Kapitel 1. Die guten Gründe – Sich in der Pflege orientieren
Zwei Patientinnen haben die Klingel gedrückt. Zu welcher Patientin soll ich zuerst gehen, zu Frau Schreiber oder zu Frau Wilhelm? Im Alltag gibt es immer wieder Situationen, in denen ich mich für eine Alternative entscheiden muss. Meistens sind die Situationen unproblematisch, ja trivial. In der Kantine: Nudeln oder Reis? Fernsehen oder ein Buch lesen? Zuerst zu Frau Schreiber oder zu Frau Wilhelm? Meistens fällt die Entscheidung leicht. Ich weiß, was ich – zumindest im Moment – will, oder ich entscheide mich spontan für das eine oder gegen das andere. Manchmal ist es aber nicht klar, was für mich und in dieser Situation die richtige Entscheidung ist. Dann stehe ich vor der Herausforderung, mich orientieren zu müssen. Sich orientieren bedeutet, den eigenen Standpunkt zu bestimmen, ein Ziel zu finden, Alternativen abzuwägen, Rat einzuholen, Prioritäten zu setzen.
Das pflegerische Handeln braucht – wie jedes Handeln – Orientierung. Orientierung zunächst in dem einfachen Sinn, dass ich mich in einer Situation zurechtfinden muss, um über den weiteren Weg entscheiden zu können. Und wie in jedem Handeln hat auch im pflegerischen Handeln die Orientierung verschiedene Perspektiven. Zunächst und selbstverständlich die fachliche und professionelle Perspektive. Pflege ist in erster Linie keine ethische oder moralische Profession, sondern sie ist bestimmt durch ihre eigenen Regeln der Fachlichkeit. Daneben gibt es eine rechtliche Perspektive, eine der Organisation, der Politik und eine der Gesellschaft – und eben auch eine ethische Perspektive. Die ethische Perspektive gewinnt vor allem in zwei Konstellationen ihre Bedeutung: Zum einen, wenn mir andere Perspektiven in einer konkreten Situation keine Orientierung bieten, zum anderen, wenn die anderen Perspektiven selbst fraglich werden. Es kommen im pflegerischen Alltag immer wieder Situationen vor, in denen ich von fachlichen Standards abweiche, weil für die Patientin – zumindest im Moment – andere Belange von Bedeutung sind. Und es gibt Tätigkeiten, die Pflegekräfte wegen ihrer Überzeugungen nicht übernehmen wollen, obwohl sie etwa rechtlichen oder fachlichen Standards entsprechen. Das am meisten diskutierte Beispiel hierfür ist die Beteiligung an einem Schwangerschaftsabbruch.
Orientierung
Bevor wir die Besonderheiten ethischer Orientierung erörtern, sollen kurz Besonderheiten der Orientierung im Allgemeinen erläutert werden. Denn das Bild der Orientierung liefert eine Reihe von Hinweisen, die für die spätere Entfaltung ethischer Perspektiven hilfreich sind.
Dabei ist erstens auffällig: Die Frage der Orientierung entsteht für mich erst dann, wenn ich mir des Weges nicht mehr sicher bin. Solange ich das Gefühl habe, zu wissen, woher ich komme und wohin ich gehe, suche ich nicht nach Orientierung. Allgemeiner gesagt: Das Bedürfnis nach Orientierung entsteht in einer als krisenhaft erlebten Situation. Krise verstehen wir hier ganz allgemein als eine Situation, in der unterschiedliche Optionen bestehen, wie ich weitergehen kann. Krisen sind Entscheidungssituationen, in denen abhängig von der eigenen Entscheidung der weitere Weg in unterschiedliche Richtungen gehen wird. Krisen setzen – um im Bild zu bleiben – mindestens eine Weggabelung oder eine Kreuzung voraus, von der mehrere Wege abzweigen. Im Normalfall bin ich oder fühle mich zumindest orientiert – und erst, wenn ich eine Entscheidung über den weiteren Weg treffen muss, stehe ich vor der Aufgabe, mich zu orientieren.
Die zweite Beobachtung innerhalb dieses Bildes: Für die Frage, wie ich mich orientieren soll, ist es weniger wichtig, woher ich komme, wichtiger ist, wohin ich will. Orientieren kann ich mich nur, wenn ich ein Ziel habe. Allgemeiner gesagt: Orientierungsfragen setzen Zielbestimmungen voraus. Diese erfordern eine besondere Art von Überlegungen. Und je nach der Antwort, die ich mir gebe, kann es sogar sein, dass ich zurückgehen muss, weil das Ziel in einer anderen Richtung liegt, als die, in die ich bisher gegangen bin. Nun ist deswegen die Herkunft nicht belanglos für die Frage, wie ich mich orientieren soll. Wo ich herkomme, ist insofern wichtig, als ich abschätzen kann, welche Strecke ich bereits zurückgelegt habe – und wie viel in der Folge noch vor mir liegt. Die zurückgelegte Wegstrecke kann mir z. B. Aufschluss über noch benötigte Ressourcen geben. Aber der Blick zurück sagt mir nicht, wie es weitergehen kann. Das Leben wird zwar rückwärts verstanden, aber vorwärts gelebt.
Eine dritte Beobachtung: Die Situation verschärft sich, wenn ich nicht allein, sondern mit anderen unterwegs bin. Jede, die auf einer gemeinsamen Wanderung unterwegs war, kennt Episoden, in denen über den richtigen Weg diskutiert, oft sogar gestritten wurde. Da gibt es die eine, die glaubt zu wissen, wo es langgeht und den anderen, der das ganz anders sieht. Mehrheitsentscheidungen sind dann auch nicht unproblematisch. Es stellt sich vielmehr die Frage, wem oder was man traut: der eigenen Überzeugung, der Autorität von Führungspersönlichkeiten oder der Schwarmintelligenz (wobei es natürlich auch so etwas wie eine Schwarmdummheit gibt). Auch der Blick auf die Wanderkarte verspricht nicht unbedingt eine Klärung, weil verschiedene Interpretationen der Karte miteinander konkurrieren (können).
Damit ist die vierte Beobachtung angesprochen. Um mich orientieren zu können, muss ich meine aktuelle Position kennen. Wenn ich nicht weiß, wo ich bin, ist die Wahl des weiteren Weges beliebig. Diese Position ist mehrfach bestimmt. Natürlich zunächst durch den physischen Ort, aber auch durch die Zeit (Wann wird es dunkel und sollte ich nicht besser nach einem möglichen Quartier oder zumindest einem Unterschlupf Ausschau halten?). Allgemein formuliert: Die Position ist durch ihren Kontext bestimmt – durch verfügbare Ressourcen, durch den Abstand zu anderen Positionen, durch meine Reserven und Vorräte, durch meine Kraft und Zuversicht, mein Ziel erreichen zu können.
Mehrfach angesprochen sind fünftens die Orientierungsmittel. Orientierung hatte ursprünglich die Bedeutung, sich am Sonnenstand auszurichten, nämlich den Osten (Orient) zu bestimmen. Später benutzte man einen Kompass dazu. Damit können heute wahrscheinlich nur noch die wenigsten etwas anfangen. Stattdessen treten Google Maps oder die Karten-App für iOS an die Stelle von Kompass und topografischer Karte. Allerdings helfen auch die nicht weiter, wenn ich kein Netz habe oder die Batterie leer ist – und mitten in der Landschaft gibt es selten Steckdosen für das Ladegerät. Anders gesagt: Es gibt Situationen, in denen die Kenntnis traditioneller Orientierungsmittel hilfreich sein kann. Aber die Handhabung solcher Mittel will erlernt sein. Wenn ich nicht weiß, was man damit wie anfangen kann, helfen mir Karte und Kompass nichts. Ich muss eine Karte lesen und sie mithilfe des Kompasses einnorden können. Das setzt allerdings auch eine gewisse Erfahrung und Vertrautheit mit diesen Orientierungsmitteln voraus. Aber selbst bei den modernen Navigationssystemen ist deren Qualität vom hinterlegten Kartenmaterial abhängig. Ich muss darauf vertrauen können, wenn ich mich von diesen Systemen wirklich orientieren lassen will. Und eines nimmt mir kein Navigationssystem ab: die Eingabe des Ziels.
Und der letzte Punkt: Irgendwann muss ich eine Entscheidung treffen. Und ich werde mich eher unwohl fühlen, wenn ich einfach rate, welchen Weg ich weiter nehmen will. Mir geht es in einer solchen Situation deutlich besser, wenn ich gute Gründe für meine Entscheidung habe. Das trifft wahrscheinlich auch dann zu, wenn sich herausstellen sollte, dass ich mich geirrt habe. Einen Irrtum kann ich mir selber zurechnen; wenn es gut geht, kann ich aus ihm etwas lernen, auf jeden Fall kann ich ihn korrigieren. Das funktioniert mit dem blanken Zufall nicht. Und nur, wenn ich Gründe für eine Entscheidung habe, kann ich selbstbestimmt eine Entscheidung treffen. Ich kann sie mir zu eigen machen. Zufälle bleiben mir immer in einer gewissen Weise fremd und äußerlich. Autonomie ist Selbstbestimmung und nicht reine Willkür, genauer gesagt: Sie ist Selbstbestimmung aus Gründen.
Mit der Angabe von Gründen antworten wir gewöhnlich auf Warum-Fragen. Zum Glück müssen wir solche Fragen nicht dauernd beantworten (es sei denn, wir haben kleine Kinder). Warum-Fragen werden uns gestellt, wenn andere unser Verhalten nicht verstehen. Mit der Antwort auf solche Fragen machen wir unser Handeln anderen gegenüber verständlich. Zuweilen stellen wir uns selbst solche Warum-Fragen; meistens dann, wenn wir uns nicht sicher sind, ob wir richtig gehandelt haben, oder wenn wir über Alternativen zu entscheiden haben. Die Antworten auf diese Fragen haben (neben anderen) eine funktionale und eine evaluative Komponente („Ich bin zuerst zu Frau Schreiber gegangen, weil sie Schmerzen hat.“). Die...