Wurde das Fähigkeitsselbstkonzept im ersten Kapitel auf einer theoretischen und damit eher abstrakten Ebene einführend behandelt, gilt es nun, dieses Konstrukt auf das Kind im Grundschulalter zu beziehen. Dabei muss der kognitive und emotionale Entwicklungsstand des Grundschulkindes Berücksichtigung finden. Die Entwicklungsphase Grundschulkind wird hier anhand Piagets kognitiver, Freuds psychosexueller sowie Eriksons psychosozialer Entwicklungstheorie behandelt. Alle drei Theorien implizieren die Annahme der Diskontinuierlichkeit von Entwicklung, also eines Wachstums in stufenweisen Entwicklungsschüben (vgl. Berk 2011, 32). Andere wichtige Entwicklungstheorien wie der Behaviorismus, die soziale Lerntheorie oder der Informationsverarbeitungsansatz gehen eher von einer fortlaufenden Entwicklung des Menschen aus (vgl. Bandura 1986, 18ff.; Klahr/MacWhinney 1998, 631ff.; Watson 1976, 40ff.). In neuen Theorien wiederum wird die Ansicht vertreten, dass Entwicklung sowohl kontinuierliche als auch diskontinuierliche Elemente beinhaltet (vgl. Bronfenbrenner/Morris 2006, 297ff.; Vygotskij 2002, 387ff.). Dennoch werden die genannten drei Klassiker der Entwicklungspsychologie hier vorrangig behandelt, da anhand ihrer Differenzierung in Entwicklungsphasen die Bedeutsamkeit des Grundschulalters, in seinem relativ festen Bedingungsgefüge, auch in Abgrenzung zum Vorschulalter und der sich anschließenden Adoleszenz, für das Fähigkeitsselbstkonzept besonders gut herausgearbeitet werden kann. Die Erfassung des Entwicklungstandes von Grundschulkindern in diesem Kapitel wird aufzeigen, dass die in Kapitel Eins genannten kognitiven Mechanismen schon bei Grundschulkindern sehr unterschiedlich ausfallen und das je eigene Fähigkeitsselbstkonzept demnach bereits äußerst sensibel gegenüber hemmenden und fördernden Faktoren ist.
Der Schweizer Entwicklungspsychologe Jean Piaget (1896-1980) setzte sich intensiv mit kindlichen Kognitionen auseinander. Diese erforschte er vor allem anhand der Interaktion des Kindes mit seiner Umwelt, wobei für ihn die Frage, wie sich das Weltbild von Kindern zusammensetzt und entwickelt, von besonderem Interesse war (vgl. Piaget 2004, 9). Auf dieser Grundlage erarbeitete Piaget eine Stufentheorie der geistigen Entwicklung. Er nahm an, dass die geistige Entwicklung des Menschen in einer invarianten hierarchischen Reihenfolge erfolgt (vgl. Piaget 2003, 95). Zwar wurde dieser Ansatz einer universalen diskontinuierlichen Entwicklung der Kognitionen entlang von Stufen im wissenschaftlichen Diskurs kritisiert und auch zu Teilen widerlegt, dennoch soll sich hier auf Piagets Theorie bezogen werden, da er als Vorreiter der kognitiven Entwicklungspsychologie einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der geistigen Entwicklung von Kindern schuf. Er bietet noch heute einen guten Überblick über die Unterschiede der kindlichen Kognitionen zu verschiedenen Zeitpunkten ihrer Entwicklung (vgl. DeLoache/Eisenberg/Siegler 2008, 197f.).
Zu Piagets Grundannahme gehört, dass Menschen Informationen aus der Umwelt adaptieren, also verarbeiten, indem sie sie entweder assimilieren oder akkommodieren. Wird eine Information assimiliert, so wird sie an bereits vorhandene kognitive Schemata angepasst. Hat das Kind das Schema Nahrung entwickelt, kann es zum Beispiel eine Suppe diesem Schema zuordnen. Es hilft dem Kind die Situation einzuordnen und Nahrung als essbar zu identifizieren. Wird dem Kind nun ein sehr hartes Vollkornbrot vorgesetzt, obwohl es sehr weiche Nahrung gewohnt ist, wird sein bisheriges Schema über Nahrung in Teilen unbrauchbar. Daraufhin akkommodiert das Kind, also differenziert das Schema Nahrung in die Schemata Weiche Nahrung und Feste Nahrung. Neue Erfahrungen sind demnach notwendig, um Denkschemata zu erweitern (vgl. Piaget 1981, 41ff.).
Auf Piagets Stufenlehre bezogen, befindet sich der Säugling/das Kleinkind zunächst auf der Sensomotorischen Stufe. Es ist in seinen Kognitionen auf Sinneswahrnehmungen und motorische Systeme beschränkt. Dabei baut es im Laufe der Zeit ein Körperschema auf, durch das bereits eine Differenzierung zwischen der eigenen Person und der Umwelt möglich wird. Als Kleinkind hat es erste Selbstkategorisierungen entwickelt und kann beispielsweise seinen Namen sich selbst zuordnen (vgl. Piaget 2004, 15ff.). Im nächsten Entwicklungsschritt gelangt das Kind in der frühen Kindheit, also circa vom zweiten bis sechsten Lebensjahr, in die präoperationale Phase, eine Vorstufe operationalen Denkens[4]. Das Niveau selbstbezogener Kognitionen entwickelt sich hier weiter. Piaget konnte aber auch Denkfehler, die typisch für diese Entwicklungsstufe sind, aufzeigen. So ist das Weltbild des Vorschulkindes egozentrisch gefärbt, das heißt, es zeigt eine Unfähigkeit, Situationen aus einer anderen Perspektive als der eigenen zu betrachten. Da dem Kind noch kaum soziale Vergleiche möglich sind, zeigt sich seine Selbstwertung in der Regel als unrealistisch positiv, zumal es zwischen erwünschten und realen Kompetenzen noch wenig differenzieren kann (vgl. Piaget 1988, 43f.).
Weiter ist es tendenziell unfähig, die Konstanz von Dingen zu erkennen, wenn diese ihre Form verändern. Beispielsweise geht ein Vorschulkind davon aus, dass Wasser, von einem Glas in eines mit anderer Form geschüttet, sein Volumen verändert. Diesen Irrtum erklärt Piaget unter anderem durch die Zentriertheit im Denken des Kindes. Es konzentriert sich so sehr auf einen Aspekt der Situation, in dem Beispiel auf den Wasserpegel im Glas, dass es dabei andere wichtige Situationsvariablen vernachlässigt. Weiter fällt es ihm schwer, hierarchische Klassifikationen herzustellen, also Objekte in Klassen und Unterklassen einzuteilen und Klasseninklusion zu begreifen. So würde ein Vorschulkind auf die Frage Sind hier mehr Kinder oder mehr Menschen? beispielswiese mit Mehr Kinder antworten, da es die Klassifizierung Kind noch nicht zur Klasse Mensch zuordnen kann (vgl. Berk 2011, 302ff.; Piaget 2004, 105f.).
Dem Grundschulkind wird die konkret-operationale Stufe zugeordnet, wobei es die Fähigkeit zum logischen (operationalen) Denken entwickelt. Die Entwicklungsstufe ist geprägt durch größere Flexibilität und Dezentriertheit, da es dem Kind leichter fällt, sich auf mehrere Aspekte eines Problems zu konzentrieren. Seine Kognitionen werden organisierter und die Fähigkeit zur Reversibilität entwickelt sich. Das Kind kann nun einen Vorgang in Schritte aufteilen und diese wieder bis zur Ausgangssituation zurückverfolgen. Es kommt beispielsweise zu dem Ergebnis, dass sich das Volumen des Wassers (siehe oben) nicht geändert hat, da es zurückverfolgt, dass seit der Ausgangssituation kein Wasseranteil entwendet wurde (vgl. Piaget 2004, 97ff.). Kinder dieser Altersstufe setzen sich oft intensiv mit hierarchischen Klassifizierungen auseinander, indem sie etwa Fußballsticker und Spielzeugarten sammeln (vgl. Berk 2011, 402). Das Kind löst sich aus seinem egozentrischen Weltbild und weitet seine Fähigkeit zur Empathie aus (vgl. Piaget 2004, 122ff.).
Die Kennzeichnung dieser Phase als konkret-operational weist jedoch auch auf eine Eingeschränktheit des operationalen Denkens hin. Das Kind bezieht hierbei seine Informationen aus konkret wahrnehmbaren Situationen und bearbeitet eine Aufgabe Schritt für Schritt. Zur Lösung hypothetischer Aufgaben wie In Glas A ist mehr Wasser als in Glas B und in Glas B mehr als in Glas C. In welchem Glas ist am meisten Wasser? reichen die kognitiven Fähigkeiten derweil noch nicht. Hierfür wäre die Fähigkeit einer gleichzeitigen mentalen Bearbeitung von Informationen von Nöten (vgl. Berk 2011, 403). Gleichwohl haben die neu erworbenen kognitiven Fähigkeiten eine immense Auswirkung auf das kindliche Selbstkonzept.
Indem das Grundschulkind die Konstanz von Objekten begreift, entwickelt es nun auch ein Verständnis für die Konstanz des eigenen Körpers und weiterer personenbezogener Merkmale. Galt ihm vorher beispielsweise die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht noch durch Kleidung, Frisur oder Stimme als veränderbar, erkennt es nun, dass es ein Leben lang einem Geschlecht zugeordnet bleibt (vgl. Kohlberg 1974, 459). Durch die unveränderbare Zuordnung zu einer Kategorie, wie Geschlecht, Aussehen, Religion oder Behinderung, findet eine starke Identifizierung mit diesbezüglichen Aspekten der Persönlichkeit statt. Sie werden zum unverrückbaren Teil des Selbstkonzepts. Diese festlegende Zuordnung zu einer Eigenschaft ist nach Lawrence Kohlberg Voraussetzung für merkmalstypische Einstellungs- und Verhaltensmuster. Sobald das Kind sich stabil einem Merkmal entsprechend kategorisiert, wird es dazu tendieren, jenes positiv zu bewerten, das es mit diesem Selbstkonzept assoziiert. Das Kind versucht sich aspekt-konforme Eigenschaften, Merkmale und Verhaltensweisen anzueignen. Die Wahl der Leistungshandlungen und die Konzeptbildung von Fähigkeiten können hierbei dem Wunsch unterliegen, ein bestimmtes Selbstkonzept auszubilden, beispielsweise typisch weiblich oder typisch männlich zu sein. Ab dem achten Lebensjahr wird die Starrheit dieser Selbstkategorisierung jedoch wieder flexibler (vgl. Kohlberg 1974, 373ff.). Indem das Kind seinen Egozentrismus verliert, wird es empfänglicher für die Sichtweisen...