I. Kindheit und Jugend
1. Das Erbe des Augustus
Am 31. August des Jahres 12 n. Chr. wurde Gaius Caesar Germanicus als Sohn des Germanicus und der Älteren Agrippina geboren. Niemand konnte zu diesem Zeitpunkt erwarten, daß er im Alter von nur 24 Jahren am 18. März 37 – bekannt unter dem Spitznamen Caligula – römischer Kaiser werden würde: Herrscher über ein Reich, das nahezu die gesamte antike Welt von Syrien bis zur Kanalküste, von Nordafrika bis zum Donauraum, von Spanien bis Kleinasien umfaßte. Auch wird niemand geahnt haben, was sich in den zweieinhalb Jahrzehnten bis zu seinem Herrschaftsantritt an Intrigen und Morden, an Prozessen und Hinrichtungen im Zentrum dieses Reiches, in Rom ereignen sollte. Kaum vorstellbar schließlich dürfte es für die Zeitgenossen des Jahres 12 gewesen sein, wie dieser Gaius am Ende seine Herrschaft ausüben würde.
Noch regierte sein Urgroßvater Augustus, und über die wichtigste Leistung seiner langen Alleinherrschaft (31 v. Chr. – 14 n. Chr.) waren sich die aristokratischen Zeitgenossen – bei aller unter der Hand geäußerten Kritik an ihm – einig: Er hatte in Rom eine fast hundert Jahre dauernde Periode gewaltsamer politischer Auseinandersetzungen und Bürgerkriege, die den gesamten Mittelmeerraum in Mitleidenschaft gezogen hatten und die sich in der Rückschau als Prozeß der Monopolisierung von politischer Gewalt beschreiben lassen, beendet und Frieden geschaffen. Zwar hatte er damit die alte, über Jahrhunderte überaus erfolgreiche kollektive Herrschaft der Aristokratie, die die römische Republik gekennzeichnet hatte, beendet und durch eine offensichtlich unumgänglich gewordene Alleinherrschaft ersetzt. Aber er hatte, und dies wurde ihm von vielen seiner Standesgenossen zugute gehalten, seine im Bürgerkrieg gegen Marcus Antonius usurpierte, auf militärischer Gewalt basierende Sonderstellung nicht in die Form einer Monarchie überführt, sondern mit dem Begriff «Prinzipat» bezeichnet, der ihn lediglich als einen der Ersten unter den Bürgern erscheinen ließ. Zugleich hatte er die alten politischen Institutionen und Verfahren der Republik wiederbelebt: Der Senat tagte und beriet, die Magistrate in Rom und die Statthalter in den Provinzen handelten, das Volk versammelte sich, wählte und entschied – und man tat in wichtigen Fragen ausschließlich das, was der Kaiser wollte. Dieser wiederum, dessen unbeschränkte Verfügung über die militärischen Gewaltmittel durch die stetige Präsenz seiner Leibgarde, der Elitetruppe der Prätorianer, jedermann deutlich vor Augen stand, ließ sich seine Sonderstellung in Rom und in den Provinzen in den Formen des traditionellen Rechts bestätigen – und dokumentierte damit, daß er der alten republikanischen Institutionen, die er entmachtet hatte, zur Rechtfertigung seiner Gewalt bedurfte. Damit war eine merkwürdige Situation entstanden, die allen Beteiligten hohes kommunikatives Geschick abverlangte: Die Senatoren hatten so zu handeln, als besäßen sie eine Macht, die sie nicht mehr hatten. Der Kaiser hatte seine Macht so auszuüben, daß es schien, als ob er sie nicht besitze.
Wie kam es zu dieser widersprüchlichen, historisch einmaligen Verbindung von Republik und Monarchie? Ein gesellschaftlicher und ein politischer Grund lassen sich benennen. Wie bei allen vormodernen Hochkulturen handelte es sich auch im antiken Rom um eine stratifizierte Gesellschaft, die nach der Differenz adlig/nichtadlig gegliedert war. Die Ausübung von Herrschaft, sei es im militärischen, sei es im städtischen Bereich, war damit von jeher auf Mitglieder der Oberschicht beschränkt geblieben. Trotz seiner Einbeziehung in politische Entscheidungsprozesse zur Zeit der Republik dokumentierte gerade das einfache römische Volk eindrucksvoll diesen Sachverhalt: Obwohl die regelmäßig stattfindenden Wahlen formal frei waren, wurden fast ausschließlich Mitglieder immer derselben Adelsfamilien in politische Ämter und damit in die militärischen Führungspositionen gewählt. Nur ihnen war man bereit zu gehorchen. Jeder Kaiser sah sich mit diesem Sachverhalt konfrontiert. Zum Kommando der Legionen im Reich wie zur Übernahme ziviler Funktionen in Rom bedurfte er der führenden Vertreter der adligen Oberschicht. Diese aber war identisch mit den etwa 600 Personen, die die politische Institution Senat bildeten und damit den Kern der römischen Aristokratie ausmachten.
Ein zweiter Grund war banaler, aber kaum weniger wirksam. Er betraf die Lebensgefahr, in der alle Beteiligten schwebten. Die Bürgerkriege der späten Republik hatten gezeigt, wozu militärische Gewalthaber gegenüber ihren aristokratischen Standesgenossen in der Lage waren. Seit Sulla hatte es immer wieder Proskriptionen gegeben, in deren Rahmen politische und persönliche Gegner ohne weiteres schlichtweg physisch liquidiert wurden. Umgekehrt hatte sich auch in Rom gezeigt, daß sich auf Bajonetten schlecht sitzen läßt. Das Schicksal des allmächtigen Diktators Caesar, Augustus’ Adoptivvater, hatte dokumentiert, daß die traditionelle Abwehr der gesamten Aristokratie gegen alle Formen der Monarchie auch vom Kreis der engsten Gefolgschaft des Gewalthabers ausgehen konnte. Verschwörung und Mord, stets legitimierbar als Beseitigung des Tyrannen, waren das Damoklesschwert, das fortan in Rom über jedem Kaiser schwebte und, wie die nächsten Jahrhunderte zeigen würden, nicht wenige treffen sollte.
Die paradoxe Etablierung einer Alleinherrschaft durch die Wiederherstellung der alten Republik war Augustus’ Antwort auf diese Situation. Seine besondere Leistung bestand darin, gezeigt zu haben, daß so etwas möglich war. Diese Leistung sollte sich jedoch zugleich als ein ungedeckter Wechsel auf die Zukunft erweisen. Seine Einlösung prägte die Zeit nach seinem Tod im Jahre 14 und damit die Lebenswelt, in der sein Urenkel Caligula aufwuchs. Vor allem zwei zentrale Probleme traten schnell zutage: die persönliche Überforderung möglicher Nachfolger in der schwierigen Kaiserrolle und – schon zu Augustus’ Lebzeiten zu beobachten – die Politisierung der kaiserlichen Familie.
Die Regierungspraxis des Augustus hatte ein hohes Maß an Selbstverleugnung der eigenen Stellung einerseits, an geschickter Handhabung von Macht andererseits vorausgesetzt. Seit mehreren hundert Jahren hatte sich in Rom ein Gesellschaftssystem etabliert, das auf der unmittelbaren Kopplung von politischer Macht und sozialem Rang basierte. Die Mitglieder der Aristokratie, deren Lebensziel – wie in anderen vormodernen Adelsgesellschaften auch – im Erringen von Ehre und Ruhm bestand, waren traditionell auf die Ausübung politischer Funktionen, auf die jährlich wechselnde Bekleidung magistratischer Ämter verwiesen. Der Erfolg in dieser Hinsicht bestimmte den Rang des einzelnen in der Hierarchie der aristokratischen Gesellschaft, und diese Stellung trat im täglichen Leben in vielfältigen Formen in Erscheinung – in der Reihenfolge, in der im Senat die Stimmen abgegeben wurden, in Ehrenplätzen bei städtischen Theateraufführungen, in der Größe des Gefolges, das sich einem erfolgreichen adligen Politiker anschloß, das ihn morgens in seinem Haus besuchte und bei seinen Gängen auf das Forum begleitete, schließlich in der Führung seines Haushaltes, in der Lage und Größe des Gebäudes, das er bewohnte, und in der materiellen Pracht, die dort, vor allem bei abendlichen Gastmählern, entfaltet wurde.
Eine Erfolgsbedingung des Augustus war der persönliche Verzicht auf das aristokratische Bestreben, die eingenommene Machtposition auch gesellschaftlich in Erscheinung treten zu lassen. Er benahm sich im täglichen Leben wie ein normaler Senator, pflegte Freundschaftsbeziehungen zu anderen Aristokraten, als seien sie seinesgleichen, vermied es, mit großem Gefolge in der städtischen Öffentlichkeit aufzutreten, und bewohnte ein Haus auf dem Palatin, von dem berichtet wird, daß es kaum dem Luxus normaler Aristokraten entsprach. Bei diesem Ehrverzicht handelte es sich offensichtlich um eine bewußte Strategie, um die Akzeptanz seiner Stellung innerhalb der aristokratischen Oberschicht zu sichern. Augustus durchbrach dabei den Horizont adliger Mentalität und war damit vor allem deshalb erfolgreich, weil seine Standesgenossen in ihm verharrten. Es handelte sich somit um eine außergewöhnliche Leistung des ersten Kaisers, die zu erbringen, wie die weitere Geschichte zeigen sollte, nicht viele seiner Nachfolger willens oder in der Lage waren.
Der Ehrverzicht war verbunden mit einer Herrschaftsausübung, die gegenüber der Senatsaristokratie auf Befehle gänzlich verzichtete, die jedoch hinreichend durchblicken ließ, was den Wünschen des Kaisers jeweils entsprach. Aufgrund seiner allen überlegenen Machtposition führte dies zu einer Art selbstläufigem, durchweg opportunistischen, manchmal auch vorauseilenden Gehorsam der Senatoren, aber, und das war entscheidend, die traditionellen Formen des Umgangs wurden auch hier gewahrt. So reichte es, wenn der Kaiser renitenten Aristokraten seine persönliche Freundschaft aufkündigte und sein Haus verbot. Die Folge waren sofortige Anzeigen und Gerichtsverfahren seitens umtriebiger Standesgenossen, die den...