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E-Book

Zwei nach Shanghai

13600 Kilometer mit dem Fahrrad von Deutschland nach China

AutorHansen Hoepner, Paul Hoepner
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783492963374
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Ein Zelt, Isomatten und zwei Fahrräder - mehr brauchen Paul und Hansen nicht, um von Berlin nach Shanghai zu radeln. Es wird die Fahrt ihres Lebens, mit Momenten des größten Glücks, aber auch anscheinend ausweglosen Situationen: An der russischen Grenze entgehen sie ganz knapp ihrer Verhaftung, und das schillernde Nachtleben Moskaus zieht sie in ihren Bann. In Kasachstan fliehen sie vor üblen Raufbolden, und nur die Hilfsbereitschaft der Kirgisen kann das vorzeitige Ende ihrer Reise abwenden. China wartet mit Sandstürmen und unheimlichen Polizeibeamten auf, und in einer Jurte im Himalaja werden sie eingeladen, für immer zu bleiben. Ein mutiges und unvergessliches Abenteuer, bei dem der beste Freund nie von der Seite weicht.

Hansen Hoepner, geboren am 6. April 1982 in Singen am Hohentwiel, hat an der Akademie für Bildende Künste Maastricht Produktdesign, Goldschmiede und Fotografie studiert und sich auf Fahrradkonstruktion und -design spezialisiert. Nach dem Studium arbeitete er bei dem Interiordesigner Maurice Mentjens, und seit 2014 wirkt er an dem Kreativprojekt »KAOS« mit und hat sich dort mit einer Werkstatt für Goldschmiede und Produktdesign selbstständig gemacht.

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Leseprobe

ALGABAS

SASCH / 19. MAI / ALGABAS, KASACHSTAN

PAUL

Da liegen wir nun in einer kleinen Mulde, mitten in der Einöde von Kasachstan, mehr als 3000 Kilometer von zu Hause entfernt, und verstecken uns vor Sasch und seiner betrunkenen Bande, die uns eben auf der Landstraße angehalten und verprügelt haben.

Wir verstecken uns mit allem, was man so braucht, wenn man den tollen und vielleicht auch völlig verrückten Plan umsetzen will, mit dem Rad von Berlin nach Shanghai zu fahren: ein kleines Zelt, Schlafsäcke, Werkzeug und Messer, Kleidung, Kompass und Karte, eine kleine Solaranlage zur Stromversorgung, Kameras, mit denen wir die Fahrt aufzeichnen, und unsere Pässe – nicht viel, aber jeder Fitzel davon ist umso wichtiger.

In unseren übergroßen, blau-weiß gestreiften langärmeligen Shirts sehen wir ein bisschen aus wie ausgebrochene Sträflinge. Die Longsleeves sind aus billigem Stoff, aber mehr hat unser knappes Budget nicht hergegeben. Wir haben sie in einem Supermarkt irgendwo am Straßenrand in Russland gekauft und vorn in die Ärmel Löcher für die Daumen reingeschnitten. So schützen sie uns einigermaßen vor der Sonne und blähen sich im Fahrtwind auf wie kleine Segel, was den Rücken angenehm kühlt. Irgendwann ist uns aufgefallen, dass viele Lkw-Fahrer genau die gleichen Shirts tragen. Wir gehören also inzwischen zum Team der Straße.

Es gab einige Momente während der letzten sechs Wochen, in denen ich mich zurück in mein Bett in der schönen, sonnigen Altbauwohnung in Berlin-Neukölln gewünscht habe, aber das waren nur kleine, sentimentale Schwächeanwandlungen. Jetzt, in diesem Augenblick, zweifle ich zum ersten Mal wirklich. Was für eine haarsträubend dumme Idee! Wie naiv von uns, zu glauben, die ganze Welt wäre zwei voll bepackten Radfahrern freundlich gesonnen.

Ich muss an das Foto von Michael Rockefeller denken, das ich vor drei Jahren im Metropolitan Museum in New York gesehen habe. Da sitzt ein blonder, blasser Jüngling mit Button-down-Hemd, Brille und Kamera zwischen ein paar wild aussehenden Ureinwohnern von Neuguinea. Er verschwand bald darauf und wurde nie wieder gesehen. Vielleicht von einem Krokodil gefressen, vielleicht von den Asmat selbst… Mir wird kotzübel. Klar, Kasachstan ist ein freundliches, einigermaßen zivilisiertes Land. Hier frisst man keine Radfahrer, aber es spricht eigentlich nichts dagegen, sie zumindest auszurauben und ordentlich zu verprügeln, um ihnen ihre romantisch-abendländische Abenteuerlust auszutreiben.

Hinter uns senkt sich langsam die Sonne, und die Straße in einiger Entfernung ist nur noch durch die Buschreihe und die Reflexionen der vereinzelt passierenden Autos zu erkennen. Als der selbst gebaute Ständer meines Fahrrads mit einem leisen Kratzen hinter uns im sandigen Boden versinkt, zucke ich zusammen. Mir schlägt das Herz bis zum Hals.

»Hansen«, zische ich meinem Zwillingsbruder zu, der neben mir kauert und seinen Kopf zwischen den verschränkten Armen versteckt.

Hansen murmelt irgendetwas.

»Hansen, was machen wir bloß?«

Wäre das Ganze ein Horrorfilm und ich ein Zuschauer im Kino, würde ich dem Darsteller zurufen wollen: »Lauf weg, renn! Du bist in Gefahr!« Aber ich bin nicht im Kino, sondern hocke stocksteif vor Angst irgendwo in einem fremden Land. Ich höre Hansen leise fluchen und vermute, dass er sich gerade ähnliche Gedanken macht. Die Mulde, in der wir liegen, ist das einzige Versteck weit und breit, also wohin sollten wir fliehen? In das weite Grasland der Steppe? Auf dem sandigen Boden können wir mit den Rädern nicht fahren, schon gar nicht mit dem vielen Gepäck. Wenn wir sie jetzt zurücklassen, um wegzulaufen, müssen wir aufgeben, denke ich, und als ob er meinen Gedanken gelesen hätte, sagt Hansen: »Paul, die finden uns hier nicht. Sie sind stärker, aber wir sind klüger. Und schneller. Wenn es hart auf hart kommt, rennen wir weg, lassen die ganze Ausrüstung zurück und scheißen drauf. Bevor die mich kriegen, laufe ich lieber zu Fuß nach Shanghai!«

Der Tag hatte wie viele andere davor begonnen. Es war unser 43. Reisetag und wir brachen morgens auf, um unsere durchschnittlich etwa 120 Kilometer hinter uns zu bringen, Essen zu kaufen, einen Nachtplatz zu suchen, völlig erschöpft einzuschlafen und am nächsten Morgen wieder aufzubrechen. Und so weiter.

Wir hatten den ganzen Tag über starken Gegenwind und mussten gegen acht Uhr abends in ein kleines Dorf namens Algabas, etwa fünf Kilometer abseits unserer Route, fahren, um Wasser zu besorgen. Am Ortseingang wurden wir von einer Traube Kinder empfangen, die uns freudig bis zum örtlichen Lädchen begleitete.

Während Hansen einkaufte, wartete ich bei den Rädern. Die Kinder spielten neugierig aber vorsichtig an den Taschen, meinem Telefon und den Kameras herum. Ein paar durften auf meinen Schoß und ein Foto mit der frontal montierten Kamera von sich auf dem Rad machen. Als Hansen wenig später mit Wasser bepackt wieder auftauchte und wir uns auf den Weg machten, rannten die Kinder noch neben uns her, bis wir den Ortsausgang erreicht hatten.

Seitdem wir am 12. Mai über die Grenze nach Kasachstan gefahren waren, sind wir in dieses Land verliebt. »Kazachstan normal?«, fragt mich Hansen manchmal, wenn ich verträumt in die weite Landschaft schaue, und ich antworte jedes Mal mit »Da!«, was soviel heißt wie »Ja!«. Was genau »Kazachstan normal« heißt, wissen wir gar nicht, aber wahrscheinlich etwas wie: »Gefällt dir Kasachstan?« oder »Kasachstan gut?« Denn wir hören diese Frage, egal wo wir auftauchen, und bekommen immer feste Schulterklopfer und ein breites, zustimmendes Lachen geschenkt, wenn wir mit »Da!« antworten.

In Russland waren die Menschen uns gegenüber weitaus argwöhnischer, hier in Kasachstan werden wir ständig angehalten, weil man sich mit uns fotografieren lassen will. Als Belohnung bietet man uns Bananen, Zigaretten und sogar Geld an. In den Geschäften gibt man uns oft einen Discount oder ein kleines Geschenk mit auf den Weg – Mückenspray, Süßigkeiten oder Würste. »Kasachstan rocks«, sagt Hansen immer wieder mit aufgesetzt cooler Miene und streckt dabei eine Mano Cornuta zum Himmel. Genau, Kasachstan rocks – zumindest bis zu diesem Moment am Ortsausgang von Algabas.

Wir haben gerade erneut richtig Fahrt aufgenommen, da werden wir von einem silbernen Ford Galaxy überholt, abgedrängt und zum Anhalten gezwungen.

Zuerst denken wir, es wäre einer dieser »Fototermine«, wie Hansen und ich die manchmal geradezu aufdringlichen Bitten nach einem Bild mit uns nennen. Aber schnell stellt sich heraus, dass die Insassen alle sturzbesoffen sind. Sasch, wie sie den Allerbetrunkensten nennen, und die anderen zwei haben kein Interesse an Fotos. Der dicke Sasch baut sich vor uns auf: »Warum sprecht ihr kein Russisch?«, schreit er und kommt dabei mit seinem faulig stinkenden Mund immer näher an mein Gesicht. Aus seinem Mund schäumt es. Er streckt mir seine massige Brust in einem verdreckten, verschwitzten weißen T-Shirt entgegen und scharrt mehrfach auffordernd mit seinen ausgetretenen Flipflops im sandigen Straßenbelag. Weil wir kaum etwas von dem verstehen, was er sagt, wird er nur noch wütender.

Sein Handlanger ist ein schmächtiger Typ mit kurzen schwarzen Haaren und einem fleckig gewachsenen, dünnen Bärtchen. Den dritten können wir nur schemenhaft erkennen, er ist hinter den getönten Scheiben des Vans sitzen geblieben, wahrscheinlich um uns schnell folgen zu können, sollten wir doch versuchen abzuhauen.

Wir stehen da, die Räder zwischen die Beine geklemmt, und haben keinerlei Möglichkeit auszuweichen. Abspringen und wegrennen geht nicht. Klar wäre das vernünftiger, aber was passiert dann mit den Rädern? Wahrscheinlich würde der Typ in dem Van sofort aus Spaß drüberrollen. Und selbst wenn wir abhauen würden – wohin sollten wir? Verstecken kann man sich in dieser kargen Einöde nirgends. Sasch versucht, uns von den Rädern zu zerren, aber irgendwie schaffen wir es standzuhalten. Stück für Stück nimmt er unsere Ausrüstung auseinander, schaut mich mit gefletschten Stumpen und verbissenem Blick an, während er versucht, unsere bis drei Meter sturzfeste Outdoor-Kamera mit der bloßen Hand zu zerdrücken. Ein lächerlicher Versuch, und der Misserfolg macht ihn nur noch rasender. Er ist blind vor Wut, brüllt uns in einem fort an.

Zuerst schlägt Sasch Hansen in den Magen, sodass der sich vor Schmerzen über seinem Lenker krümmt, dann bin ich dran. Ich spanne meine Bauchmuskeln an und versuche, Abstand zu halten, aber Saschs feiger Handlanger steht hinter mir und hält mein Rad fest. Immer wieder ruft er mir hysterisch zu: »Fahr doch, na fahr doch, du Schwächling«, nur um uns, sobald wir einen Tritt getan haben, an den Gepäckträgern festzuhalten und gackernd aufzulachen. Sasch beginnt, wie ein Wilder die an unsere Räder montierten Kameras abzureißen und auf den Boden zu schmeißen. Danach zieht er mein iPhone aus der Halterung und steckt es sich feixend in die Hose, um mir gleich darauf erneut ordentlich eine zu klatschen.

Diesmal hat er mich nicht richtig hart getroffen, trotzdem beuge ich mich in simuliertem Schmerz hinunter und ziehe dem ekelhaften Ungeheuer mein Handy wieder aus der aufgesetzten Seitentasche seiner Cargohose. Er merkt...

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