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E-Book

Indikation psychoanalytischer Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen

Diagnostisch-therapeutisches Vorgehen und Fallbeispiele

AutorBarbara Steck, Dieter Bürgin
VerlagKlett-Cotta
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl368 Seiten
ISBN9783608105926
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis42,99 EUR
Eine sorgfältige Indikationsstellung wird von vielen Therapeuten eher als »lästig« empfunden, sie wird häufig auf die Schnelle gemacht und im späteren Verlauf der Therapie wenig reflektiert. Die Autoren zeigen, welche diagnostischen Schritte in Form einer Grob- und Feinuntersuchung durchgeführt werden können und wie in einem weiteren Schritt die Vielzahl der erhobenen Befunde so zu integrieren ist, dass eine gesicherte Indikationsstellung erfolgen kann. Das geschilderte Vorgehen sorgt für Transparenz und veranschaulicht, dass eine Indikationsstellung für eine psychoanalytische Psychotherapie eine komplexe Arbeit darstellt und dass keine Beliebigkeit herrschen darf. Und: Gute Indikation spart Geld! Dieses Buch richtet sich an: - PsychoanalytikerInnen - Eklektisch arbeitende Therapeuten - Psychoanalytisch orientierte Sozialarbeiter und Heimpersonal

Dieter Bürgin, Prof. em. Dr. med., emeritierter Ordinarius der Universität Basel und langjähriger Chefarzt der kinder- und jugendpsychiatrischen Universitätsklinik und Poliklinik Basel. Ausbildungsanalytiker der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse (SGPsa/IPA). Er arbeitet in eigener psychoanalytischer Praxis.

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Leseprobe

KAPITEL 1
 
Einführung


1.1 Anmerkungen zum Evaluationsprozess


Die Literatur zur Indikation einer Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen ist dürftig. Anna Freud (1967) betont, dass die Kindheit ein Prozess sui generis sei, nämlich eine Reihe von Entwicklungszuständen, in welchen jedes psychische Symptom seine Wichtigkeit hat, und zwar als Übergangsphänomen und nicht als Endresultat. Es ist essentiell, dass die Fähigkeit eines Kindes, sich zu entwickeln, nicht blockiert wird, bevor der Reifeprozess zum Abschluss gekommen ist. Die Indikation für eine Psychotherapie wird weitgehend von den blockierten seelischen Reifungsprozessen eines Kindes diktiert. Die Evaluation einer psychischen Störung verschiebt sich also von rein klinisch-symptomatischen auf entwicklungspsychologische Aspekte.

Die erfassbaren Informationen eines diagnostisch-therapeutischen Prozesses stammen aus verschiedenen Quellen und bedürfen einer abschließenden Koordination und Integration. Viele anamnestische Daten und Symptombeschreibungen werden von den Eltern oder ihren Substituts-Personen beigetragen. Die Interviews und andere Interaktionen mit den Kindern/Jugendlichen sind zentrale Quellen für das Verständnis. Aber auch verschiedenste komplementäre Untersuchungen wie testpsychologische Untersuchungen (in Form von projektiven Tests oder Fragebögen, als Erfassung psychomotorischer oder sprachlicher Fähigkeiten) und die Ergebnisse der körperlichen Untersuchung (inkl. gegebenenfalls einer neurologischen Abklärung, bildgebender Verfahren oder der Chromosomenuntersuchung und der Aminosäurenserologie) sowie die Überprüfung der gesamten Sensorik gehören – sorgfältig ausgewählt – dazu.

Die Integration verschiedenster, durch unterschiedliche Personen erhobener Befunde zu einem ganzheitlichen diagnostischen Bild gleicht einer komplizierten Patchwork-Arbeit. Sie entspricht der Herausarbeitung von Spezifika, die – obwohl sehr verschieden voneinander – einander nicht widersprechen, sondern kontextabhängige Facetten ein und desselben Geschehens darstellen (Kraemer et al.,2003). Das in sich selbst scheinbar Widersprüchliche enthält – bei disziplinierter Aufarbeitung – eine Information besonderer Art über den Patienten.

Die diagnostische Untersuchung umfasst nicht nur die Klärung, aus welchen Motiven um eine Konsultation nachgesucht wurde, sondern auch eine detaillierte Beschreibung der Symptome: z. B. seit wann bestehen sie, unter welchen Bedingungen/Kontexten haben sie sich alleine oder zusammen mit anderen Symptomen entwickelt, in welcher Intensität und Häufigkeit traten sie auf, wie werden sie verstanden, welche Auswirkungen auf die Entwicklung haben sie gehabt und in welche Lebenszusammenhänge (auch der Eltern/Großeltern) lassen sie sich stellen? Eine solche Beschreibung der Symptome erfolgt am besten aufgrund spontaner Mitteilungen der Eltern und der Kinder/Jugendlichen, mittels entsprechendem Nachfragen und durch die Beobachtung der Emotionen und der Interaktionen zwischen den Familienmitgliedern selbst und der Kommunikationsart innerhalb der Dialoge, Triloge oder Polyloge mit den untersuchenden Personen. Seit es innerhalb des psychoanalytischen Denkens offensichtlich geworden ist, dass nicht nur die Sprache einen Zugang zu vor- und unbewussten Dynamiken erlaubt, sondern auch die Beobachtung von Interaktionen und Verhalten, lässt sich das psychoanalytische Verfahren auch bereits bei Säuglingen/Kleinkindern und ihren Hauptbetreuungspersonen anwenden, allerdings zumeist immer noch in einem Drei-Personen-Setting. Denn erst, wenn sich ein Kind mühelos für ca. 30 Minuten von der Hauptbetreuungsperson trennen kann, hat eine Arbeit in einem dyadischen Setting einen Sinn.

Die Unterscheidung in »diagnostisch« und »therapeutisch« ist aus formalen und didaktischen Gründen wesentlich, obwohl beide Vorgehensweisen tief miteinander verschränkt sind. Unseren Erachtens sollte aber jegliche Diagnostik stets auch einen therapeutischen Teil in sich tragen und in jedem therapeutischen Prozess auch die diagnostische Frage aktuell bleiben.

Die Interventionen der untersuchenden Personen im Bereich der Psychodynamik und des analytischen Vorgehens werden somit auf die Frage zentriert sein, ob und wie die Patienten einen solchen Input nutzen können, wie weit ihr Ich damit funktionsfähiger wird und ob es dem Selbst damit vermehrt gelingt, die diagnostisch-therapeutische Beziehung im Dienste einer freieren Entwicklung zu nutzen.

Das Spiel als Ort und Tätigkeit, mit der sich ein Stück Innenwelt in der Außenwelt zu erkennen gibt, die von Winnicott beschriebene Squiggle-Technik, die einen gemeinsamen virtuellen Spielraum zu eröffnen versucht, und auch Verfahren des analytischen Psychodramas (Steck, 1998, 1999) erleichtern die Informationsgewinnung. Nie verfügt die untersuchende Person über einen mit der Situation bei der Erwachsenenexploration vergleichbaren, aufgrund des Settings gegebenen Schutz. Sie ist viel stärker in das Beziehungs-Geschehen einbezogen, bedarf einer diesbezüglich vertieften Übung und einer verstärkten, disziplinierten Reflexion, um nicht mit den eigenen Struktur- und Konflikt-Anteilen auf den Patienten und/oder seine Familie einzuwirken.

Bei der Einschätzung der psychopathologischen Wertigkeit von geschilderten Schwierigkeiten spielen deren unbewusster symbolischer Gehalt und die damit verbundenen Entwicklungsbeeinträchtigungen eine maßgebliche Rolle:

  • Handelt es sich vor allem um interaktive Konflikte oder mehr um internalisierte, aber in den Interaktionen zum Ausdruck gelangende Probleme? Denn vorwiegend interaktionale Konflikte sollten mehr durch die Arbeit mit den Eltern oder der ganzen Familie als nur durch ein individuelles psychoanalytisches Verfahren mit dem Kind behandelt werden.
  • Geht es um eine insgesamt dysharmonische Entwicklung, bei der – unabhängig von den bestehenden Konflikten – verschiedenste psychische Funktionen unterschiedlich weit und differenziert ausgebildet sind, oder eher um eine harmonische? Dies ist deshalb wichtig zu wissen, weil man bei der psychischen Arbeit gegebenenfalls nur auf kümmerlich vorhandenen Funktionen aufbauen kann.
  • Sind die erfassbaren Regressionen anhaltend oder vorübergehender Natur, stehen sie im Dienste des Ich oder sind gerade sie der Ausdruck des Dysfunktionalen? Die zu leistende Arbeit ist für beide Protagonisten sehr unterschiedlich, je nachdem, ob zuerst der Weg aus einer Regression hinausgefunden werden muss, bevor an irgendeinem Konflikt gearbeitet werden kann, oder ob die vorhandene Regression gerade eine Folge eines Konflikts oder von zentralen Problemen ist.

Um nicht in einer Aufzählung von Symptomen stecken zu bleiben, sollten verschiedene Parameter in einen psychoanalytischen Konzeptualisierungs-Kontext gebracht und dort als der gegenwärtige Stand des Verständnisses festgehalten werden. So lässt sich bilanzierend zum Beispiel fragen:

Haben bestehende Ängste einen überschwemmenden und damit das Individuum in Not bringenden Charakter, oder können sie wie Wegweiser zu den problematischen Bereichen genutzt werden? Mit welcher Frustrationstoleranz kann gerechnet werden? Welches Sublimationspotential besteht? Wie differenziert sind die Steuerungsfunktionen für emotionale Abläufe und Triebbegehren ausgestaltet? Bestehen nachweisbare Neigungen zu Progression und hat die Neugierde im Sinne eines Interesses für unerklärliche innere Abläufe freie Bahn? Wie sehr vermag ein Patient Geschehnisse im eigenen Körper und Anteile seines Verhaltens als Ausdruck problematischer Strukturen internalisierter Beziehungen in seiner Innenwelt zu sehen? Verwischen sich die Grenzen zwischen Innenwelt und äußerer, mit anderen geteilter Realität, oder sind diese übermäßig starr? Stehen Fantasien, die auftauchen, im Dienste einer intrapsychischen omnipotenten Wunscherfüllung oder entsprechen sie innerspychischen Entwürfen beim Versuch, Konflikte anders zu lösen? Können automatisiert und unbewusst ablaufende Abwehrvorgänge zu einem gemeinsamen Thema gemacht werden? Zu welchen Verzichtleistungen ist ein Individuum innerhalb und zugunsten einer aufkeimenden Beziehung bereit? Steht die erfassbare Flexibilität der Besetzungen im Dienste der Vermeidung oder kann sie auch als eine Unterstützung beim gemeinsamen Entwickeln neuer Bedeutungsstrukturen verstanden und gebraucht werden? Welche Balance zwischen aktiven und passiven Strebungen stellt sich spontan ein, und wie weit verändert sie sich im entstehenden diagnostisch-therapeutischen Prozess? Welche Qualität hat die vorwiegende Beziehungsform?

Der Einschätzung eines möglichen Arbeitsbündnisses sowohl mit den Eltern als auch insbesondere mit dem Kind bzw. Jugendlichen kommt eine besondere Bedeutung zu. Das heißt, das gesamte Verfahren sollte so ausgerichtet sein, dass schon in der Diagnostik für die Eltern und die betreffenden Kinder/Jugendlichen aus eigener, unmittelbarer Erfahrung spürbar wird, was »analytische Arbeit« heißen würde. Damit wird das Kind bzw. der Jugendliche1 zu jemandem, der mithilft, diesen Ablauf zu gestalten (Ko-Kreation). Das Arbeitsbündnis wäre somit eine mehr oder weniger implizite Vereinbarung, gemeinsam mit den funktionalen Teilen des Patienten an den dysfunktionaleren, d. h. beeinträchtigenden Strukturen der Innenwelt seiner Person, die sich in den übertragungshaften Gestaltungen der analytisch-psychotherapeutischen Beziehung abzuzeichnen beginnen, verändernd zu arbeiten.

1Im nachfolgenden Text wird aus Vereinfachungs- und Lesbarkeitsgründen meistens die männliche Form verwendet. Mit der männlichen Bezeichnung ist aber immer auch die weibliche...

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