Per Anhalter nach Amerika
26. MAI, TAG 21, LISSABON, PORTUGAL, KONTOSTAND: € 688,34
Hansen
Es quietscht, brummt, saust, rauscht, tuckert, heult und hupt. Ich habe die Autobahn im Rücken, die Einflugschneise haarscharf überm Scheitel und die Landebahn direkt vor meinen Augen, links und rechts Ab- und Auffahrt einer Schnellstraße, die ins Zentrum von Lissabon führt.
Niemals hätte ich gedacht, dass ich so selig an einem so unruhigen Ort schlafen kann. Aber zusammen erzeugen all diese grässlichen Geräusche einen wohligen Einheitsbrei, der vom Gehirn nach kurzer Zeit einfach ausgeblendet wird. Was übrig bleibt ist: Stille. Absolute Stille.
Vielleicht bin ich auch einfach schon verrückt geworden, was nicht ganz auszuschließen ist, wenn man bedenkt, dass mein Zwillingsbruder Paul und ich gerade in einem auf einer Verkehrsinsel am Lissabonner Flughafen aufgestellten Zelt aufgewacht sind und gleich herauskriechen werden, um bereits den zweiten Tag in Folge das Unmögliche zu versuchen: nach Kanada zu trampen – mit dem Flugzeug, versteht sich.
Nachdem bisher keiner der hier vorbeifahrenden Piloten uns einen Klappsitz in seiner Maschine angeboten hat, hatte Paul gestern die glorreiche Idee, es zusätzlich zum ausgestreckten Daumen und Pappschild mit einer E-Mail zu versuchen:
Verehrter Präsident der SATA-Fluggesellschaft,
Ich schreibe Ihnen, um Sie höflichst um Unterstützung für ein einzigartiges und höchst ungewöhnliches Projekt zu bitten: Mein Zwillingsbruder und ich wagen ein Experiment. Wie schon Phileas Fogg aus dem Buch »In 80 Tagen um die Welt« von Jules Verne versuchen wir in ebendieser Zeit den Erdball zu umrunden. Im Unterschied zu Phileas Fogg, der 20 000 Pfund für sein Vorhaben hatte, haben wir unser Zuhause in Berlin ohne einen einzigen Pfennig in der Tasche verlassen. Bisher haben wir es per Anhalter bis nach Lissabon geschafft, und nun möchten wir auf dem Luftweg unser Glück versuchen und vom Airport Lissabon in die USA oder nach Kanada trampen. Wäre Ihr Unternehmen daran interessiert, unser Projekt zu unterstützen? Sie können mich jederzeit unter meiner Handynummer erreichen.
Herzliche Grüße
Paul Hoepner
»Und, hat er dich schon angerufen?«, witzele ich, während mein Bruder mich aus seinem vom Schlaf zerknautschten Gesicht durch zwei schmale Schlitze anschaut, dann die Äuglein aufreißt und wie wild unter dem Schlafsack nach seinem Handy kramt. Der hat noch nicht mal die Ironie in meiner Stimme bemerkt. Wahrscheinlich hat uns die Sonne schon das Hirn verbrannt, und trotzdem: Heimlich hoffe auch ich, dass uns SATA über Nacht eine E-Mail mit zwei Tickets im Anhang zugeschickt hat. First Class natürlich.
»Nichts«, sagt Paul, nachdem er auch den Spam-Ordner gecheckt hat. Ich seufze. Also kein Wunder. Kein Wunder bedeutet, dort weitermachen, wo wir gestern aufgehört haben. Zelt wieder abbauen, Daumen raus, Schild raus, hoffen und lächeln. Entweder darauf, dass uns einfach jemand in seinem Privatjet mitnimmt, ein Ticket spendiert oder sonst irgendwie weiterhilft. Zum Beispiel, indem er oder sie uns eins unserer selbst gemachten Schmuckstücke abkauft und auf diese Weise unsere Flugkasse füllt.
Heute ist Tag 21 unserer Reise, und wir sind schon ganze 13 im Verzug. Wir sind immer noch in Europa und wollen schon in 60 Tagen wieder zurück sein – allerdings nachdem wir zumindest Kanada, Japan, China, Myanmar, Indien, Kasachstan, Russland und Polen bereist haben. Ohne Reisekasse wohlgemerkt. Nur mit dem Geld, das wir etwa mit Hilfsarbeiten, dem Verkauf von selbst gemachten Schmuckstücken oder Zaubertricks zusammensammeln können. Das macht meistens Spaß, kann aber auch frustrierend sein, vor allem, wenn man meint festzustecken. Andererseits – kaum hat man das Gefühl, es ginge nicht weiter, passiert doch immer irgendetwas … Ich denke an Lotti, den verrückten Dänen, der uns in seiner Lissabonner Dachgeschosswohnung aufgenommen hat, oder den französischen Straßenkünstler Elie, der uns in den letzten Tagen immer wieder wie ein rettender Engel beim Verkauf half oder uns Essen oder ein Bier vorbeibrachte. Man nimmt die Welt völlig anders wahr, wenn man auf die Hilfe fremder Menschen angewiesen ist, lernt Länder, die man als zahlungskräftiger Tourist bereist hat, aus einer ganz anderen Perspektive kennen. Bequem ist das nicht, aber aufregend.
Mir knurrt der Magen. »Paul, einer von uns muss zum Supermarkt, wir haben nichts mehr.«
»Ich check hier gerade Flugpreise, geh du!«, murrt Paul.
Das war ja klar, dass der keine Lust hat. Wir sind eineiige Zwillinge, seit knapp zwei Monaten 33 Jahre alt, sehen uns immer noch zum Verwechseln ähnlich, aber es gibt auch Unterschiede: Paul ist heute Morgen noch muffeliger als ich. Wir zanken eine Weile, dann fummle ich mit der einen Hand einen 20-Euro-Schein aus unserer Kasse, mit der anderen das Klamottenhäuflein vom Fuß der Isomatte und krieche aus dem Zelt. Es ist noch nicht mal halb acht, aber die Sonne schon hellwach. Ich schnuppere an Socken und T-Shirt. Erstere sind ekelhaft – egal, Zweiteres geht noch in Ordnung. Also Badeshorts und Schuhe an und los in Richtung Stadt, wo ich den Supermarkt gesehen habe.
Auf halbem Wege schaue ich noch mal auf mein Handy-Navi und stelle fest, dass ich den Abzweig Richtung Supermarkt verpasst habe und viel zu weit gelaufen bin. Entnervt drehe ich um und kürze meinen Weg ab, indem ich diagonal durch ein kleines Waldstück auf den richtigen Weg zurückkehre.
Von hier ist es nicht mehr weit. Das letzte Stück schlendere ich gemütlich am Straßenrand entlang, den Blick fest auf den Boden geheftet, immer auf der Suche nach verwertbaren Dingen, einem interessanten Stück Metall oder Plastik, die ich in Gedanken zu Produkten verbastele, die wir später verkaufen könnten. Das ist mir schon in Fleisch und Blut übergegangen: Der Sachensucherblick und im Supermarkt das Scannen der günstigsten Preise. Kein Cent darf verschwendet werden. Als ich ankomme, muss ich jedoch feststellen, dass die Preise ziemlich gepfeffert sind, es ist ein Biomarkt. Aber die anderen machen erst um zehn Uhr auf, so lange kann ich nicht warten.
Eine Menschenschlange zieht sich quer durch den Laden bis zur Kasse. Die Kassiererin lässt sich davon nicht aus der in Portugal allgegenwärtigen Ruhe bringen, jeder Kunde wird in einen netten Plausch verwickelt. Mir knurrt der Magen.
Als ich endlich an der Reihe bin, kann ich den Geldschein nicht finden. Panisch fahre ich mit der flachen Hand in alle Taschen, sogar in den stinkenden Socken suche ich (im sogenannten Disko-Portemonnaie). Die Menschenschlange wirft helfend suchende Blicke um sich, und ich laufe die Gänge ab, vergeblich.
Habe ich sie überhaupt eingesteckt? Ich rufe Paul an, der wütend wird, weil er sich angeblich genau erinnert, wie ich mit dem Zwanziger in der Hand weggelaufen bin. »20 Euro, Hansen!«, brüllt er mich aus dem Telefon an. »Weißt du, was das bedeutet?«
»Was denkst du denn? Meinst du nicht, ich würde einfach meine EC-Karte zücken, wenn ich nicht wüsste, was das bedeutet? Und kannst du jetzt bitte mal einen konstruktiven Vorschlag machen und mir entgegenkommen, damit ich nicht alles zweimal laufen muss?«
Meine Stimme überschlägt sich. Die Leute im Supermarkt müssen denken, ich sei nicht ganz dicht. Paul hängt einfach auf. Ich ärgere mich über ihn, aber vor allem über mich selbst. Wie konnte ich nur so fahrlässig sein? Ich renne, immer den Boden nach einem blauen Schein absuchend, den gesamten Weg – inklusive des Umwegs – zurück zum Zelt, schnappe mir wortlos erneut 20 Euro und laufe wieder zurück in Richtung Supermarkt.
Mit jedem Schritt lässt mein Ärger nach. Nachdem ich, schneller als gedacht, angekommen bin, stelle ich zu meiner Überraschung fest, dass ich gerade sechs Kilometer gerannt sein muss. So mancher Passant hat mich in meiner Badehose und mit den Laufschuhen und dem bösem Blick vielleicht für einen rekordsüchtigen Läufer gehalten. Diese Extrapower habe ich nicht nur Hunger und Wut, sondern auch der Tatsache zu verdanken, dass ich ausnahmsweise ohne den 30 Kilo schweren selbst gebauten Wanderanhänger unterwegs bin, den ich seit mittlerweile 21 Tagen hinter mir her ziehe.
Die Kassiererin überreicht mir die Tüte, die sie für mich aufbewahrt hat, und ich mache mich mit besänftigtem Gemüt auf den Rückweg. Es ist inzwischen fast halb zehn. Das Thermometer, an dem ich jetzt schon zum vierten Mal vorbeilaufe, zeigt 28 Grad an, es wird ein heißer Tag werden.
Paul und ich frühstücken wortkarg, danach wechseln wir uns halbstündlich ab mit Daumenraushalten. Vor uns stehen, dekorativ positioniert, unsere zwei selbst gebauten Gepäckrollkoffer mit der Aufschrift In 80 days around the world. Ich weiß, ich weiß, es müsste heißen: Around the world in 80 days, aber dafür war es schon zu spät. Und irgendwie passt das Denglish auch ganz gut zu zwei deutschen Landstreichern, oder?
Wir werden von einem Taxifahrer angehupt, der uns schon gestern hier hat stehen sehen. Er schreit: »Guten Morgen, Jungs, bleibt ihr noch ein bisschen? Morgen früh kann ich euch Kaffee mitbringen!«
Wir lachen. »Hoffentlich sind wir dann weg. Wünsch uns Glück!«
Schon der zweite Tag am Flughafen, schon der zehnte Tag in Lissabon. So haben wir uns das nicht vorgestellt. In unserer 80-Tage-Planung sollten wir schon längst in Kanada und so gut wie auf dem Weg nach Japan sein. Niederschmetternd. Ich beobachte, wie an Pauls Rücken ein Schweißrinnsal auf seinem...