Einleitung
Cicero und sein Lebensplan
In der großen literarischen Hinterlassenschaft der Antike steht der Name Ciceros, der im letzten Jahrhundert der römischen Republik gelebt hat (106–43 v. Chr.), geradezu einzig da. Man hat es oft schon ausgesprochen: Kein anderer Mensch bis vielleicht ins 16. Jahrhundert ist uns so gut bekannt wie er. Aus seinen etwa fünfzig erhaltenen Reden – schon dem Umfang nach ein unvergleichbares Corpus – kennen wir ihn nicht nur als brillanten Prozessanwalt, sondern auch als oft maßgeblichen Politiker, der etwa in seinem Consulat einen bedrohlichen Putschplan aufgedeckt und am Ende seines Lebens, wenn auch unabsichtlich, dem späteren Kaiser Augustus den Weg zur Macht gebahnt hat. Aus seinen Schriften zur Rhetorik sehen wir, wie er, mehr als jeder bekannte Redner, auch theoretisch mit den Problemen von Sprache und Menschenführung gerungen hat. Die umfangreichen philosophischen Werke, mit denen überhaupt eine diskursive Literatur in lateinischer Sprache beginnt, zeigen seine lebenslange, tiefdringende Beschäftigung mit den griechischen Denkern. Dazu kam einmal seine Selbstdarstellung in poetischen Werken, die nun allerdings fast ganz verloren sind. Aber auch jetzt noch bestaunen wir das schlechtweg einzigartige Porträt, das er uns in seinen fast achthundert Briefen hinterlassen hat: Viele davon sind Teil seines politischen Wirkens, aber mehr als die Hälfte geht an Verwandte und Freunde, besonders an seinen Intimfreund Atticus – und gerade diese Briefe geben uns einen oft schonungslos genauen Einblick in Ciceros Denken und Fühlen.
Ciceros Vielgestaltigkeit
Auch wenn wir ganz absehen von den zahlreichen sonstigen Zeugnissen über Cicero, den etwa hundert an ihn adressierten Briefen z.T. prominentester Zeitgenossen und den ausführlichen Nachrichten bei späteren Historikern wie Sallust, Plutarch, Sueton, Appian und Dio Cassius, sind allein Ciceros eigene Werke von einer für den Einzelnen kaum zu überblickenden Größe und Vielgestaltigkeit. Und so tut man niemandem Unrecht, wenn man feststellt, dass er bis heute seinen adäquaten Biographen bzw. Monographen noch nicht gefunden hat. Einen sprechenden Beleg dafür gibt der 1939 erschienene Artikel «M. Tullius Cicero» aus der gewaltigen Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Anders als bei anderen Größen des Altertums war es hier nicht möglich, einen einzelnen kompetenten Bearbeiter zu finden. Man parzellierte also Cicero in 1. den «Politiker», der von einem prominenten Althistoriker gewürdigt wurde; 2. die «Rhetorischen Schriften», pflichtgemäß bearbeitet von einem der Bandherausgeber, einem Polyhistor, 3. die «Philosophischen Schriften», deren sich ein Spezialist für hellenistische Philosophie annahm, und schließlich 4. die «Briefe», die man nebst «Fragmenten» einem jungen, ehrgeizigen Latinisten anvertraute. Und dabei hatte man noch das Beste und Berühmteste glatt vergessen: die Reden! Sie waren vom Historiker im Rahmen der Politik nur gerade so mitbehandelt worden.
Kann uns dieser vielgestaltige Cicero mehr sein als die Summe seiner so diversen Handlungen und Werke? Worin eigentlich liegt der Hauptmotor seiner wahrhaft rastlosen Tätigkeit? Er selbst bekennt, dass ihn von klein auf der Satz des homerischen Achill geleitet habe: «Immer der erste zu sein und vorzustreben vor andern». Das erklärt aber noch nicht die Richtung dieses «Vorstrebens». War er ein Intellektueller, der sich auf Grund fehlgeleiteten Ehrgeizes in die Politik verirrt hatte? So hat man oft gedacht. Oder umgekehrt ein Vollblutpolitiker, der nur dann, wenn seine Aktivität gelähmt war, auf theoretische Schriftstellerei auswich? Auch so hat man ihn schon dargestellt. Oder war er gar, wie sein leidenschaftlichster Verächter, Theodor Mommsen, dekretierte, «so durchaus Pfuscher, daß es ziemlich einerlei war, welchen Acker er pflügte»?
Die Einheit des Platonikers Cicero
Es lohnt sich, meine ich, um den Kern von Ciceros Wirken zu verstehen, bei ihm selbst anzufragen. Da gibt er uns, was das Verhältnis von Politik, Rhetorik und Philosophie angeht, schon sehr früh eine klare Antwort, die für sein ganzes Leben Gültigkeit gehabt zu haben scheint. Um es kurz zu sagen: Cicero verstand sich vor allem als Philosoph, für den aber die politische Tätigkeit ein notwendiger Aspekt dieser Philosophie und die Rhetorik ein ebenso notwendiges Werkzeug war. Wir können es noch kürzer formulieren: Vor allem sah er sich als ein politischer Platoniker.
Lesen wir den Text, den der knapp Fünfundzwanzigjährige zur Einleitung eines Rhetoriklehrbuchs, De inventione, seines ersten Werks (s.S. 18), verfasst hat. Hier stellt er sich ein schönes Schulaufsatzthema: Hat die Redekunst, eloquentia, den Menschen eigentlich mehr Nutzen oder Schaden gebracht? Und er gibt eine Antwort, die ziemlich banal scheint: nämlich dass die eloquentia, wenn mit Weisheit (sapientia) verbunden, nützlich sei, ohne diese dagegen Schaden bringe.
Aber dann liefert Cicero zur Illustration eine Art Kulturgeschichte der Rhetorik, die, soweit wir sehen, neu und aufregend ist. Sie beginnt mit einem Urzustand der Menschheit, wo alle Menschen noch in tierischer Rohheit lebten: Da galt das Recht des Stärkeren; es gab weder Familien noch Städte … – Dann aber muss es einen weisen Mann gegeben haben, sagt Cicero, der die Menschen dazu brachte, Ehen zu schließen, Städte zu gründen, kurzum sich zu zivilisieren. Freilich, bloße Weisheit hätte dieses Werk der Gesittung nicht erreichen können, wenn sie nicht mit der Redekunst, der Fähigkeit zu überreden und zu überzeugen, verbunden gewesen wäre.
Und so treten wir nun ein in eine glückliche Epoche der Menschheit, wo an der Spitze der Städte weise Männer standen, die ihre Untertanen zu deren Nutzen mit eloquentia regierten. Natürlich kümmerten sich diese großen Staatsmänner und Redner nicht um kleinere Rechtshändel. Dafür gab es andere, bescheidenere Geister, Advokaten, die ausschließlich mit Rhetorik befasst waren, ohne zugleich auch nach Weisheit zu streben. Da nun aber diese Advokaten vor Gericht oft siegreich waren, wurden sie übermütig, überschätzten sich, und schließlich gelang es ihnen, mit Hilfe ihrer Redekunst an die politische Macht zu kommen und die bisher regierenden Weisen zu verdrängen.
Diese zogen sich nun, halb schmollend, halb zufrieden, aus der turbulenten Politik ins Privatleben zurück und widmeten sich den Wissenschaften. Welch ein Fehler! Gerade sie hätten sich doch um die Politik kümmern müssen, um diese nicht den windigen Advokaten zu überlassen! War also alles verdorben? Nicht ganz. Zum Glück gab es, so Cicero, in neuerer Zeit wenigstens einige Römer, die diesen Fehler vermieden und höchste Tugend mit Redekunst verbunden haben: Cato, Scipio und andere. Diesen Vorbildern müsse man folgen. Und gerade weil die Redekunst von vielen Schlechten missbraucht werde, sich umso mehr um sie bemühen.
Wie kommt Cicero auf diese eigenartige Geschichte der Rhetorik, und woran denkt er konkret? Bei näherem Zusehen bemerkt man schnell, dass die erzählte Geschichte so nur auf die Griechen passt, wenigstens einigermaßen. Bei diesen gab es sagenhafte Gesetzgeber der Urzeit, wie Minos auf Kreta, Lykurg in Sparta, Theseus in Athen. Auch die weisen Herrscher, die dort gefolgt sein sollen, lassen sich identifizieren: Im Auge haben dürfte Cicero vor allem die berühmten «Sieben Weisen» (im 7.–6. Jh.), die fast alle regierende Politiker waren. Bei den Winkeladvokaten, die sich schließlich zur Macht aufschwingen, denkt Cicero dann wohl vor allem an die sizilianischen Rhetoriker Korax und Teisias (5. Jh. v. Chr.) sowie an die sogenannten attischen Redner des 5. und 4. Jahrhunderts: Letztere waren alle von Hause aus Gerichtsredner, die von dort in die Politik kamen.
Und die Weisen, die sich aus der Politik zu Privatstudien zurückziehen? Ihr Prototyp muss natürlich Sokrates sein. Er, der nach Ciceros Meinung Vater fast aller späteren Philosophenschulen ist, war ja nie im engeren Sinn politisch tätig. Und aus Platons Dialog Gorgias ergab sich auch klar, warum er die damalige Politik ablehnte: Die Rhetorik der beliebten Politiker war für ihn eine schiere «Schmeichelei» (kolakeia), nur auf das Wohlgefallen, nicht das wahre Wohl der Menschen berechnet. Ebendieses Wort übersetzt Cicero, wenn er die falsche, ohne Weisheit agierende Redekunst als eine Art commoditas («Gefälligkeit») bezeichnet.
Platon galt in der Antike, mit einem gewissen Recht, als prominentester Feind der Rhetorik, eben wegen seines Gorgias. So hat man in der Forschung nie gesehen, wie viel Platonisches trotzdem in Ciceros Mahnung zur Rhetorik steckt. Dies gilt vor allem für den Zielgedanken der ganzen Darlegung. Wenn nämlich Cicero fordert, dass die Menschen, die mit höherer Einsicht begabt sind, die Redekunst studieren, um dadurch zum Nutzen aller zu herrschen, dann ist dies doch kaum etwas anderes als der Kerngedanke von Platons Hauptwerk, dem «Staat» (Politeia), wo es heißt: Dann erst würden «die Staaten, ja wohl gar das Menschengeschlecht...