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E-Book

Vielfalt und Differenz in der Sozialen Arbeit

Perspektiven auf Inklusion

VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl260 Seiten
ISBN9783170268111
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis26,99 EUR
Der Umgang mit Vielfalt und Differenz markiert in der Sozialen Arbeit eine zentrale Herausforderung. Das vorliegende Lehrbuch dient der Standortbestimmung und Weiterentwicklung der gegenwärtigen Diskussion in diesem Spannungsfeld. Nach einer grundlegenden Einführung in zentrale Fachbegriffe werden die Differenzkategorien Geschlecht, ethnische Herkunft, Behinderung, Alter und sexuelle Orientierung in ihren historischen und sozialpolitischen Kontext eingebettet sowie eine intersektionale Betrachtung von Differenzlinien vorgestellt. Im Anschluss werden Arbeitsfelder, Ansätze und Konzepte der Sozialen Arbeit diskutiert, die diese Differenzkategorien und entsprechende Erfahrungshintergründe in den Mittelpunkt gestellt haben, um gesellschaftliche Teilhabechancen zu verbessern. Die Autorinnen und Autoren diskutieren Reichweite, Begrenzungen und Kritikpunkte dieser Ansätze. Ein Augenmerk liegt auf der Frage, ob das in der Diskussion stehende Paradigma der Inklusion anknüpfungsfähig sein könnte und inwieweit es bisherige Zielgruppenfixierungen zu irritieren vermag.

Die Herausgeber und Herausgeberinnen lehren an der Fachhochschule Frankfurt am Main.

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Leseprobe

„WIR DISKRIMINIEREN NICHT – WIR STUDIEREN DOCH SOZIALE ARBEIT“


Heike Beck


Einleitung

Reflexionsprozesse sind in der Sozialen Arbeit im Allgemeinen und speziell im Umgang mit Vielfalt und Anderssein von besonderer Bedeutung. Die Soziale Arbeit verfolgt den Anspruch, nicht zu diskriminieren und Benachteiligungen von Menschen entgegenzuwirken. Dieser Anspruch spiegelt sich u. a. in den „Codes of Ethics“ wider (vgl. International Federation of Social Workers IFSW, 2013) und entspricht dem Berufsethos in der Sozialen Arbeit. Zu den berufsethischen Prinzipien der Sozialen Arbeit zählt beispielsweise, negativer Diskriminierung entgegenzuwirken, Verschiedenheit anzuerkennen, für eine gerechte Verteilung der Mittel zu sorgen, ungerechte politische Entscheidungen und Praktiken zurückzuweisen und solidarisch zu arbeiten (vgl. DBSH 2009, 8). Gleichzeitig ist es genau dieser Anspruch, dieses professionelle Selbstverständnis von Sozialarbeiter_innen, das hinderlich für Reflexionsprozesse im Rahmen diversitätsbewusster Sozialer Arbeit sein kann. Mit dem „wie“ und „warum“ beschäftigt sich dieser Beitrag. Zunächst werden der Stellenwert von Selbstreflexion im Rahmen diversitätsbewusster Sozialer Arbeit und die Entstehung und Bedeutung von Stereotypen und Vorurteilen dargestellt. Anschließend werden „blinde Flecken“ in der Auseinandersetzung mit Diversität beleuchtet und daran anknüpfend Empfehlungen unterbreitet, wie und welche Reflexionsprozesse im Spannungsfeld von Berufsethos und diversitätsbewusster Reflexion in der Sozialen Arbeit ermöglicht werden sollten.

1          Die Bedeutung von Reflexion in der Sozialen Arbeit


Soziale Arbeit ist vielfältig und komplex. Im Kontakt mit unterschiedlichen Zielgruppen sind soziale Fachkräfte mitunter komplizierten Interaktions- und Kommunikationsprozessen und Beziehungen ausgesetzt, die begleitet sein können von Irritationen, Unsicherheiten und widersprüchlichen Gefühlen (vgl. Spitzer 2011, 255). Deshalb erfordert die professionelle Praxis immer wieder „eine kritische Distanz zum beruflichen Alltag und die Reflexion und Überprüfung der eigenen Rolle und Verstrickung im Dickicht professioneller Beziehungen, institutioneller Erwartungen und sozialpolitischer Vorgaben […]“ (ebd., 256). Reflexion versetzt die professionell Handelnden in die Lage, Situationen zu bewerten und Erfolge und Misserfolge, Angemessenheit und Unangemessenheit zu evaluieren (vgl. Ebert 2008, 39).

Selbstreflexion

 

Betrachtung der eigenen Gedanken, Gefühle, Fantasien, Erfahrungen aus der Vergangenheit und Erwartungen an die Zukunft sowie des eigenen Handelns (vgl. Dauber 2006, 13). Durch Selbstreflexion versuchen wir zu verstehen, wer wir sind und warum wir wie handeln. Wie wir beispielsweise Kontakt zu Klient_innen aufnehmen oder Kontakt vermeiden. Wie wir das Gegenüber sehen (z. B. als Aus- oder Inländer_in) und wie dies unser Verhalten, Denken und Fühlen beeinflusst.

Der Erwerb von Kompetenzen ist integraler Bestandteil des Studiums der Sozialen Arbeit. Studierende sollen neben den sogenannten Sach- und Systemkompetenzen (z. B. Handlungs- und Erklärungswissen) auch Methodenkompetenzen, Sozialkompetenzen (z. B. Kommunikations- und Konfliktfähigkeit) sowie Selbstkompetenzen (= personale/reflexive Kompetenz) erwerben, um ihre professionelle Handlungsfähigkeit zu erweitern (vgl. Löcherbach u. a. 2009, 229 ff.).

(Selbst)reflexive Kompetenzen

 

umfassen u. a.

•  die Fähigkeit und Bereitschaft zur Selbstwahrnehmung, Selbstreflexion und dem Einfühlen in die eigene Person und Geschlechtsrolle;

•  das Erkennen eigenen Involviertseins in Handlungsprozesse, eigene Konflikt- und Handlungsmuster, Ambivalenzen und Abwehrformen;

•  die Auseinandersetzung mit Nähe - Distanz, Autonomie - Abhängigkeit, Macht - Ohnmacht;

•  die Reflexion eigener Vorurteile und ggf. Korrektur von Verhaltensweisen;

•  das Wahrnehmen und Akzeptieren von eigenen Stärken und Schwächen (Selbst-, Fremd- und Wunschbild) (vgl. Geißler/Hege 2001; v. Spiegel 2011).

Reflexiven Kompetenzen kommt in der diversitätsbewussten Sozialen Arbeit und in der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Differenzkategorien eine besondere Bedeutung zu. Denn: Wir alle gehören mehreren Differenzkategorien an (z. B. Gender, Alter, Herkunft). Wir alle tragen dazu bei, Kategorien sowie Ein- und Ausgrenzungen herzustellen, aufrechtzuerhalten und zu reproduzieren.

2          Bilder im Kopf


Wie wir uns und unsere Umwelt wahrnehmen, steht mit unseren Vorerfahrungen und dem eigenen Erleben in Zusammenhang. Schulz von Thun unterscheidet in der Kommunikationspsychologie zwischen drei „Empfangsvorgängen“ auf Seiten des Empfängers/der Empfängerin:

•  etwas wahrnehmen: z. B. sehen (einen Blick), riechen (einen Duft), hören (eine Aussage);

•  etwas interpretieren: das Wahrgenommene mit einer Bedeutung versehen, z. B. den Blick als abfällig deuten oder den Duft als angenehm oder den Satz als Kritik/Misstrauen auffassen, wobei die Interpretationen richtig oder falsch sein können;

•  etwas fühlen: auf das Wahrgenommene und Interpretierte mit einem Gefühl reagieren, z. B. mit Wut oder Angst (vgl. Schulz v. Thun 2002, 72 ff.).

Dieser Dreischritt des Wahrnehmens – Interpretierens – Fühlens verläuft blitzschnell und zum Teil unbewusst und liefert die Motivation für das weitere Handeln. Die konkrete Handlung hängt davon ab, welche Hemmschwellen und Filter (Werte, Normen, Fähigkeiten, Ausstattung mit Macht) in der Person wirksam werden. In der Sozialen Arbeit sind berufsethische Prinzipien sicherlich wichtige Filter und Hemmschwellen für das berufliche Verhalten. Das Bewusstheitsrad (s. Abb.1) verdeutlicht diese Zusammenhänge.

Abb. 1: Das Bewusstheitsrad (Langmaack/Braune-Krickau 2000, 166)

Wahrnehmung ist immer selektiv. Der Fokus wird bei der Wahrnehmung – wie bei einer Fotoaufnahme – auf einen Teilaspekt der Situation gerichtet. Andere Aspekte werden damit automatisch ausgeblendet. Selektive Wahrnehmung dient der Komplexitätsreduktion. Sie wird beeinflusst von der körperlichen und geistigen Ausstattung, von Interessen, von im Laufe der Sozialisation erworbenen Werten, Normen und Sitten, von der Bedeutung, die der Wahrnehmung gegeben wird und von damit verknüpften Gefühlen. Menschen kreieren so ihr eigenes Bild von der Wirklichkeit (vgl. Langmaack/Braune-Krickau 2000, 161 ff.).

Die Theorie der sozialen Kognition versucht die Entstehung und die Bedeutung von Stereotypen und Vorurteilen zu erklären. Die Theorie geht davon aus, dass Erfahrungen über die soziale Umwelt in Kategorien, sogenannten Schemata, im Gehirn abgespeichert werden (vgl. Abdul-Hussain/Baig 2009). Die Kategorien helfen dabei – ähnlich wie die selektive Wahrnehmung –, Komplexität zu reduzieren und die Wahrnehmung der Umwelt und den Alltag zu organisieren. Auch Menschen werden nach sozialen Kategorien und aufgrund von Gruppenzugehörigkeiten wahrgenommen und geordnet: „der Türke“, „die Deutsche“, „der/die Behinderte“, „der Schalke-Fan“, „die BWL-Studentin“ usw.

Denken Sie z. B. an die erste Begegnung mit Mitstudierenden und Dozent_innen: Wie haben Sie Ihre Kommiliton_innen wahrgenommen? Sympathisch, offen, zurückhaltend? Wie wirkt der/die Dozent_in? Kompetent, freundlich, streng?

Da bei einem Erstkontakt noch nicht viel über das Gegenüber bekannt ist, greifen Menschen automatisch auf Informationen über die sozialen Kategorien zurück, denen das Gegenüber angehört bzw. von denen wir annehmen, dass unser Gegenüber ihnen angehört – Gender, Alter, Herkunft, Beruf, Hautfarbe, Aussprache usw. –, und ziehen daraus Rückschlüsse auf die Person.

Vielleicht kennen Sie folgende Zuschreibungen: „Rechtsprofessor_innen sind streng“, „Lehrbeauftragte locker“, „BWL-Studierende karriereorientiert“ und „Studierende aus Baden-Württemberg können kein hochdeutsch“.

Manchmal wird die Bedeutung der (vermeintlichen) Gruppenzugehörigkeit einer Person in den Vordergrund gerückt und die Person als Individuum nicht mehr wahrgenommen. Diese speziellen Schemata (mentale Strukturen), die in Bezug auf Mitglieder bestimmter Gruppen bestehen, werden Stereotype genannt. Das Gegenüber wird subsumiert z. B. unter der Gruppe der Hartz-IV-Empfänger_innen oder der Gruppe der Ausländer_innen oder der Gruppe der Frauen. Den Mitgliedern der...

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