchatmen nimmt oft schon den Druck aus einer Situation heraus. Sich nicht von negativen Gedanken und Gefühlen zu einem Wutausbruch hinreißen lassen – auch das ist Ahimsa. Wahrscheinlich hat das Kind einfach nur eine andere Vorstellung von Ordnung (auch wenn das als Erwachsener schwer auszuhalten ist).
Ein weiteres Yama ist Satya, was so viel wie Wahrhaftigkeit bedeutet. Satya bietet Kindern die Grundlage, um sich an uns orientieren zu können. Denn ein wahrhaftiger, ehrlicher Umgang mit anderen, aber auch mit sich selbst und mit den eigenen Fehlern ist es, aus dem auch unsere Kinder Stabilität und Mut gewinnen können. Ein Beispiel gefällig? Wie verhalten wir uns, wenn das Telefon kurz vor dem Abendessen klingelt und wir sehen, dass es die Freundin mit chronischem Liebeskummer ist, die am liebsten stundenlang telefoniert? Lassen wir uns verleugnen? Erfinden wir eine kleine Notlüge? Egal, was wir tun – unser Kind wird sich unser Verhalten zum Vorbild nehmen.
Neben den Yamas, den insgesamt fünf Verhaltensregeln zum Umgang mit anderen, erläutert Patanjali im »Yoga Sûtra« die Niyamas. Bei den Niyamas geht es um Aspekte für einen besseren Umgang mit sich selbst. Hier steht die eigene Achtsamkeit im Vordergrund: Sauca, die Reinlichkeit, oder Santosha, die Zufriedenheit mit dem eigenen Leben. Wie oft denken wir, erst eine bestimmte (oftmals materielle) Sache erreichen zu müssen, um zufrieden und glücklich zu sein. Und so drehen sich unsere Gedanken stets im Kreis, denn es gibt schließlich immer etwas, nach dem wir streben. Dabei ahnen wir schon, dass wahre Zufriedenheit nur von innen entstehen kann. Erst mit einer gewissen Demut können wir unser Leben akzeptieren und annehmen. Und gerade – vermeintliche – Niederlagen lassen uns oft erst eine nächste Entwicklungs- oder Erkenntnisstufe erreichen, auch wenn es schmerzhaft ist. Ein wenig Santosha hilft uns täglich, das eigene Schicksal demütiger anzunehmen und uns nicht immer verrückt zu machen. Einfacher gesagt als getan, aber einen Versuch ist Santosha allemal wert!
Über zweieinhalb Millionen Deutsche praktizieren Yoga.
Schreiten wir mit Patanjali weiter auf seinem achtgliedrigen Pfad und lassen wir die Yamas und Niyamas hinter uns, so begegnen wir nun dem, was wohl die meisten mit Yoga verbinden. Die Haltungen, im Yoga auch Asanas genannt, sind ein Spiel der Polaritäten: »Sthira sukham asanam«, heißt es hier, also stabil und durchlässig zugleich soll das Wesen jeder Yogaposition sein.
Je weiter wir den Pfad der acht Glieder verfolgen, umso transzendenter, feinstofflicher werden die Stufen. Die Beobachtung des Atems (Pranayama), das Zurückziehen der Sinne (Pratyahara), die Konzentration (Dharana) auf eine Sache und schließlich die Meditation (Dhyana) sind wichtige Vorstufen des Stadiums, das Patanjali an die achte und letzte Stelle setzt: die Erleuchtung, das Einswerden mit allem (Samadhi).
»Ashtavakrasana« heißt diese herausfordernde Übung. Schön für den, der sie beherrscht. Im Yoga steht jedoch nicht die Gelenkigkeit im Vordergrund.
EIN PERFEKTER HANDSTAND IST NICHT DAS ZIEL
Die Asanas stehen bei Patanjali an dritter Stelle, nach den Yamas und Niyamas. Tatsächlich verwechseln viele Menschen die Yogapositionen (Asanas) mit Yoga als Gesamtheit, als Modell für eine Lebenshaltung. Yoga ist kein reines Bewegungsprogramm wie HIT (hochintensives Training), Jazzdance oder Boxen. Im Yoga sind das Nach-innen-Spüren und der Atemfluss, der die Bewegung begleitet, untrennbar mit dem Körperlichen verbunden. Die Kunst ist es, einen Bewegungsablauf, den wir zum tausendsten Mal wiederholen, immer noch achtsam, dabei stabil und durchlässig auszuführen.
Natürlich geht es auch um die korrekte Körperhaltung. Das ist oftmals gar nicht so leicht: Eine Yogapose, die uns so viel Kraft kostet, dass wir den Atem dabei anhalten, ist im Sinne Patanjalis kein Yoga. Und selbst wenn uns die Instagram-Profile so mancher Yogis mit ihren teilweise akrobatischen Yogahaltungen im knappen Outfit vor atemberaubenden Landschaften etwas anderes suggerieren: It’s not about the handstand – es geht hier nicht um den Handstand,4 sondern ums eigene Beobachten und Erspüren, den Fokus und die Konzentration. Nichtsdestotrotz ist die zeitgemäße Verbreitung von Yoga auf den sozialen Netzwerken ein Segen und oftmals Ansporn und Inspiration zugleich.
DAS ERBE DES PATANJALI: YOGA FÜR ALLE!
Der achtgliedrige Pfad aus dem »Yoga Sûtra« hat nach wie vor seine Gültigkeit: Auch in der modernen, urbanen Ausrichtung von Yoga finden sich die Aspekte wieder. Wie war das mit Stabilität und Durchlässigkeit zugleich? Ja, die Yogalehre ist stabil, hat sie sich doch ihren Wesenskern erhalten. Auch wenn es heutzutage viele Yogaschulen gibt – von Metal-Yoga bis zum Bikram-Yoga –, immer ist es der Atem, der uns durch die Übungen führt. Ob in der Lunch-Break-Vinyasa-Klasse oder im traditionellen Kundalini-Yoga: Es werden Mantren gesungen oder manchmal auch nur ein kurzes OM, um mit allumfassenden Tönen den Raum zu füllen auf dem langen Weg zur Erleuchtung. Wir versuchen uns an herausfordernden Übungen und atmen dennoch mit Leichtigkeit. Wir spüren, dass der achtsame Umgang mit dem eigenen Körper auch zu einem achtsameren Umgang mit der Umwelt führen kann.
Yoga muss sich dem Menschen anpassen und nicht umgekehrt.6
Die vielfältigen Stilrichtungen des Yoga, seine aktuellen und immer wieder neuen Ausprägungen sind ihrerseits ein grandioses Beispiel für die Durchlässigkeit und...