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E-Book

Zukunft der Demokratie

Ende einer Illusion oder Aufbruch zu neuen Formen?

VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl150 Seiten
ISBN9783170253513
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis26,99 EUR
Demokratie betrifft uns alle - doch gegenwärtig besteht Unsicherheit, ob sie nach wie vor als bestmögliche politische Ordnung gelten kann. Erschien sie im 20. Jahrhundert als alternativlos, so ziehen aktuelle politische, ökonomische und kulturelle Phänomene diese Gewissheit in Zweifel: Wie genau ist Demokratie theoretisch zu fassen? Wie praktisch zu verstehen? Kann oder muss sie weltweit dasselbe bedeuten? Was ist ihr normativer Kern? Namhafte Politikwissenschaftler und Philosophen diskutieren diese Themen im Rahmen des Rottendorf Symposions - immer vor dem Hintergrund der Frage, ob sich das Ideal der Demokratie angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen, Problemlagen und Krisen als Illusion erweisen muss oder ob neue Formen von Demokratie geeignete Antworten auf die Transformationen gegenwärtiger Gesellschaften darstellen können.

Prof. Dr. Michael Reder und Dr. Mara-Daria Cojocaru lehren an der Hochschule für Philosophie München.

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Leseprobe

Ist die Krise der Demokratie eine Erfindung?


Wolfgang Merkel


Krisendiagnosen der Demokratie sind so alt wie diese selbst. Wie ein unzerreißbarer Faden ziehen sie sich durch das philosophische und politische Denken des Abendlandes.1 Sie begleiten die Anfänge der lokalen Demokratie Athens, inspirieren das Denken von Liberalen und Sozialisten in der Herausbildung der nationalstaatlichen Repräsentativdemokratien des 19. Jahrhunderts und liefern die melancholische Hintergrundmelodie zur Demokratie in Zeiten der Globalisierung. Es sind die vornehmsten Namen der europäischen Geistesgeschichte, die sich mit Kritik und Krisendiagnosen der Demokratie verbinden: Platon, Aristoteles, Hobbes, Tocqueville, Marx, Weber. Der Chorus der Krisendiagnostiker hat sich aber besonders seit Beginn der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts zu einer dauerhaften Formation gruppiert. Der linke wie der rechte Flügel sind prominent besetzt: Jürgen Habermas (u.a. 1973), Claus Offe (u.a. 1972; 1979; 2003; 2011), Wolfgang Streeck (u.a. 2013), Samuel Huntington (1975; 2004) – um nur einige beeindruckende Namen zu nennen. Numerisch wie auch theoretisch-qualitativ wird die Debatte dennoch stärker von „linken Theoretikern“ beherrscht.

Im Jahr 2004 erschien ein kleines Buch mit dem Titel Postdemokratie. Colin Crouch, sein Verfasser, argumentiert darin, dass der „demokratische Moment“, der sich in den Vereinigten Staaten von Amerika noch vor und in Westeuropa unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg entfaltet habe, erloschen sei. Die entwickelten Länder näherten sich dem Stadium der „Postdemokratie“ an, die viele vordemokratische Züge trage. Der Begriff hat in der veröffentlichten Meinung des Westens Karriere gemacht. Er gehört wie die Krisenrhetorik ganz allgemein längst zum Alltag und hat sich zu einem anschwellenden Rauschen verdichtet. Die hörenswerten Töne dazwischen sind keineswegs so einfach von der Kakophonie zu unterscheiden.

Dennoch lohnt es sich, genauer hinzuhören. Als politisches Ordnungssystem ist die Demokratie zwar normativ ohne überzeugende Alternative,2 realiter aber immer wieder erheblichen Herausforderungen und Gefährdungen ausgesetzt. Herausforderungen oder Gefährdungen führen aber keineswegs automatisch in die Krise. Ob sie sich als Krise der Demokratie manifestieren, hängt von der Handlungs- und Wandlungsfähigkeit demokratischer Institutionen, Verfahren und Kulturen ab. Die Schweiz unterscheidet sich zwar von Griechenland, Deutschland von Italien, Polen von Ungarn, Australien von den USA. Ob es aber nicht auch, systemische‘ Gemeinsamkeiten der Krisenbetroffenheit und der Reaktions(un)fähigkeit gibt, muss in einer vergleichenden Analyse geprüft werden (vgl. Merkel et al. 2014).

Dennoch lässt sich fragen: Ist die Krise der Demokratie eine Erfindung komplex denkender, aber empirieferner Theoretiker, die zudem einem normativ überzogenen Demokratieideal folgen? Oder bleiben die empirischen Analysen zu sehr einer Teildiagnostik verhaftet, die sich positivistisch mit der Oberfläche von Umfragedaten und Wähleranalysen zufrieden gibt, ohne die tieferen Krisenphänomene zu erkennen, die sich gerade aus der kumulierenden Wirkung einzelner Krisenphänomene ergeben? Zur Beantwortung dieser Fragen soll der Beitrag in folgende Argumentationsschritte gegliedert werden:

−  Welches Demokratiekonzept soll als Referenzsystem dienen?

−  Wie lässt sich der Begriff der Krise präziser fassen, als dies bisher in der Debatte gelungen ist?

Um nicht in die Falle einseitiger Verabsolutierung selektiver Krisenphänomene zu verfallen, sollen fünf Teilbereiche und ihre jeweils zentralen Demokratiefunktionen näher betrachtet werden:

−  Wahlen: Legitimation

−  Politische Rechte: Beteiligung

−  Bürgerrechte: Schutz

−  Horizontale Gewaltenverantwortlichkeit: Kontrolle

−  Effektive Regierungsgewalt: Regieren

1          Demokratie: Ein umstrittener Begriff


Der Demokratiebegriff ist umstritten: Konservative, liberale, soziale, pluralistische, elitäre, dezisionistische, kommunitaristische, kosmopolitische, republikanische, deliberative, partizipative, feministische, kritische, postmoderne oder multikulturalistische Demokratie bilden nur die Spitze eines begrifflichen Eisbergs (vgl. u.a. Schmidt 2010; Lembcke/Ritzi/Schaal 2012). Vereinfacht lassen sich drei Gruppen von Demokratietheorien unterscheiden: die minimalistische, die mittlere und die maximalistische Theorie.

1.1           Das minimalistische Modell


Minimalisten wie der einflussreiche Ökonom und Demokratietheoretiker Joseph A. Schumpeter (1950) gehen davon aus, dass freie, gleiche und geheime Wahlen nicht nur der Kern der Demokratie, sondern diese selbst sind. Über Wahlen, so das marktanaloge Demokratiemodell Schumpeters, können die politischen Unternehmer – etwa Parteien – ihre programmatischen Produkte anbieten, die von den Wählern nachgefragt, geprüft, ausgewählt oder verworfen werden. Das Angebot mit der höchsten Nachfrage bekommt den Zuschlag und damit das Recht auf Zeit, die Präferenzen und Interessen der Wähler zu repräsentieren. In regelmäßiger Wiederkehr haben die Repräsentierten die Möglichkeit, die Repräsentanten für die zurückliegende Legislaturperiode zur Verantwortung (accountability) zu ziehen und sie je nach Beurteilung wieder zu wählen – oder abzuwählen. Der Wesenskern der Demokratie wird damit von den Minimalisten, die sich selbst gern als Realisten bezeichnen, bewusst auf die „vertikale Verantwortlichkeit“ zwischen Regierten und Regierenden begrenzt (ebenso: Przeworski 2010).

Für eine Analyse reifer Demokratien taugen die minimalistischen Konzepte nicht. An der wettbewerbsorientierten Auswahl der Regierenden allein lässt sich nur wenig über die Spezifika bestimmter Demokratien erkennen. Es können kaum Aussagen getroffen werden, welche demokratische Qualität eine Demokratie hat, ob sie stabil oder instabil ist oder sich in der Krise befindet (Merkel 2014b). Minimalistische Demokratietheorien taugen für Large-N-Analysen, wo eine einfache, keineswegs immer erfolgreich gezogene Trennlinie3 zwischen Demokratie und Autokratie, die Welt der politischen Systeme in zwei Lager aufteilt. Demokratie versus Autokratie dienen dann meist als unabhängige, also erklärende Variablen (Explanans) für die abhängige Variable (Explanandum), so z.B. welches politisches Regime mit mehr Wachstum, Gleichheit oder Kriminalität korreliert.

1.2           Maximalistische Theorien


Maximalisten beziehen die Output- und Outcome-Dimension, d. h. Politikentscheidungen und Ergebnisse, als systemische Leistungsperformanz in ihre Demokratiedefinition mit ein. Darunter zählen sie Kollektivgüter wie die innere und äußere Sicherheit, ökonomische Wohlfahrt, sozialstaatliche Garantien und die erkennbare Fairness in der Verteilung von Grundgütern, Einkommen, sozialer Sicherung und Lebenschancen. Insbesondere die Vermeidung extremer Ungleichheiten bei der Verteilung von Einkommen, Primär- wie Sozialgütern steht im Mittelpunkt. Denn erst die „soziale Demokratie“ sichere das politische Gleichheitsprinzip. Für eine solche Position standen der Sozialdemokrat Eduard Bernstein (1902[1899]), der Weimarer Staatsrechtler Hermann Heller (1934), der britische Sozialstaatstheoretiker Thomas H. Marshall (1950) und steht heute Thomas Meyer (2005). In der Demokratiediskussion Lateinamerikas war und ist soziale Gerechtigkeit stets ein zentraler Topos. Das liegt auch daran, dass es dort der Demokratie – anders als im Europa des 20. Jahrhunderts – kaum gelungen ist, die extreme sozioökonomische Ungleichheit zu mildern.

Kritisch mag man hier einwenden, dass manche dieser Output-Leistungen und Politikergebnisse nicht unbedingt demokratiespezifisch seien. Sie könnten durchaus auch von Diktaturen erbracht werden: Man denke an das Wirtschaftswachstum in China und Vietnam, die wirtschaftliche und soziale Wohlfahrt in der weichen Autokratie Singapur oder die sozioökonomische Gleichheit in Kuba. Nicht zuletzt aus diesem Grunde ist es problematisch, die Output- oder gar Outcome-Dimension direkt in die Definition der Demokratie miteinzubeziehen.4

Maximalistische Theorien finden sich kaum in der empirischen Demokratieforschung. Der Grund liegt zum einen in ihrer komplexen Operationalisierung, zum anderen aber auch in einer gewissen angelsächsischen Abneigung gegenüber zu opulenten Demokratiekonzepten. Wenn aber Theorien im Allgemeinen und Demokratiekonzepte im Besonderen nicht über regionale Kulturen der...

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