III. Das Berliner Modell
a) Intention des Berliner Modells
Das Berliner Modell ist auch unter den Begriffen Berliner Didaktik, lerntheoretische Didaktik oder Strukturmodell der Didaktik bekannt. Es wurde durch Heimann und seine Assistenten Schulz und Otto 1965 an der Hochschule Berlin entwickelt, als sie zusammen eine Schulpraxisphase für Lehramtsstudenten betreuten. Der Anlass war ein neues Berliner Lehrerbildungsgesetz, welches vorsah, das erziehungs-wissenschaftliche Studium, das Studium in den Unterrichtsfächern sowie die schulpraktische Ausbildung zu einer sinnvollen Einheit zusammenzufassen. Dafür wurde zwischen dem dritten und fünften Semester der Lehrerausbildung ein praktisches Halbjahr, das „Didaktikum“, geschaltet. Es sollte die Verbindung von Theorie und Praxis ermöglichen.[85]
Aus diesem Grund entwickelten sie ein Modell, welches „ursprünglich zur Analyse, später auch zur Planung und Gestaltung des Unterrichts verwendet werden sollte.“[86] Der Anspruch war es, zu einem theoretisch gesteuerten Lehrerverhalten beizutragen. Unter Theorie „verstehen sie dabei ein System widerspruchsfreier Aussagen, das an intersubjektiv verfügbaren Fakten überprüft werden kann. […] [Der] Lehrer [benötigt] eine wissenschaftliche Theorie des Unterrichts […], um seinen Unterricht hinreichend begründen zu können, und dass er seinen Unterricht dazu benutzen müsse, um seine Unterrichtstheorie laufend zu überprüfen. Auf diesem Wege werden Theorie und Praxis einer wechselseitigen Korrektur unterzogen.“[87] Radikal neu war dabei der Weg in der bisher praxisfernen Lehrerausbildung „Theorie und Praxis des pädagogischen Handelns“[88] zusammenzufassen. Theorien sollten also nicht zur späteren praktischen Verwendung vermittelt werden, sondern das „praktische Handeln in Form des ‚Praktikums’ in das Studium der Theorien integriert“[89] werden. Der Lehrer selbst soll zu einem theoretisch gesteuerten Verhalten bei der Analyse, der Planung, der Entscheidung und Durchführung von Unterricht befähigt werden.[90]
b) Konzept des Berliner Modells
Das Berliner Modell war als Instrument zur Reflexion angelegt. Der Lehrer soll es „für das Vor- und Nachdenken über Unterricht, keineswegs als Anleitung zu unterrichten oder gar als Vorschrift, optimalen Unterricht zu entwickeln“[91] nutzen. Das Modell besteht aus zwei Reflexionsstufen, zum einen der Strukturanalyse, zum anderen der Faktorenanalyse. Die erste Stufe soll helfen Grundkategorien für die Erfassung konstanter Situationsmomente zu entwickeln. Die zweite Stufe, welche ebenfalls in Kategorien unterteilt wird, soll helfen, Gründe zu suchen, für die didaktische Entscheidungen getroffen werden müssen.[92]
b.1. Strukturanalyse
Im Berliner Modell wird versucht, der formalen Struktur von Unterricht durch sechs Strukturmomente gerecht zu werden. Zum einen vier Momente, über deren Auswahl der Lehrende entscheidet (Entscheidungsmomente), zum anderen durch zwei Momente, die vorgegeben sind (Voraussetzungs- oder Bedingungsmomente).
Zu den Entscheidungsmomenten werden dabei die Intentionen, Thematik, Methodik und Medien gezählt. Voraussetzungs- oder Bedingungsmomente sind hingegen anthropogene sowie sozial-kulturellen Voraussetzungen.
Die Intentionen fragen nach der Absicht, die dem didaktischen Handeln zugrunde gelegt wird, also warum ein Thema gelehrt wird. Das könnte zum Beispiel die Entwicklung von Erkenntnissen, die Schulung von Fertigkeiten oder auch die Sensibilisierung für bestimmte Thematiken sein.[93] Diese Zielsetzungen können in drei Bereichen angesiedelt sein. Zum ersten die kognitiven Intentionen, wie zum Beispiel die Vermittlung spezieller Kenntnisse. Zum zweiten die affektiven, emotionalen Intentionen, wie zum Beispiel das Erleben partnerschaftlichen Verhaltens. Zum dritten die pragmatischen Intentionen, bei denen es direkt um aktive Ausübung von Fertigkeiten geht, also beispielsweise das Einüben einer bestimmten Tätigkeit.[94]
Die Thematik umfasst die Inhalte des Unterrichts, mit denen die kognitiven, affektiven oder pragmatischen Intentionen verwirklicht werden sollen.[95]
Die Methodik fragt wiederum, mit welchen Mitteln die Intentionen verwirklicht werden sollen. Insgesamt wurden vier methodische Elemente genannt:[96]
1. Methodenkonzeptionen: die Orientierung des Unterrichts an didaktischen Modellen (ganzheitlich-analytische Verfahren, Projektverfahren).
2. Artikulationsschemata: die Gliederung des Verlaufs des Unterrichtsprozesses in viele aufeinander folgende Phasen oder Stufen.
3. Sozialformen des Unterrichts: Verhältnis zwischen dem Lernen von Etwas und dem Lernen mit Anderen.
4. Aktionsformen des Lehrens: Art und Weise, wie der Lehrende agiert.
Medien, als letztes Entscheidungsmoment, sind die Bezeichnung für „alle Unterrichtsmittel […], deren sich Lehrende und Lernende bedienen, um sich über Intentionen, Themen und Verfahren des Unterrichts zu verständigen.“[97]
Die anthropogenen Voraussetzungen „erfassen all jene Bedingungen, die sich aus der ‚Vorgeprägtheit’ der Lernenden und Lehrenden ergeben“[98], zum Beispiel Lehr- und Lernkapazität, Geschlecht, Alter oder Milieu.
Schlussendlich umfassen die sozial-kulturellen Voraussetzungen jene Bedingungen, „die aus Gesellschaft im weiteren Sinne und kulturellen Zeitströmungen in den Unterricht“[99] hineinwirken. Dies können bestimmte Menschenbilder, finanzielle Mittel oder auch das Klassenklima sein.
Um seinen Unterricht aufzubauen muss der Lehrer also vier Entscheidungen treffen (Entscheidungsfelder) und diese mit den Bedingungsmomenten in Einklang bringen. Er hat dabei mit der Strukturanalyse eine Anleitung zur Hand, die ihm hilft, die richtigen Fragen zu stellen. Heimann hat diese Struktur wie folgt dargestellt:
Abbildung 9: Strukturgefüge des Unterrichts nach Heimann, vgl. Peterßen 1991, S. 84
b.2. Faktorenanalyse
Die Strukturanalyse hilft dem Lehrer die richtigen Fragen zu stellen. Was fehlt sind die richtigen Antworten. Die Suche danach wird durch die Faktorenanalyse ein-geleitet. Sie fragt nach den „Bedingungen, die zu der in der ersten didaktischen Reflexionsstufe ermittelten Unterrichtsstruktur geführt haben.“[100] Insgesamt gibt es 3 Kategorien: die Normenkritik, die Faktenbeurteilung sowie die Formenanalyse.
Die anthropogenen und sozial-kulturellen Voraussetzungen enthalten verschiedene Forderungen und Vorschriften, die als gegeben betrachtet werden müssen. Diese können nur noch einer Normenkritik unterzogen werden, indem z.B. das Weltbild in einem Geschichtsbuch mit den zum Zeitpunkt der Untersuchung geltenden Normen verglichen wird.[101]
Die Faktenbeurteilung dient der Zusammentragung der für den Unterricht bedeutsamen Sachaussagen und der Beurteilung der Handlungsmöglichkeiten innerhalb der jeweiligen Situation.[102]
Die Formenanalyse schließlich reflektiert mögliche Unterrichtsmethoden und schätzt ihre Effektivität im Kontext der bestehenden Bedingungen ein.[103]
b.3. Verbindung der zwei Reflexionsstufen
Die Verbindung von Struktur- und Faktorenanalyse kann wie folgt dargestellt werden:
Abbildung 10: Berliner Modell der Didaktik, eigene Darstellung in Anlehnung an Euler 2004, S. 49
Von besonderer Bedeutung ist dabei auch das Verhältnis, in dem die Entscheidungs- und Bedingungsmomente zueinander stehen. Heimann spricht hierbei von Interdependenz. Das bedeutet die „Elementar-Strukturen werden nicht als isoliert nebeneinander stehende ‚Teile’, sondern als ineinander greifende ‚Glieder’ des Gesamtzusammenhangs didaktischer Vorgänge aufgefasst, die ‚sich ständig gegen-seitig modifizieren, fördern und hemmen.’“[104] Man könnte nun von funktionalen Abhängigkeiten ausgehen, diese werden jedoch nicht aufgezeigt. Vielmehr handelt es sich um eine Umgebungssituation unter einem Makroaspekt, bei der Unterricht und Lernender in keine systematische Beziehung zueinander gebracht werden.[105] Es handelt sich somit um...