Einleitung
Die Welt im Umbruch
Wir sind es gewohnt, die Zeitgeschichte von 1945 und 1989 her zu denken. Die deutsche Teilung und Vereinigung gelten als maßgebliche Zäsuren. Eine andere Perspektive auf die jüngste Vergangenheit gewinnt man, wenn man sie von den weltweiten Wendepunkten im Jahr 1979 her betrachtet. Denn in diesem Jahr häuften sich globale Ereignisse, die Türen zu unserer Gegenwart aufstießen. In zahlreichen Ländern kam es zu Revolutionen, Umbrüchen und Krisen, die viele Herausforderungen unserer heutigen Welt ankündigten – wie den islamischen Fundamentalismus, globale Flüchtlingsbewegungen, marktliberale Reformen oder auch Energieprobleme. Meist vollzogen sich diese Ereignisse in weiter Ferne, waren aber zugleich eng mit der Geschichte unserer Gegenwart verbunden.
So betrat 1979 mit der Iranischen Revolution unter Khomeini der fundamentalistische politische Islam die Weltbühne. Bilder von schwarz verschleierten Frauen, Scharia-Strafen und gedemütigten US-amerikanischen Geiseln stimulierten zugleich islamfeindliche Haltungen im Westen. Die hier auftretenden Spannungen im und zum Nahen Osten halten bis heute an. Gleichzeitig kündigten sich mit der Wahl von Margaret Thatcher massive marktliberale Reformen in Großbritannien an. Diese rasch als «Neoliberalismus» bezeichnete Politik entwickelte sich international zum Vor- und Schreckbild. In vielen Teilen der Welt wuchsen die Kritik am Staat und das Vertrauen in die Kräfte des Marktes. Ein noch stärkerer ökonomischer Kurswechsel begann 1979 im sozialistischen China. Dort setzte Deng Xiaoping grundlegende Reformen durch und öffnete die Wirtschaft für den Westen. Symbolträchtig startete sogar der Verkauf von Coca-Cola. Chinas rasanter Wandel stand für eine beschleunigte Globalisierung und den Aufstieg der nunmehr größten Exportnation, die das 21. Jahrhundert prägen wird.
Nicht nur Chinas Reformen nagten 1979 an der kommunistischen Utopie. Auch der real existierende Sozialismus in Ostmitteleuropa geriet in Bewegung. Die Polenreise des neu gewählten Papstes Johannes Paul II. brachte im Juni 1979 rund zehn Millionen Menschen auf die Straßen und förderte das Aufkommen einer breiten Protestbewegung, die weit über Polen hinaus ausstrahlte. Kaum weniger Aufmerksamkeit fand die gleichzeitige Revolution in Nicaragua. Junge Linke aus beiden Teilen Deutschlands und anderen Gegenden der Welt reisten als Aufbauhelfer in das lateinamerikanische Land, das rasch zum weltpolitischen Konfliktfeld wurde und die schwierige politische Emanzipation der «Dritten Welt» zeigte. Die sandinistische Revolution beflügelte den Traum von einer gerechten Gesellschaft jenseits des osteuropäischen Staatssozialismus ebenso wie die aktive Globalisierungskritik.
Derzeit richten wir unsere Aufmerksamkeit auf Flüchtlinge, die über das Mittelmeer nach Europa kommen. 1979 erreichte mit den «Boat People» aus Südostasien eine erste große Gruppe außereuropäischer Flüchtlinge die Bundesrepublik, die vor allem aus dem kommunistischen Vietnam flohen. Die Bundesrepublik zeigte eine neuartige Hilfs- und Integrationsbereitschaft: Die Regierung erhöhte mehrfach Aufnahmekontingente, die Deutschen spendeten und halfen, mit dem Schiff Cap Anamur Flüchtlinge aus dem Meer zu retten. Der Willkommenskultur folgten jedoch rasch erste rechtsextreme Anschläge, und der Begriff «Wirtschaftsflüchtling» zog in die politische Debatte ein.
Die Welt schien sich schneller zu drehen, und Deutschland bewegte sich mit. Die Londoner Times vermerkte im November 1979, dass einem von der Häufung der Ereignisse in diesem Jahr ganz schwindlig werde: «Kurz nachdem wir von einem Ereignis überrollt wurden, passierten gleich neue mit doppeltem Tempo.»[1] Tatsächlich folgte kurz darauf Weihnachten 1979 ein weiteres nachhaltiges Weltereignis: Die Sowjetunion marschierte in Afghanistan ein. Dies diskreditierte die kommunistische Großmacht weltweit, auch im Globalen Süden. Der zermürbende Kampf, den viele sofort als «sowjetisches Vietnam» bezeichneten, förderte den Niedergang der Sowjetunion und zugleich den Aufstieg der islamischen Mudschahedin. Afghanistan ist seitdem ein Krisenherd von globaler Bedeutung. Generell rückten die Ereignisse des Jahres 1979 neue Regionen nachhaltig in den Mittelpunkt der weltweiten Aufmerksamkeit. Die Entwicklungen in China, Iran, Afghanistan oder Nicaragua galten zunächst als Teil eines neuen Kalten Krieges, zugleich trugen sie aber zur Auflösung der bipolaren Weltordnung bei.
Das Jahr 1979 war somit nicht nur durch politische Zäsuren gekennzeichnet. Viele Wendepunkte beeinflussten grenzübergreifend den Alltag der Menschen. Jeden Haushalt traf 1979 die zweite Ölkrise. Die Energiepreise stiegen deutlich höher als bei der ersten Ölkrise sechs Jahre zuvor. Zudem galt nun die Atomkraft nicht mehr als unumstrittene Alternative. Denn im April 1979 führte ein schwerer Unfall in einem US-amerikanischen Atomkraftwerk nahe Harrisburg dazu, dass in vielen Ländern die Angst vor der Atomkraft wuchs. Nur zwei Monate zuvor hatte in Genf die erste Weltklimakonferenz getagt, auf der die Erderwärmung durch vermehrten CO2-Ausstoß verhandelt wurde. Mehr Kohle zu verfeuern galt als keine adäquate Lösung mehr, sodass das Sparen von Energie an Bedeutung gewann. In diesem Kontext schlossen sich die gerade entstehenden Grünen für die erste Europawahl im Juni 1979 zusammen, worauf ein halbes Jahr später die Gründung ihrer Bundespartei folgte. Marktliberales und ökologisches Denken formierten sich parallel zueinander.
Die weltumspannenden Ereignisse im Jahr 1979 veränderten auch den Blick auf die Vergangenheit. Dafür stand vor allem der Welterfolg der US-Serie Holocaust, die im Januar in Deutschland ausgestrahlt wurde. Sie erschien wie ein «Geschichtssturm», so der Philosoph Günther Anders 1979,[2] da mit ihr die die nationalsozialistischen Verbrechen und die Opfer des Völkermords ins Zentrum der Erinnerungskultur rückten. Die Geschichte der jüdischen Arztfamilie Weiss stand für einen aufkommenden Geschichtsboom und einen neuen historischen Blick «von unten». Einzelschicksale und die Aussagen von Opfern und Zeitzeugen gewannen generell an Bedeutung
Selbst Umbrüche in bisher wenig beachteten Ländern wie Nicaragua oder Afghanistan sorgten 1979 weltweit für vielfältige Reaktionen mit großer internationaler Tragweite. Der globale Wandel beschleunigte sich, die Welt wurde enger vernetzt, was man damals noch nicht Globalisierung, sondern Interdependenz nannte. Diese «Ausweitung, Verdichtung und Beschleunigung weltweiter Beziehungen», wie die Globalisierung meist definiert wird,[3] wurde nicht nur durch die Wirtschaft oder globale politische Organisationen angetrieben. Auch die Beobachtungen von Ereignissen in anderen Weltgegenden und die Reaktionen darauf intensivierten sich. Der «Shock of the Global»,[4] der für dieses Jahrzehnt ausgemacht wurde, zeigt sich an den Ereignissen des Jahres 1979 besonders deutlich. Nach Anthony Giddens ist ein Merkmal der Globalisierung, dass lokale Handlungen durch weit entfernte Ereignisse beeinflusst werden.[5] Wie dies geschah, verdeutlicht dieses Buch aus deutscher Perspektive.
Den Ereignissen, von denen dieses Buch handelt, ist gemeinsam, dass sie Reaktionen auf Krisendiagnosen waren, die in den Siebzigerjahren eine starke Konjunktur erlebten.[6] Die Krisenwahrnehmung öffnete den Weg für Reformen, Umstürze und politische, ökonomische und kulturelle Paradigmenwechsel. Deren Richtung war meist offen. Schließlich umschreibt der Begriff «Krise» ja nicht einfach einen Niedergang, sondern einen grundlegenden Umbruch, der unter Zeitdruck wegweisende Entscheidungen abverlangt.[7]
Viele der Ereignisse standen für einen Bruch mit den Grundannahmen und Erwartungen der Moderne. Dass die Religion eine neue große Bedeutung gewinnen würde, hatte in den Siebzigerjahren kaum jemand angenommen, man rechnete eher mit dem Gegenteil. Nun gewannen der fundamentalistische Islam, der Papst, evangelikale Christen und die lateinamerikanische Befreiungstheologie neues öffentliches Gewicht.[8] Bisherige Symbole des Fortschritts – wie die Atomkraft – galten vielen plötzlich als Bedrohung. Die zuvor noch erhoffte regulierende Kraft des Nationalstaates geriet in Misskredit. Stattdessen prägten globale ökonomische Verflechtungen den Wandel, sei es bei den Ölkrisen, der Öffnung Chinas oder dem weltweiten Verkauf der Serie Holocaust.
Gemeinsam war vielen Umbrüchen zudem, dass sie für einen Wandel des Politischen standen. In vielen Regionen betraten plötzlich starke Einzelpersönlichkeiten die politische ...