Kapitel 10
Nach Ablauf dieses Monats wurden meine Dienste bei Tanner nicht mehr benötigt und man schickte mich wieder durch das Bayou zurück zu meinem Herrn, der mit dem Bau der Baumwollpresse beschäftigt war. Diese wurde an einem entlegeneren Platz, in einiger Entfernung vom „großen Haus“, gebaut. Ich begann, wieder in Gesellschaft von Tibeats zu arbeiten und war die meiste Zeit mit ihm allein. Ich erinnerte mich an Chapins Worte - seine Warnungen, sein Rat vorsichtig zu sein, und dass mich Tibeats in einem unaufmerksamen Moment erwischen könnte. Sie waren ständig in meinem Kopf, so dass ich die meiste Zeit in einem ruhelosen Zustand zwischen Besorgnis und Furcht war. Ein Auge hatte ich auf meiner Arbeit, das andere auf meinem Herrn. Ich war entschlossen, ihm keinen weiteren Grund für einen Übergriff zu liefern, wenn möglich noch genauer und fleißiger zu arbeiten als zuvor, jede Misshandlung mit Ausnahme von körperlicher Gewalt demütig und geduldig über mich ergehen zu lassen und hoffte, sein Verhalten mir gegenüber damit nachgiebiger zu machen bis zu dem gelobten Tag, an dem ich seinen Fängen für immer entrissen wurde.
Am dritten Tag nach meiner Rückkehr verließ Chapin die Plantage in Richtung Cheneyville und wurde erst gegen Abend zurückerwartet. Tibeats hatte an diesem Morgen einen der für ihn typischen und immer wiederkehrenden Anfälle von Missmut und Übellaunigkeit. Diese machten ihn noch ungemütlicher und giftiger, als er es eh schon war.
Es war gegen neun Uhr und ich war mit dem Hobel an einem der Kamine beschäftigt. Tibeats stand an der Werkbank und montierte einen Handgriff an den Meißel, mit dem er das Gewinde für eine Schraube schneiden wollte.
„Du machst das nicht eben genug“, sagte er.
„Es ist genau eben mit dem Rest“, erwiderte ich.
„Du bist ein gottverdammter Lügner“, rief er wütend aus.
„Gut, Master“, sagte ich sanftmütig, „ich werde es noch weiter ebnen, wenn sie das sagen“, und begann gleichzeitig das zu tun, was er forderte. Bevor auch nur ein Span gehobelt war, schrie er schon wieder; dieses Mal behauptete er, ich hätte zu tief gehobelt und den Kamin komplett verhunzt. Darauf folgten Flüche und Verwünschungen. Ich hatte versucht, genau das zu tun, was er wollte, aber diesen unvernünftigen Menschen konnte einfach nichts zufriedenstellen. Schweigend und erstarrt vor Furcht stand ich am Kamin, den Hobel in der Hand und wusste nicht, was ich tun sollte – wollte aber auch nicht untätig rumstehen. Seine Raserei wurde wilder und wilder bis er schließlich einen so furchteinflößenden Fluch ließ, wie ihn nur Tibeats ausstoßen konnte. Er nahm ein Beil von der Werkbank, schoss auf mich zu und schwor, dass er mir den Kopf aufschneiden würde.
Es ging nun um Leben und Tod. Die scharfe, breite Klinge des Beils blinkte in der Sonne. Im nächsten Moment würde sie in mein Gehirn gegraben sein – und doch dachte ich in diesem Moment angestrengt nach; in einer Notlage wie dieser schießen die Gedanken nur so durch den Kopf: bleibe ich stehen ist mein Schicksal unvermeidlich; fliehe ich, wirft er die Axt und sie trifft mich mit tödlicher Sicherheit im Rücken. Es gab nur einen Ausweg. Ich sprang ihm mit aller Kraft entgegen und traf auf halbem Weg auf ihn. Bevor er seinen Schlag ausführen konnte, hatte ich ihn mit einer Faust an seinem erhobenen Arm, mit der anderen an der Kehle. So standen wir und schauten uns in die Augen. Ich sah Mordlust in seinen. Ich fühlte mich, als hätte ich eine Schlange am Hals, die sich bei der kleinsten Lockerung meines Griffs um meinen Körper winden und mich erdrücken und zu Tode stechen würde. Ich überlegte, laut zu schreien im Vertrauen, dass mich jemand hören würde – aber Chapin war weg, die Sklaven auf dem Feld und keine Menschenseele in Hörweite.
Der gute Geist, der mich in meinem bisherigen Leben vor Gewalt bewahrt hatte, sandte mir in diesem Moment eine glückliche Eingebung. Mit einem plötzlichen, energischen Tritt, der ihn keuchend auf die Knie zwang, lockerte ich meinen Griff an seiner Kehle, schnappte das Beil und warf es außer Reichweite.
Rasend vor Wut und nicht mehr Herr seiner Sinne, griff er einen gut über einen Meter langen und im Durchmesser gerade noch greifbaren Stock aus Eichenholz, der am Boden lag. Wieder schnellte er auf mich zu und ich hielt ihn auf, umklammerte seine Hüfte und brachte ihn zu Boden. Ich war der Stärkere von uns beiden. In dieser Position konnte ich den Stab ergreifen und diesen ebenfalls von uns wegwerfen.
Auch er war aufgestanden und rannte zur Werkbank, um die breite Axt zu holen. Glücklicherweise lag auf der Klinge der Axt ein schwerer Holzbalken und er konnte sie nicht herausziehen, bevor ich auf seinem Rücken gelandet war. Ich drückte Tibeats mit aller Kraft auf den Balken und machte damit die Axt noch unerreichbarer. Es gelang mir aber nicht, seine Hände vom Griff der Axt zu lösen. In dieser Position verharrten wir einige Minuten.
Es gab in meinem Leben viele Augenblicke, in denen die Erwartung des Todes als das Ende irdischer Leiden oder das Grab als letzte Ruhestätte für den müden und ausgemergelten Körper etwas durchaus Erfreuliches an sich hatten. Aber solche Gedanken entschwinden in der Stunde tödlicher Gefahr. Kein Mensch, sei er noch so stark, steht unverzagt dem „König der Schrecken“ gegenüber. Das Leben ist jedem Geschöpf wertvoll; selbst der Wurm, der am Boden kriecht, kämpft darum. Und in diesem Moment war es auch wertvoll für mich, versklavt und misshandelt oder nicht.
Da ich seine Hand nicht öffnen konnte, griff ich ihn wieder an der Kehle; dieses Mal aber war meine Umklammerung wie ein Schraubstock und ließ seinen Griff bald erlahmen. Seine Körperspannung ließ schnell nach und er wurde zunehmend benommener. Sein Gesicht, das vorher weiß vor Wut gewesen war, war mittlerweile blau vor Atemnot. Die kleinen Schlangenaugen, die so viel Gift spucken konnten, waren nun angsterfüllt – zwei große, weiße Kugeln, die mich aus ihren Höhlen anstarrten!
In meinem Herzen lauerte ein Teufel, der mir sagte, ich solle diesen menschlichen Bluthund auf der Stelle töten – den Griff an seiner verfluchten Kehle solange halten, bis der letzte Atemzug getan war! Ich wagte nicht, ihn zu töten und ich wagte nicht, ihn am Leben zu lassen. Wenn ich ihn tötete, würde mein eigenes Leben dafür die Buße sein – ließ ich ihn am Leben, würde mein Leben nur seinen Rachedurst stillen. Eine Stimme flüsterte mir zu, zu fliehen. Ein Wanderer in den Sümpfen zu sein, ein Flüchtling und Vagabund auf dem Gesicht der Erde, war dem Leben vorzuziehen, das ich sonst führen würde.
Mein Entschluss war schnell gefasst. Ich schleuderte ihn von der Werkbank zu Boden, sprang über einen nahe stehenden Zaun und eilte an den Sklaven auf den Baumwollfeldern vorbei durch die Plantage. Nach rund 500 Metern, für die ich nur wenig Zeit benötigte, hatte ich den Hutewald erreicht. Dort stieg ich auf einen hohen Zaun und konnte die Baumwollpresse, das „große Haus“ und die dazwischen liegende Fläche sehen.
Es war eine auffällige Position, von der aus ich die gesamte Plantage überblicken konnte. Ich sah, wie Tibeats das Feld in Richtung Haus überquerte und hinein ging – dann kam er mit seinem Sattel wieder heraus, bestieg sein Pferd und war im nächsten Moment davon galoppiert.
Ich war untröstlich, aber dankbar. Dankbar dafür, dass mein Leben verschont geblieben war; untröstlich und entmutigt ob der Aussichten, die vor mir lagen. Was würde aus mir werden? Wer würde mir behilflich sein? Wohin sollte ich fliehen? Oh Gott! Du, der du mir Leben gabst und in meiner Brust die Liebe für das Leben verankert hast, der mein Herz mit den gleichen Gefühlen wie andere Menschen, deine Geschöpfe, gefüllt hast, lass mich nicht allein. Hab Mitleid mit dem armen Sklaven – lass mich nicht dahinscheiden. Wenn du mich nicht beschützest, bin ich verloren – verloren! Solche stillen und unausgesprochenen Bittgesuche sandte mein tiefstes Herz gen Himmel. Aber da war keine antwortende Stimme – kein süßer, tiefer Klang, der von ganz weit oben meiner Seele zuflüstert: „Ich bin es, hab keine Angst.“ Ich war von Gott verlassen worden, so schien es – der am meisten Verachtete und Gehasste unter allen Menschen!
Nach etwa fünfundvierzig Minuten schrien einige der Sklaven und gaben mir Zeichen, zu rennen. In diesem Moment sah ich Tibeats und zwei andere Reiter in schneller Gangart das Bayou heraufkommen. Hinter ihnen rannten schätzungsweise acht oder zehn Hunde. Obwohl ich weit weg war, erkannte ich sie. Sie gehörten zur benachbarten Plantage. Die Hunde, die am Bayou Boeuf zur Sklavenjagd benutzt wurden, waren Bluthunde, aber eine sehr viel bissigere Rasse als in den Nordstaaten. Sie griffen auf Geheiß ihres Herrn einen Neger an und verbissen sich in ihn, wie eine Bulldogge sich in einen Vierbeiner verbeißt. Man konnte oft ihr lautes Bellen in den Sümpfen hören. Dann wurde...