Einleitung
/d/ ieser Band handelt von einer Epoche, die fast das Ende Europas hätte bedeuten können. Direkt nach dem Zweiten Weltkrieg war der Kontinent in weiten Teilen ein Trümmerhaufen. Viele Stadtzentren, Wohnviertel, Eisenbahnen, Straßen und Brücken waren zerstört. Rund 50 Millionen Menschen waren im Krieg umgekommen, darunter viele Zivilisten. Die zahllosen Kriegsgeschädigten, Invaliden, Vergewaltigten, psychisch Ausgebrannten sind nie gezählt worden. Europa war drei Jahrzehnte vorher, am Vorabend des Ersten Weltkriegs, noch das glanzvolle politische, wirtschaftliche und kulturelle Zentrum der Welt gewesen. Nun hatte es nicht einmal mehr die Macht, die grundlegenden Entscheidungen über sich selbst zu treffen. Sie fielen jetzt in Washington und Moskau.
In dem halben Jahrhundert danach nahm Europa jedoch eine ganz erstaunliche Entwicklung: Es gewann eine Friedensstabilität zurück, wie sie jahrzehntelang nicht mehr bestanden hatte, und trat in eine Periode außergewöhnlichen Wohlstands ein. Zumindest in seinem westlichen Teil begann eine Zeit der stabilen Demokratie, wie sie selbst diese Region nie hatte genießen können. In ganz Europa setzte eine Epoche der intensiven Staatstätigkeit ein. Das westliche Europa sah die Entstehung des modernen Wohlfahrtsstaates, der modernen Stadtplanung, des modernen Bildungs- und Gesundheitssektors, das östliche Europa erfuhr eine von oben durchgeführte Industrialisierung, Alphabetisierung und soziale Sicherung, allerdings erzwungen durch brutale Diktaturen. Der Wiederaufstieg Europas, aber gleichzeitig auch seine tiefe Spaltung zwischen Demokratien und Diktaturen sind das zentrale Thema dieses Bandes.
Die Zeit vor 1914, in der der Kontinent die Welt beherrscht hatte, kehrte allerdings nicht zurück. Die europäischen Imperien verfielen in den ersten drei Jahrzehnten nach 1945 endgültig, und mit ihnen vergingen die kolonialen Repressionen und deren massive Rückwirkungen auf die Mutterländer. Europa wurde nicht noch einmal das Zentrum der Welt, sondern blieb politisch, kulturell und wirtschaftlich eine zweitrangige Weltregion ohne Glauben an eine eigene Mission, aber auch ohne die militärischen und wirtschaftlichen Kosten einer Weltmission. Darüber hinaus bot es seinen Bürgern weit mehr soziale Sicherheit und weit mehr Wohlstand, wurde im westlichen Teil weit demokratischer als vor 1914. Sein Wiederaufstieg gab dem Kontinent nicht nur ein ganz anderes Antlitz als vor 1914, die Europäer lernten auch allmählich, dass die angebliche Glanzzeit vor 1914 ein fahler Traum war und es sich nicht lohnte, ihr nachzutrauern. Aber gleichzeitig mussten sie mit neuen Herausforderungen und Krisen, mit neuer Armut und erneuter Arbeitslosigkeit, mit der schlechten Integration von nach dem Weltkrieg neu eingewanderten Immigranten, mit den Gräben zwischen Ost und West, zwischen reichen und armen europäischen Ländern sowie mit der neuen Verantwortung für die Nachbarn Europas fertig werden.
Nachkriegskrise und Wiederaufstieg Europas waren nicht völlig einzigartig. Man sollte nicht vergessen, dass auch anderswo in dieser Zeit ganz ähnliche Erfahrungen gemacht wurden. Drei wichtige andere Weltregionen steckten direkt nach 1945 ebenfalls in einer tiefen Krise und überwanden sie anschließend: die Sowjetunion sowie Ostasien und Südasien. In ihrem überlebenswichtigen westlichen Teil war die Sowjetunion besonders stark zerstört und hatte eine enorme Zahl an Toten zu beklagen. Sie gehörte zwar zu den Siegern des Zweiten Weltkriegs, aber diesen Sieg hatte sie sehr teuer bezahlt. Ostasien hatte wie Europa ebenfalls einen verheerenden Krieg erlebt, mit ähnlichen Zahlen von Toten und einem ähnlichen Ausmaß an Zerstörungen. China zählte mehr Kriegstote als die meisten europäischen Länder. Japan war durch eine ähnliche Nachkriegsnot gelähmt. Indien hatte zwar keinen Krieg auf eigenem Boden erlebt, war aber doch als Teil des britischen Imperiums in den Zweiten Weltkrieg verwickelt gewesen und geriet nach der Unabhängigkeit 1947 in einen Bürgerkrieg, der viele Millionen Menschenleben forderte.
Auch diese drei Weltregionen erlebten in den folgenden Jahrzehnten einen Aufstieg zu – allerdings bescheidenem – Wohlstand und zum Global Player, wenn auch einen anderen Aufstieg als Europa, meist mühsamer und langsamer, in China mit schweren Krisen und Millionen von Toten, ohne Demokratie bis heute sowohl in China als auch in Russland, am Ende aber doch mit einer weit besseren materiellen Situation als in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Man muss daher genau hinsehen und genau vergleichen, um das Besondere an der europäischen Entwicklung herausstellen zu können. Darüber hinaus verlief die Geschichte Europas nach 1945 nicht isoliert von den anderen Weltregionen. Sie war inter- und transnational stärker verflochten als je zuvor.
Dieses Buch versucht die Geschichte Europas seit 1945 in viererlei Hinsicht aus einem besonderen Blickwinkel zu erzählen. Es rückt erstens die politische Geschichte nicht so stark ins Zentrum wie die meisten anderen Überblicksdarstellungen, sondern gibt der Gesellschafts-, Kultur- und Wirtschaftsgeschichte das gleiche Gewicht. Man kann die Geschichte Europas seit 1945 nicht begreifen, wenn man sich ganz auf die Politik beschränkt. Weder die Krise um 1945 noch der spätere Wiederaufstieg noch die Teilung im Kalten Krieg waren rein politische Entwicklungen, so wichtig die Politik auch immer blieb.
Zu fragen, was die Geschichte Europas als Ganzes ausmacht, ist ein zweites Anliegen dieses Buches. Sie war nicht einfach ein Nebeneinander von 30 bis 40 Nationalgeschichten. Sie hatte vielmehr ihre eigenen Tendenzen, Ereignisse, Themen und Kontroversen, die sich von Epoche zu Epoche änderten und sich auch im Blick der Historiker verschieben. Die Geschichte jedes einzelnen europäischen Landes in einem Band über die Geschichte Europas schreiben zu wollen, würde weder den individuellen Nationalgeschichten noch der gesamteuropäischen Geschichte gerecht. Es ist allerdings nicht immer einfach, die wirklich gewichtigen europäischen Tendenzen herauszufiltern, weil sie fast nie alle europäischen Länder betrafen. Die Anfänge gemeinsamer europäischer Entwicklungen müssen manchmal sogar in Epochen behandelt werden, in denen sie erst einmal nur einen kleineren Teil Europas betrafen.
Innereuropäische Unterschiede, ihre Zunahme und ihre Abschwächung herauszuarbeiten, ist ein drittes Anliegen. Dabei geht es nicht ausschließlich oder in erster Linie um den Gegensatz zwischen Europa und den Nationalstaaten und um Unterschiede zwischen den einzelnen europäischen Ländern. Die internationalen Gräben zwischen ganzen Gruppen von Ländern waren in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts für Europa prägender, die Gräben des Kalten Krieges zwischen östlichem und westlichem Europa, die Gräben zwischen den wohlhabenderen industrialisierten und den ärmeren agrarischen Ländern, die Gräben zwischen den zerfallenden europäischen Kolonialimperien mit ihren letzten Kolonialkriegen und den Nationalstaaten ohne Kolonien. Aus den inneren Unterschieden Europas ein Dogma von einem Kontinent der außergewöhnlichen inneren Vielfalt zu schneidern, ist allerdings nicht die Absicht dieses Buches. Es wird vielmehr versucht, für jede Epoche zu verfolgen, welche Divergenzen und Konvergenzen Europa prägten und ob eher jene oder eher diese überwogen. Diese Einordnung der inneren Unterschiede und Gemeinsamkeiten Europas wurde bisher noch in keinem Handbuch über die Geschichte Europas seit 1945 vorgenommen.
Das vierte Anliegen dieses Bandes ist der bisher meist vernachlässigte globale Kontext der Geschichte Europas nach 1945. Zwar gehört ein ausführliches Kapitel über die Entkolonialisierung zum Standard der Überblicksdarstellungen, aber in der Entkolonialisierung erschöpften sich schon in ihrer Epoche nicht die globalen Verflechtungen Europas. Nach dem Ende der europäischen Kolonien gingen diese zudem nicht einfach verloren. Die neue postkoloniale globale Rolle Europas, welche die europäische Gegenwart zutiefst prägt, gerät in den klassischen, auf Europa selbst beschränkten Erzählungen zu wenig in den Blick.
Diese roten Fäden werden über drei Epochen hinweg verfolgt: die unmittelbare Nachkriegszeit, die Jahre vor der Normalisierung der Grundversorgung der Bevölkerung um 1950, aber auch die Zeit des beginnenden Kalten Krieges; danach der außergewöhnliche Wirtschaftsboom und der Höhepunkt des Wohlfahrts- und Planungsstaats der 1950er- und 1960er-Jahre, zugleich die heißeste Phase des Kalten Krieges; schließlich nach dem säkularen Umbruch der 1970er-Jahre die politische Glanzzeit des Marktliberalismus, die erneute, nach der durch den Ersten Weltkrieg abgebrochenen, Globalisierung, aber auch die morose Zeit der steigenden Arbeitslosigkeit, der verschärften sozialen Ungleichheit und des erneut zugespitzten Kalten Krieges der späten 1970er- und frühen 1980er-Jahre. Das Buch endet in einem kurzen Epilog über das Jahr 1989.
Im Durchgang durch Wirtschaft, Kultur, Gesellschaft und Politik Europas leiten den Leser drei rote Fäden, die auch den Zuschnitt der drei Kapitel zu jeder Epoche bestimmen: die gemeinsamen Entwicklungen und Ereignisse, Krisen und...