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Everest
Wenn die Welt plötzlich eine andere ist
Der höchste Berg der Erde übt auf viele Menschen eine große Anziehungskraft aus. Auch ich konnte mich, nachdem ich zu Beginn des neuen Jahrtausends die Herausforderungen des Höhenbergsteigens für mich entdeckt hatte, seiner Faszination nicht entziehen. 2011 kam ich bei meinem ersten Versuch auf der Nordseite bis rund hundert Meter unter den Gipfel, kehrte dann aber um, weil ich meine Füße nicht mehr spürte und keine Erfrierungen riskieren wollte. Ein Jahr später erreichte ich, gemeinsam mit meinem nepalesischen Kletterpartner Tenji, auf der Normalroute von Süden den höchsten Punkt. Zwar stieg ich ohne zusätzlichen Sauerstoff auf, dennoch fragten sich damals wohl manche, was der Ueli Steck auf einer breit getrampelten Aufstiegspiste an einem überlaufenen Modeberg suche.
Die Antwort war einfach. Am Mount Everest gab es eine ganze Reihe von attraktiven Routen und möglichen Projekten. Bevor ich daran denken konnte, einen technisch schwierigen Aufstieg zu versuchen, wollte ich wissen, was mich dort oben erwartete und wie leistungsfähig mein Körper in der extremen Höhe von 8848 Metern noch sein würde. Die Besteigung 2012 verlief ohne Probleme, meine Akklimatisierung funktionierte bestens. Das machte mir Mut, für die darauffolgende Saison eine anspruchsvollere Route zu planen. Es musste ja nicht gleich das sogenannte Hufeisen sein, die Traverse von Nuptse über Lhotse zum Everest, die schon seit Jahrzehnten als Vision durch die Himalaja-Literatur geistert. Schon die Überschreitung von Everest und Lhotse war ein bisher ungelöstes Problem. Zusammen mit meinem britischen Freund Jonathan Griffith – Jon lebt schon seit einigen Jahren in Chamonix – und dem Italiener Simone Moro, der vor allem für seine Wintererstbesteigungen von Achttausendern bekannt ist, nahm ich mir für das Frühjahr 2013 dieses Ziel vor.
Ende März flogen Jon und ich nach Kathmandu. Begleitet wurden wir von Peter Fanconi und dessen Freund Juan, die mit uns ins Basislager des Everest trekken und dann wieder zurückreisen würden. Simone war bereits in Nepal und dort als Helikopterpilot unterwegs, ihn würden wir auf dem Anmarsch treffen. Wie fast immer mussten wir am Flugplatz der nepalesischen Hauptstadt auf unseren Anschlussflug nach Lukla warten. In der Regel kann nur während weniger Stunden am frühen Morgen geflogen werden; behindern Wolken oder Nebel die Sicht, wird der Flugbetrieb eingestellt. Sobald klar ist, dass das Wetter schön genug ist, um zu starten, bricht jedes Mal große Hektik aus.
In Lukla dann ganz ähnliche Bilder. Bei guten Flugbedingungen landet eine Twin Otter nach der anderen. Die meisten Fluggesellschaften fliegen mit diesen kleinen Maschinen, denn die Landepiste ist gerade mal 527 Meter lang. Meist setzen die Flugzeuge etwas unsanft auf, dann müssen sie sofort stark bremsen, denn die Mauer am Ende der bergauf führenden Piste kommt sehr schnell näher. Auf der gegenüberliegenden Seite bricht die Lande- respektive Startbahn 600 Meter tief zum Fluss Dudh Kosi ab. Nachdem die Maschinen kurz hintereinander angekommen sind, beginnt ein chaotisches Treiben. Jeder will so schnell wie möglich sein Gepäck, es wird wild diskutiert. Wenn man nicht aufpasst, kann es passieren, dass es Verwechslungen gibt und die Träger mit dem falschen Gepäck loslaufen.
Nach mittlerweile doch einigen Reisen in den Himalaja ließ ich mich von alldem nicht mehr irritieren. Ich freute mich auf den Anmarsch durch das Khumbu-Tal. Seit meinem ersten Besuch im Jahr 2001 war ich immer wieder hierher zurückgekehrt. Die Region hat es mir irgendwie angetan: Man wandert entspannt von Lodge zu Lodge und kann die grandiose Landschaft genießen. Aus den kargen Talböden steigen schneebedeckte, imposante Berge in die Höhe. Die Wege sind gut ausgebaut. Natürlich ist man auf ihnen längst nicht mehr allein unterwegs. Wir hatten eine etwas ruhigere Zeit erwischt; die Hauptsaison für Trekkingreisen ist der Herbst, dann besuchen Tausende von Bergsteigern und Wanderern das Tal. Zumindest war das bis zu den verheerenden Erdbeben vom Frühjahr 2015 so – seither ist der Tourismus in Nepal stark eingebrochen.
Die erste Etappe führte uns von Lukla nach Namche Bazar. Das Dorf in 3440 Meter Höhe gilt als Eingangstor zum eigentlichen Himalaja: Ab hier bewegten wir uns bereits zwischen hohen Gipfeln. Um keine Kopfschmerzen zu riskieren, weil wir noch nicht akklimatisiert waren, stiegen wir von hier nicht direkt ins 1600 Meter höher liegende Basislager auf. Wir ließen uns Zeit und liefen am nächsten Tag nur bis Pangboche. Am Morgen darauf besuchten wir das kleine Kloster und nahmen an einer Puja teil, einer buddhistischen Zeremonie, mit der in Nepal vor jeder Expedition die Götter gnädig gestimmt werden. Jon ging es nicht besonders gut, er hatte das Essen nicht vertragen, und sein Magen hatte rebelliert. Die Nacht hatte er mehr auf der Toilette als im Bett verbracht. Doch er trug es mit Humor. Im Himalaja gehört das einfach zum Spiel.
Nach dem Klosterbesuch wanderten wir weiter nach Dingboche. Dort, auf 4500 Metern, wollten wir zwei Nächte bleiben. Weiter talaufwärts ging es in Richtung Everest, ein anderer Weg führte ins Chukung Valley. Dieses Tal wird vom 5845 Meter hohen Pass Amphu Laptsa La abgeschlossen, der den Übergang ins benachbarte Makalu-Tal ermöglicht. Ich nützte den Ruhetag zum Lauftraining und folgte dem Tal nach Chukung und bis auf den Chukung Ri, einen 5546 Meter hohen Aussichtspunkt.
Nach diesem sehr schönen Auftakt setzten wir am zweiten Morgen unseren Anmarsch nach Lobuche fort, wo wir auf Simone trafen. Nun war unser Team komplett. Stetig näherten wir uns dem Everest-Basislager, das wir am 11. April erreichten. Die Bezeichnung »Lager« ist inzwischen eine Untertreibung, eigentlich handelt es sich um eine kleine Stadt auf 5300 Meter Höhe. Jahr für Jahr bauen die Veranstalter ihre Zelte auf der Moräne des Gletschers auf. Yaks und Träger bringen tonnenweise Material herauf. In der Klettersaison leben bis zu 1500 Personen hier – Bergsteiger, Sherpas, Küchen- und Begleitpersonal.
Vor mir lag eine spannende Zeit. Ich war voller Vorfreude und konnte mich kaum zurückhalten, gleich loszurennen. Schon am Tag nach unserer Ankunft absolvierte ich meinen nächsten Lauf, hinauf ins Lager 1. Es liegt auf 6100 Metern im Tal des Schweigens, oberhalb des Khumbu-Eisfalls. Der Gletscherbruch ist in hohe Eistürme und tiefe Spalten zerrissen. Jedes Jahr aufs Neue suchen darauf spezialisierte Sherpas, die »Icefall Doctors«, einen gangbaren Weg durch das Spaltenlabyrinth und präparieren ihn mit Fixseilen und Leitern. Es ist eine riskante Arbeit, die immer wieder Opfer fordert. Nicht nur Sherpas, auch Bergsteiger kamen schon durch zusammenbrechende Séracs zu Schaden oder ums Leben. Zu trauriger Berühmtheit brachte es der Eisfall, als im April 2014 eine Lawine sechzehn Sherpas tötete, die mit Versicherungsarbeiten beschäftigt waren.
Um die Arbeit der »Icefall Doctors« zu finanzieren, bezahlt jede Expedition eine zusätzliche Begehungsgebühr, die nicht in der Besteigungsbewilligung eingeschlossen ist. Ich war begeistert davon, durch den bereits fertig eingerichteten Eisfall zu joggen. Für diesen Zweck hatte ich mir ein Paar Laufschuhe mit Spikes zugelegt. Sie bewährten sich sehr, mit ihnen lief es sich viel angenehmer als in schweren Bergschuhen. Die 800 Höhenmeter hinauf ins Lager 1 fielen mir relativ leicht.
Nach zwei Tagen im Basislager verabschiedeten wir uns von Juan und Peter, die den Rückweg nach Lukla antraten. Für Jon, Simone und mich hingegen begann der Ernst der Expedition: die weitere Akklimatisierung. Am 14. April stiegen wir ins Lager 2 auf und gleich wieder ab. Zwei Tage später brachten Simone und ich erneut Material ins Lager 2 und blieben oben, um dieses Mal zu übernachten. Das Wetter zeigte sich stabil, wir kamen gut vorwärts. Wir beide waren vorerst die einzigen westlichen Bergsteiger im Lager, die Sherpas waren noch dabei, alles aufzubauen. Sie luden uns zum Abendessen in ihr Zelt ein. Es gab Dal Bhat, das klassische nepalesische Reisgericht mit Linsen – ein fürstliches Essen auf 6500 Metern! Wieder war ich beeindruckt von der ganzen Infrastruktur, die bis in große Höhen transportiert wurde. Schon das Sherpazelt, in dem wir saßen, empfand ich als luxuriös, aber das war noch kein Vergleich zu den Essenszelten, die für die Teilnehmer kommerzieller Expeditionen eingerichtet wurden. Diese waren noch einmal eine Stufe komfortabler.
Während die Sherpas am nächsten Morgen weiterarbeiteten und Zelt für Zelt aufbauten, starteten Simone und ich eine erste Rekognoszierungstour Richtung Westschulter des Everest, um uns die Verhältnisse anzuschauen. Unser Plan sah vor, von Lager 2 auf die Westschulter zu steigen, danach durch das Hornbeincouloir auf der Nordseite den Gipfel des Everest zu erreichen, von dort in den Südsattel ab- und weiter auf den Lhotse zu steigen – eine Überschreitung des höchsten und des vierthöchsten Berges der Erde. Im Jahr zuvor, als ich auf der Everest-Südseite gewesen war, hatten zwei amerikanische Teams die Hornbeinroute versucht. Sie hatten fleißig Fixseile verlegt, waren aber nach einem Monat nicht einmal bis zur Westschulter gekommen. Ich war sehr gespannt, was uns erwarten würde.
Als wir losgingen, war es bereits recht warm. Schon bald begann das Gelände, felsig zu werden. Die Kletterei war unschwierig, aber der Fels nicht überall fest; wir mussten aufpassen, dass wir keine Steine lostraten. Wir kletterten seilfrei und kamen dadurch rasch voran. Dafür, dass wir uns noch nicht lange in der Höhe...