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E-Book

Giuseppe Verdi

AutorAnselm Gerhard
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2012
ReiheBeck'sche Reihe 2754
Seitenanzahl128 Seiten
ISBN9783406640735
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Die Opern Giuseppe Verdis (1813-1901) erreichten schon zu seinen Lebzeiten alle fünf Kontinente, heute gehören sie zum unverzichtbaren Repertoire eines jeden Opernhauses. Der in ländlicher Umgebung geborene Komponist war weitgereist - von Neapel bis London, von Madrid bis Moskau - und verbrachte sein Leben zwischen Paris, Mailand, Genua und dem von ihm selbst bewirtschafteten Landgut in der Nähe von Piacenza. Der zusammenfassende Blick auf sein wechselvolles Leben und seine eigenwilligen Werke erlaubt eine neue Perspektive auf Verdis Rolle in einem vom Historismus geprägten Europa und dem zunehmend nationalistisch gestimmten Italien. Verdi als intellektuell hellwachen und für die sozialen Spannungen seiner Zeit höchst sensiblen Opernkomponisten zu entdecken, dazu lädt dieses kleine Buch ein.

Anselm Gerhard, geboren1958 in Heidelberg, seit 1994 Direktor des Instituts für Musikwissenschaft an der Universität Bern, ist einer der international führenden Verdi-Forscher; 2009 wurde er mit der Dent Medal der Royal Musical Association (London) ausgezeichnet. Er bietet hier aufgrund neuester Forschungsergebnisse einen konzisen Überblick über Leben und Werk Giuseppe Verdis.

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Leseprobe

Ein Komponist vom Lande


Das Taufregister der Pfarrei von Le Roncole vermerkt für den 9. oder 10. Oktober 1813 die Geburt eines Joseph Fortunin François Verdi. In dem 1801 von Frankreich annektierten Norditalien galt Französisch als Amtssprache, erst ein knappes halbes Jahr später wurde der herzogliche Hof im nahegelegenen Parma wiederhergestellt und damit auch das Italienische als Verwaltungssprache, während im täglichen Leben selbstverständlich und ausschließlich Dialekt gesprochen wurde. Der Vater des Neugeborenen betrieb (bereits in zweiter Generation) eine Gastwirtschaft für die wenigen Dorfbewohner; dem Lokal war ein Geschäft mit Waren für den täglichen Bedarf angeschlossen. Als Pächter einiger Ländereien und einer der wenigen Schriftkundigen konnte sich Carlo Verdi zur Elite der nicht einmal 200 Seelen zählenden Dorfgemeinschaft rechnen; nach 1825 sollte er als Sekretär und Schatzmeister der Pfarrgemeinde wirken.

Dennoch lag Le Roncole weit ab von allen kulturellen Zentren. Zwar gab es im fünf Kilometer entfernten Marktstädtchen Busseto ein Gymnasium, ein Spital mit 30 Betten und eine Musikgesellschaft, aber das nächste Opernhaus und die nächste Universität lagen in der gut 30 Kilometer entfernten Residenzstadt Parma. Die etwa 400.000 Einwohner des Herzogtums Parma und Piacenza lebten fast ausschließlich von der Landwirtschaft in der fruchtbaren Po-Ebene und am Nordhang des Apennins; nicht einmal 3 % der Bevölkerung konnte eine Schule besuchen, so daß die Analphabetenquote weit über 90 % lag.

Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, daß Giuseppe Verdi im Rückblick seine Jugend in den düstersten Farben malte. Entgegen seinen Behauptungen stammte er freilich nicht aus einer Bauernfamilie, seine Eltern ließen ihr Land vielmehr von Lohnarbeitern bestellen. Nicht nur deswegen gehörte er zu den wenigen Privilegierten in einer weitgehend bäuerlich geprägten Lebenswelt, er hatte auch das Glück, vom Organisten und vom Pfarrer der Dorfkirche Unterricht zu erhalten – vermutlich in einer improvisierten Privatschule für die wenigen bessergestellten Familien. Für den Sproß des Gastwirts gab es zusätzlich eine Einführung in die Anfangsgründe der Musik. So vertrat er schon 1820 seinen greisen Lehrer Pietro Baistrocchi auf der Orgelbank, bevor er dann 1822 dessen Aufgaben definitiv übernahm.

Erste Studien


In diesem Zusammenhang wird bereits ein grundsätzliches Problem eines jeden Versuchs deutlich, Verdis Leben darzustellen: Neben wenigen dürren Belegen können wir die ersten 30 Jahre nur aus den Berichten des arrivierten Komponisten rekonstruieren, die man wohlwollend als effektsichere, mit theatralischem Gespür verfaßte Selbstinszenierungen bezeichnen könnte, weniger wohlwollend aber als dreiste Fälschungen. Denn so ‹bildungsfern›, wie der verschlagene Krämersohn es seine Zeitgenossen und die Nachwelt glauben machen wollte, war seine Kindheit nicht: Dem Siebenjährigen kauften die Eltern ein Spinett, also ein kleines Cembalo – durchaus möglich, daß es sich dabei, neben der Orgel in der Kirche, um das einzige Tasteninstrument im Dorf handelte. Mit zehn Jahren wurde er auf das Gymnasium in Busseto geschickt, was kostspielig war, weil auch die Unterkunft bei einer Gastfamilie bezahlt werden mußte. Dort studierte er neben der Literatursprache Italienisch vier Jahre lang Latein; neben Dante und Ariost hatte er selbstverständlich auch Cicero und Vergil zu lesen.

Im Vergleich zum abgelegenen Heimatdorf, in das er regelmäßig zu Fuß zurückkehrte, wenn er in der Messe die Orgel zu spielen hatte, mag ihm Busseto mit seinen knapp 2000 Einwohnern fast als Großstadt erschienen sein. Dem von Verdi besuchten Gymnasium war eine Bibliothek mit nicht weniger als 10.000 Bänden angeschlossen. Womöglich entdeckte er dort die unbändige Lust am Lesen, die ihn sein ganzes Leben lang begleiten sollte. In Busseto ergab sich schnell ein intensiver Kontakt zu einem musikliebenden Geschäftspartner des Vaters: Antonio Barezzi gehörte die größte Wein- und Spirituosenhandlung am Hauptplatz. Als Querflötist war er die treibende Kraft einer 1816 gegründeten Società filarmonica, also eines bürgerlichen Amateur-Orchesters, das 1832 immerhin 38 Musiker zählen sollte. Nachdem es Barezzi gelungen war, den 1820 an die Stadtkirche berufenen Kirchenmusiker Ferdinando Provesi gleichzeitig als Leiter dieser Musikgesellschaft zu gewinnen, war es keine Frage, daß auch Verdi sich dort engagierte und im Gegenzug von Provesi Kompositionsunterricht erhielt.

Bei allem Enthusiasmus eines Barezzi, auf dessen wichtige Rolle in Verdis Leben noch zurückzukommen sein wird, gingen vom Musikleben Bussetos jedoch unvergleichlich weniger Impulse aus, als sie andere erfolgreiche Opernkomponisten in ihrer Jugend empfingen: der sechzehn Jahre ältere Donizetti in der Messestadt Bergamo, der zwölf Jahre ältere Bellini in Catania, dem zweiten Zentrum Siziliens, oder der nur wenige Monate vor Verdi geborene Wagner in der stolzen Messe- und Universitätsstadt Leipzig. Um unter Verdis Generationsgenossen vergleichbar weitab ‹vom Schuß› aufgewachsene Komponisten von herausragender Bedeutung zu finden, muß man an Franz Liszt und das westungarische Dorf Raiding (heute im österreichischen Burgenland) oder an Hector Berlioz und das Landstädtchen La Côte-Saint-André erinnern. Allerdings hatte Liszts Vater in der ungarischen Hauptstadt Preßburg (heute Bratislava in der Slowakei) die Universität besucht und in Eisenstadt im renommierten Orchester der Fürsten Esterházy gespielt. Berlioz’ Vater war zum Studium nach Paris gegangen und als Arzt weit über die Grenzen der heimischen Voralpenregion hinaus bekannt geworden. Verdis Familie dagegen siedelte seit Generationen nur in der unmittelbaren Umgebung Bussetos, von keinem Familienmitglied sind irgendwelche städtischen Erfahrungen bekannt.

Angesichts einer weitgehend schriftlosen Familienkultur überrascht es nicht, daß wir fast nichts wissen über die Umgangsformen in Verdis Familie. Zwar sind aus den letzten Lebensjahren des 1851 verwitweten Vaters erbitterte Streitereien mit seinem (ihn finanziell unterstützenden) Sohn dokumentiert, doch sind für uns die Wurzeln dieses Konflikts ebensowenig faßbar wie die Charakterzüge der wohl im eigenen Haus als Weberin tätigen Mutter Luigia. So können wir nur festhalten, daß sich Verdis Eltern ungewöhnlich spät – nämlich acht Jahre nach der Eheschließung – und für damalige Verhältnisse außergewöhnlich selten über Nachwuchs freuen konnten: Nach dem Erstgeborenen Giuseppe kam 1816 die einzige Schwester Giuseppa Francesca zur Welt, die – vermutlich als Folge einer Hirnhautentzündung – an einer geistigen Behinderung litt und schon 1833 starb.

Angesichts des begrenzten Horizonts seiner Familie schien auch für den jungen Verdi eine Karriere im Hinterland des Herzogtums Parma vorgezeichnet: Seit seinem zwölften Lebensjahr versuchte er sich in der Komposition von Märschen, Variationen, Arien und Kantaten für die Società filarmonica von Busseto und steuerte auch für die dortige Blaskapelle neue Musik bei. Ein großer Teil dieser ‹Jugendsünden› dürfte für immer verloren sein, da der greise Verdi (ganz ähnlich übrigens wie Brahms) seine frühen Kompositionen vernichtete. Seit den 1990er Jahren kommen zwar zunehmend Abschriften von Werken auf den Antiquariatsmarkt, die in den 1830er Jahren in Busseto gespielt worden waren. Die Tatsache jedoch, daß selbst spezialisierte Forscher nicht mit Sicherheit unterscheiden können, was aus diesem Fundus von Verdi und was von anderen nachrangigen Komponisten wie zum Beispiel dem 1836 verstorbenen Provesi stammt oder was von Verdi möglicherweise nur abgeschrieben und arrangiert wurde, läßt erkennen, wie weit der Komponist auch noch als Zwanzigjähriger von einem unverwechselbaren Profil und souveränem Handwerk entfernt war.

Ausbildung in Mailand


Jedenfalls intensivierte sich Verdis Beziehung zur Familie Barezzi: Seit 1830 gab er der Tochter des Hauses Unterricht in Gesang und Klavier. Barezzi, der ihn 1831 in seine Wohnung aufgenommen hatte, verdoppelte ein Stipendium der örtlichen Kreditanstalt und ermöglichte so dem lernbegierigen Musiker ein vierjähriges Musikstudium. Daß Mailand, die 100 Kilometer entfernte Metropole der Lombardei, und nicht Parma als Studienort gewählt wurde, mag daran gelegen haben, daß der schüchterne junge Mann ein Auge auf Barezzis älteste Tochter geworfen hatte und der Vater deshalb den beiden Verliebten eine längere Bewährungszeit auferlegen wollte. In der Hauptstadt der habsburgischen Vizekönige sollte Verdi das Konservatorium besuchen, um dann nach seiner Rückkehr dem Musikleben von Busseto zu neuem Glanz zu verhelfen. Allerdings endete die Aufnahmeprüfung in einem Desaster: Der Kandidat war viel zu alt – nur in gut begründeten Ausnahmefällen wurden Studierende zugelassen, die älter als vierzehn Jahre waren – und in dem gemäß Reglement entscheidenden Klaviervorspiel alles andere als souverän. Auch wenn der unversöhnliche Verdi noch drei Jahre vor seinem...

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