Vorwort
Ein immerwährendes Streben nach Intelligenz – James G. March
James G. March gehört ohne Zweifel zu den Riesen, auf deren Schultern heutige Organisationstheoretiker und Managementdenker stehen. Wie kaum ein Zweiter hat er die Theorie des Entscheidens geprägt und dadurch nicht nur die heutige Organisationstheorie maßgeblich beeinflusst, sondern auch beständig kreative Anstöße für Management- und Beratungsansätze geliefert. Nicht zufällig gehört James March neben Peter Drucker zu den meistgenannten Inspirationsquellen aktueller Management-Bestsellerautoren.
Der vorliegende Band gibt eine Essenz seines sechs Jahrzehnte währenden Wirkens wieder. Nicht jedoch, wie es erwartbar und auch fruchtbar gewesen wäre, als eingedampftes Konzentrat aller seiner Ideen rund um Entscheiden in Organisationen, sondern reduziert auf eine aktuelle Frage, die womöglich die Überlebensfrage aller Unternehmen ist: Wie können wir intelligente Entscheidungen treffen? – Wie können wir intelligent mit der Ambiguität umgehen, dass Lernen sowohl überlebensnotwendig wie auch riskant ist? Wie können wir aus Erfahrungen lernen, die uns helfen, Entscheidungen zu treffen, und uns zugleich überlebensgefährdend einschränken?
Ein kurzer Streifzug durch James Marchs umfängliches, immerfort rationalitätskritisches Werk zeigt einen Denker, der nie reißerische normative Konzepte propagiert hat und der nie karrierestrategisch einen eigenen Ansatz gegen andere gepusht hat. Er zeigt einen Forscher, der es geschafft hat, mit purer Empirie und scharfsinniger Beobachtung alltäglicher Entscheidungsprozesse dem Denkfundament der klassischen Entscheidungstheorie tiefe Risse zuzufügen. Und gerade mit seiner Weigerung, der Management- und Beraterszene einfache Rezepte zu liefern, ist es ihm gelungen, die vielschichtigen, komplexen organisationalen Phänomene, mit denen Manager wie Berater immerfort zu kämpfen haben, theoretisch wie praktisch »einzufangen«.
In einem Interview, das ich mit James March führen konnte (vgl. March 2001), nutzt er das Bild einer Zwiebel, mit dem er sein Vorgehen – v. a. gemeinsam mit dem späteren Nobelpreisträger Herbert Simon – umschreibt. Wie beim Häuten einer Zwiebel ging es beiden darum, Vorstellungen von Rationalität im Entscheidungsprozess Schicht für Schicht abzutragen: Die klassische Entscheidungstheorie versuchte Planungstools zu entwickeln, um zukünftige Ereignisse vorwegzunehmen; March und Simon verwiesen auf die Unmöglichkeit, über Planungen Sicherheit zu gewinnen. Folgerichtig machten sie auf die Notwendigkeit der Unsicherheitsabsorption aufmerksam und entwarfen ein Konzept, das nicht nur die Basis für Luhmanns Organisationstheorie bildet (vgl. Luhmann 2000), sondern in der heutigen Organisations- und Risikoforschung nicht mehr wegzudenken ist.
Fast alle Entscheidungstheorien Mitte des letzten Jahrhunderts bauten unkritisch auf der Prämisse rationaler Wahl auf; March und Simon sprachen von »bounded rationality«, also einer Rationalität, die – wie sich in den Forschungen herausstellte – aufgrund geringer Aufmerksamkeitsressourcen eng begrenzt ist. Keineswegs suchten die Beteiligten nach optimalen Alternativen, sondern begnügten sich recht bald mit zufriedenstellenden Lösungen. Gängige Theorien gingen davon aus, dass Ziele gesetzt sind, so dass man sich an diesen ausrichten kann; March und Kollegen zeigten jedoch, dass sich Ziele und Präferenzen im Suchprozess veränderten und anpassten, so dass auch der dritte Baustein einer Entscheidungstheorie zu einem Bruchstück mutierte. Die Rationalität, so March ganz im Einklang mit systemtheoretischen Organisationsansätzen, ist hauptsächlich noch als rhetorische Figur zu nutzen.
Alle diese frühen Forschungen sind mitzudenken, wenn sich March in den nachfolgenden Kapiteln auf die Suche nach intelligenten Entscheidungsprozessen begibt. Letztlich handelt dieses Buch von all jenen Ambiguitäten und Lernhindernissen, die erst dann besonders hervorstechen, wenn man den Blick nicht mehr mit Rationalitätsunterstellungen verengt. Angelegt ist dieses Denken schon in zwei Aufsätzen, durch die March weltweit Bekanntheit erlangte: »A Garbage Can Modell of Decision Making« (Cohen, March, Olsen 1972) und »Technology of Foolishness« (March 1976). Beide Texte haben auch Jahrzehnte nach ihrem Erscheinen nichts an Aktualität und Praxisrelevanz verloren.
Im sogenannten Mülleimer-Modell definiert March mit Kollegen eine Organisation als »eine Ansammlung an Entscheidungen, die nach Problemen Ausschau halten; eine Ansammlung von Sachverhalten und Gefühlen, die nach Entscheidungssituationen Ausschau halten, in denen sie zutage treten könnten; eine Ansammlung von Lösungen, die nach Sachverhalten Ausschau halten, zu deren Beantwortung sie dienen könnten; und eine Ansammlung von Entscheidungsträgern, die nach Arbeit Ausschau halten« (Cohen, March u. Olsen 1990, S. 332).
Mit dieser Definition sind vier Variablen benannt, von denen Entscheidungsprozesse abhängen: Lösungen, Probleme, Entscheidungsgelegenheiten und Teilnehmer. Alle vier Variablen sind keineswegs, wie zu erwarten wäre, fest miteinander gekoppelt. Die erwartbare Abfolge: Generierung von Handlungsalternativen, Abwägen der Konsequenzen und Wahl der besten Alternativen erachten die Autoren keineswegs als angemessene Beschreibung, dessen, was passiert. Der argumentative Witz das Garbage-Can-Ansatzes besteht darin, dass die vier Elemente eines Entscheidungsprozesses als lose miteinander gekoppelt angesehen werden. In einer sogenannten »organized anarchy« sind Lösungen vorhanden, die sich passende Probleme suchen und die mehr oder weniger zufällig von irgendwem bei passender Gelegenheit aufgegriffen werden. Was in den Mülleimer reinkommt und was – wenn überhaupt – wieder herauskommt, hängt in weit höherem Maße von den zeitlichen Abfolgen des Einwerfens und Herausnehmens ab als von sachlich begründeten Notwendigkeiten.
Der von March an der Carnegie Mellon School begründete verhaltenswissenschaftliche Ansatz zeigt in Erkenntnissen dieser Art seine besonderen Stärken. Das tagtäglich erfahrbare Chaos in Organisationen mitsamt den Storys und Klatschgeschichten über Entscheidungsprozesse wird in die Forschung integriert und in seiner Funktionalität aufgewertet.
Wie Manager und Berater mit der organisierten Anarchie besser umgehen könnten, zeigt March in dem Aufsatz »Technology of Foolishness«, der als früher Entwurf zum vorliegenden Buch zu sehen ist. March schlägt vor, sich auch an einer spielerischen Kinder-Logik zu orientieren und der allgegenwärtigen Technologie der Vernunft eine Technologie der Torheit an die Seite zu stellen: »Individuen und Organisationen müssen Wege finden, um Dinge zu tun, für die sie keine guten Gründe haben« (March 1990, S. 288).
March kommt in dem Aufsatz zu dem paradox anmutenden Schluss, zur Steigerung der Intelligenz sei es notwendig, mehr Verspieltheit zuzulassen. Da ein allzu striktes Beharren auf Zweck, Konsistenz und Rationalität die Fähigkeit einschränkt, neue Ziele und Zwecke zu (er)finden, neue Märkte zu erobern oder auch innovative Produktionswege zu beschreiten, sind ergänzende, scheinbar törichte Verhaltensweisen unbedingt zuzulassen und zu befördern.
Was March um 1975 noch recht kurz, eher als Denkanstoß für Wissenschaft und Beratung formuliert hat, wird im vorliegenden Band umfänglich ausgearbeitet. March unterscheidet »low intellect learning« und »high intellect learning«, spielt vielfältige Möglichkeiten und Unmöglichkeiten durch, aus Erfahrungen zu lernen, weist auf die notwendige Kombination des Gegensatzpaares »exploitation« und »exploration« hin, spricht sich für eine »utopische Intelligenz« aus, und zeigt auf, warum Ideen nicht nur gut durchdacht, sondern auch nachvollziehbar schön sein sollten. Gerade im Hervorheben der jeweiligen Ambiguitäten zeigt sich die Praxisrelevanz dieses Buchs. Was er mit seinen Ausführungen bezweckt, ist nirgends passender formuliert als in dem folgenden Interviewausschnitt:
»Das Herzstück einer guten Beratung ist die Einsicht, dass kein Berater genug über die Zusammenhänge weiß, um konkrete Ratschläge zu erteilen. Ein guter Berater kann bestimmte Dinge ansprechen. Was er sagt, ist immer irgendwie falsch, es sollte aber mindestens so falsch sein, dass es einen Manager dazu bringt, noch einmal neu darüber nachzudenken, was er eigentlich tut. Wenn er noch einmal neu nachdenkt, findet er schon selbst heraus, was er sinnvollerweise tun kann« (March 2001, S. 32 f.).
Ganz in diesem Sinne sind die vielen Ideen in diesem Buch zu verstehen. Sie liefern ein Reflexionswissen und regen an, auch dort noch Fragen zu stellen, wo Entscheidungs-, Lern- und Innovationsratgeber nur Antworten geben können.
Mit dem bei Robert Merton entlehnten Bild eines »Theorieriesen«, das dieser Einleitung vorangestellt wurde, geht womöglich eine ganz ähnliche Vorstellung von dem Menschen March einher. Wer ihm nun aber gegenübersteht, hat keineswegs einen Riesen vor sich, vielmehr einen kleinen, älteren Herrn mit respektlosem Lachen, wachem Blick und ironischem Humor (vgl. Groth u. Nicolai 2002). Diese drei Attribute zeigen sich auch in diesem Buch. Respektlos nimmt March sich all jene Ansätze zur Brust, die davon ausgehen, dass das Lernen aus Erfahrungen grundsätzlich als positiv zu bewerten sei. Wach verfolgt und kommentiert er neueste Ansätze zum Organisationslernen sowie zur Innovationsforschung und integriert in seine Entscheidungstheorie en passant aktuelle narrative Ansätze. Und mit feiner Ironie hält er all denjenigen, die weiterhin an der Idee rationaler Wahl festhalten wollen, die...