Frühe Kindheit mit Krieg und Hunger
Geburt
Solange ich denken kann, lebte ich in der Überzeugung, dass ich lange, lange ersehnt gewesen war. Mir wurde vermittelt, dass ich mein Dasein allein der Tatsache zu verdanken habe, dass alle sich so sehr ein Mädchen gewünscht hätten. Meine Mutter berichtete oft und immer mit der gleichen stolzen Genugtuung und einem unnachahmlichen Siegeslächeln, dass sogar die Geyers-Großmutter gestrahlt habe, als ihr die Nachricht von meiner Geburt überbracht wurde. „Ja, ist das denn die Möglichkeit, wirklich ein Mädchen!“, soll sie ausgerufen haben. Und der zehn Jahre ältere Bruder Heiner habe gefragt, „ob denn die Flügel noch dran gewesen“ wären, als ich auf die Welt gekommen sei oder „ob der Leim schon ab war“. Solche Erzählungen hatten mein Bild von meiner Geburt geformt. Ich war eines schönen Tages vom blauen Himmel herunter als Engel durch das offene Küchenfenster herein geschwebt. Da ich auf dem Rücken gelandet war, hatte sich die Frage mit den Flügeln wohl nicht sicher klären lassen. Mein ältester Bruder Dieter schwärmt noch im hohen Alter von dem Augenblick als er unsere Mutter nach der Entbindung zum ersten Mal habe sehen dürfen. Sie habe im sonnendurchfluteten Schlafzimmer gelegen, gekleidet in ein rosa Bettjäckchen, ihr blondes Haar leuchtete, und ihr Gesicht habe reine Liebe verströmt. Sie sei so unbeschreiblich schön gewesen! Diese oft erzählten Erinnerungen hatten bei mir die Überzeugung hinterlassen, etwas ganz besonders Kostbares zu sein.
Zu aller Freude und Bewunderung kam noch das Mutterkreuz, das meiner Mutter anlässlich der Geburt ihres vierten Kindes verliehen worden war. Auch wenn über dessen Bedeutung mit einem leichten Seufzer in eher geringschätzigem Ton gesprochen wurde, zeigte man es, wenn die Familienkleinode hervorgeholt wurden. Es lag in einem mit blauem Samt ausgeschlagenen Kästchen gleich neben der Schatulle mit dem Eisernen Kreuz meines Vaters. Nüchtern betrachtet, war mir schon als Kind klar, dass das Mutterkreuz kein Verdienstorden war, aber irgendwie strahlte sein Glanz doch auf mich ab.
Eine letzte Geschichte reiht sich ein in die Gründe, die ich für mein recht ordentliches Selbstwertgefühl verantwortlich mache, allerdings auch für die Bürde, nicht enttäuschen oder versagen zu dürfen. Mein Vater war bei meiner Geburt im Krieg oder wie man damals sagte: Er stand im Felde. Als er das Telegramm erhielt, das ihm die Geburt seines gesunden Töchterchens anzeigte, habe er sich so gefreut, dass er entgegen seiner Grundsätze ein Lotterielos gekauft und auch noch gewonnen habe. Die hundert Reichsmark habe er umgehend auf die Bank gebracht und als Grundstock einer Aussteuer für seine Tochter angelegt. Das klang in meinen Ohren ungeheuerlich! Hundert Reichsmark waren eine beachtliche Menge Geld. Ich erinnere mich, dass ich am Wochenende gelegentlich in die „Wiesenburg“, die Kneipe an der Ecke, geschickt wurde, um für zwanzig Pfennig drei Zigaretten der Marke „Ernte 23“ und einen halben Liter Bier im Krug zu kaufen. Folglich mussten hundert Mark ein Vermögen sein. Den tatsächlichen Wert sollte ich nie erfahren, denn als der Krieg vorbei war, lag das Geld in der falschen Besatzungszone und wurde bei der Währungsreform auf einen Betrag abgewertet, der niemanden mehr interessierte.
Meinen Namen verdanke ich meiner resoluten Schürers- Großmutter, die unter uns wohnte. Mein Opa hatte das vierstöckige, schmucklose Mietshaus bauen lassen. Es war zwar das ärmlichste in der Straße, aber wir hatten einen kleinen, hübschen Garten und ein richtiges Bad mit Wanne und Badeofen. Das war schon etwas. Einen Anschluss an die Kanalisation gab es allerdings nicht; übrigens bis zum Ende der DDR-Zeit nicht.
Meine Schürers-Großeltern kannte ich kaum, weil sie schon 1945 bzw. 1947 gestorben sind. Auf Bildern sah ich in meiner Großmutter eine fast herrschaftlich wirkende Frau mit selbstbewusstem Blick, akkurat aufgesteckter Frisur und edlen schwarzen, hoch geschlossenen Sonntagskleidern. Sie wurde mir als tüchtige Geschäftsfrau nahe gebracht, denn mein Großvater war ein angesehener Klempnermeister. Was mein kindliches Gemüt wirklich beeindruckte, war eine Uhr, die unser Klavierzimmer zierte und mit der goldenen Inschrift punktete: „dem Fürstlichen Hofklempnermeister gewidmet“! An diesem Titel maß ich die wahre Bedeutung des großelterlichen Geschäfts. Als es mir aber zum ersten Mal gezeigt wurde, war ich ziemlich enttäuscht, denn ich stand vor einer kleinen unauffälligen Tür und einem schmutzigen, fast undurchsichtigen Fenster einer Parterrewohnung.
Jedenfalls hatte meine Großmutter ihr jüngstes Enkelchen auf dem Standesamt angemeldet. Den Wunsch des abwesenden Schwiegersohns missachtend, hatte sie den Namen Adelheid als ungeeignet für sich behalten und Gertraude Elisabeth eintragen lassen. Ob diese Eigenmächtigkeit Einfluss auf die weitere Beziehung zwischen den beiden hatte, ist nicht bekannt. Der Krieg setzte wohl andere Prioritäten. Ich jedenfalls dankte der Großmutter zeitlebens, denn Adelheid war für mich, warum auch immer, mit einem unangenehmen Beigeschmack verbunden. Gertraude, diesem Namen merkte man seine alte germanische Herkunft an. Das bedeutete eine, die mit dem Wurfspieß kraftvoll umgehen kann und der eigenen Kraft vertraut. So jedenfalls waren alle Erklärungsbemühungen bei mir angekommen. Vielleicht trafen mich spätere Bloßstellungen und Enttäuschungen deshalb so schmerzlich und nachhaltig, weil sie nicht zu dem makellosen Selbstbild passten.
Krieg
Ich war in den Krieg hinein geboren, trotzdem erlebte ich meine frühe Kindheit als geborgen und sorglos. Dass Krieg schlecht war, schloss ich vor allem aus den sehnsuchtsvollen Rückblicken auf die vergangene und den Erwartungen auf die kommende Friedenszeit. Frieden bedeutete ganz offenbar eine paradiesische Zeit, in der es nichts von dem gab, was die Gegenwart störte oder vermissen ließ. „Wenn du wüsstest...“, so begannen alle Erinnerungen an die Zeit vor dem Krieg. Dann wurde irgendeine phantastisch klingende Geschichte erzählt, in der es weder Streit, noch Ärger, noch Entbehrung gab. Frieden erfüllte jeden Wunsch! Wann die gelobte Zeit eigentlich begann, kann ich nicht sagen. Das Ende des Krieges jedenfalls war es nicht. Noch in späten Nachkriegsjahren wurden außerordentliche Ereignisse mit den Worten kommentiert: „Das ist ja wie im Frieden!“ Außerordentlich war z.B., dass Strom, Gas oder Wasser nicht abgeschaltet wurden, dass man sich satt essen konnte, dass es etwas unverhofft zu kaufen gab.
Krieg hieß für mich vor allem, dass mein Vater nicht da war, dass ich jeden Abend für ihn betete (lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm und mach auch bitte, dass mein Vati wieder nach Hause kommt), dass alle immer auf ihn warteten, weil dann alles besser, irgendwie richtiger werden sollte. Krieg hieß auch, vom Essen weg oder aus dem Schlaf gerissen zu werden und in den Luftschutzkeller rennen zu müssen. Der gepackte Rucksack, meine Mutter hatte ihn aus grün-weiß gestreiften, robusten Stoff selbst genäht und liebevoll mit unserem Monogramm bestickt, und die festen Schuhe standen griffbereit für jeden neben der Wohnungstür. Sie durften keinesfalls vergessen werden. Im Keller traf sich die ganze Hausgemeinschaft, tauschte Neuigkeiten aus, lenkte die Kinder mit Spielen von der eigenen Angst ab und verteilte gelegentlich sogar einen Leckerbissen. Im Übrigen schien das ein ganz normales Leben zu sein. Lediglich die unvermittelt einsetzenden Fliegeralarmsirenen unterbrachen jede Normalität. Sie forderten auf, alles stehen und liegen zu lassen und umgehend den nächst gelegenen Luftschutzraum aufzusuchen. Panik setzte ein, wenn der schon überfüllt war. Wir mussten dann weiter rennen, den nächsten Bunker suchen, immer in der Angst, dass die schon dröhnend hörbaren Bomber jeden Augenblick ihre gefährliche Last abwerfen könnten. Meine schlimmste Vorstellung war, dass ich in der Hast und Aufregung von meiner Mutter weggerissen werden könnte. Doch selbst in so gefährlichen Situationen, wie bei einem Bombardement in der unmittelbaren Nachbarschaft empfand ich mehr Neugier als Angst. Ich hatte ja noch nichts Schlimmes erlebt. Ich wollte nur sehen, was passiert war. Als ich aber einmal auf dem Weg zum Kindergarten an einer Reihe erschossener Kriegsgefangener oder Fremdarbeiter vorbeigehen musste, lief ich schreiend nach Haus zurück. Die Toten waren neben dem Fußweg abgelegt worden, wie Müll. Niemand kümmerte sich um sie, niemand schien zu trauern. Die Gesichter waren erstarrt, die dünnen Körper in zerlumpte Uniformen gekleidet. Das Bild des Grauens ist in meinem Gedächtnis hängen geblieben, aber es verbindet sich nicht mit irgendeinem Verständnis oder einer anderen Emotion, nur das Erschrecken blieb.
Zum Krieg gehörte auch, dass ich meine Mutter absichtlich in Verlegenheit brachte, wenn ich sie fragte, warum denn das große Kaufhaus immer geschlossen sei. Ich wusste nicht, dass es ein jüdisches Kaufhaus war und dass die Juden verschleppt worden waren, aber es kitzelte mich ein schwer definierbares Gefühl der Überlegenheit, weil die Frage meine Mutter regelmäßig zum Stottern brachte. Ähnliches Vergnügen bereitete es mir, wenn ich meiner Tante Mariechen, die ich sehr mochte, die Hand hinstreckte, um sie zu begrüßen, aber im letzten Augenblick den Arm hochriss und „Heil Hitler“ rief. Ich wusste nicht, warum die Tante dann zitterte und nach Luft rang. Aber ich spürte ihre Ohnmacht und probierte immer von Neuem, ob ich sie provozieren konnte. Erst als Erwachsene erfuhr ich, dass Tante Mariechen schon als junge Frau der Kommunistischen Partei beigetreten war, dass ihr Mann in Gestapohaft saß...