Einleitung
Als die britischen Politiker und Diplomaten 1919 damit begannen, sich auf die Pariser Friedenskonferenzen vorzubereiten, wurde eine Reihe von Fachleuten von der Historical Section des Foreign Office gebeten, Handbücher zu Ländern oder Gegenständen zu verfassen, über die in den Pariser Vororten diskutiert werden würde. Unter diesen Auftragswerken fällt eines ganz besonders auf: eine Geschichte des Wiener Kongresses 1814/15 aus der Feder des Liverpooler Professors für Neuere Geschichte, Charles Webster. Der Cambridge-Absolvent gehörte seit 1917 dem General Staff des War Office an und wurde dann als Sekretär der Militärabteilung Mitglied der britischen Friedensdelegation. Nachdem ihn später seine akademische Karriere fast um die ganze Welt geführt hatte, wiederholte sich das Muster des Ersten Weltkriegs im Zweiten: Webster wurde erneut für das Foreign Office tätig und war Mitglied der britischen Delegationen zu den Konferenzen in Dumbarton Oaks und in San Francisco, die an der Wiege der Vereinten Nationen standen. Er wurde dann auch zu deren erster Generalversammlung delegiert. Webster nahm darüber hinaus, sicher betroffen darüber, dass die 1919 gefundene Friedensordnung längst nicht die Dauerhaftigkeit derjenigen von 1815 gewonnen hatte, und daher auch mit einem Gefühl von Bitterkeit und Erwartungshaltung, als britischer Delegierter an der letzten Sitzung des Völkerbunds im April 1946 teil.
Es ist nicht nur das Faszinosum des Wechselspiels von Wissenschaft und Politik, das Websters Karriere so reizvoll macht, sondern in unserem Kontext auch das oben genannte Buch The Congress of Vienna, 1814/15. Es entstand dem Vorwort zufolge in der unglaublich kurzen Zeit von elf Wochen, zwischen Mai und August 1919, und sollte der Unterrichtung von Diplomaten und Politikern dienen, die offenbar zusammen mit dem Historiker im Wiener Kongress ein volles das Präzedenzbeispiel sahen für das, was vor ihnen lag – «the only assembly which can furnish even a shadowy precedent for the great task that lies before the statesmen and peoples of the world» (S. III). Aus der Geschichte lernen? Ein ähnliches Konstrukt auf die Beine stellen wollen, das sich im 19. Jahrhundert als so tragfähig und nachhaltig erwiesen hatte?
Diese offenkundige Hochschätzung der Leistung der Monarchen, Staatsmänner und Diplomaten von 1814/15 – die Webster im Übrigen dann auch noch bewog, seiner Synthese eine Quellensammlung folgen zu lassen (1921) und einer der Schlüsselfiguren von Wien, dem britischen Außenminister Lord Castlereagh, eine große zweibändige Biographie zu widmen (1925/31) – lässt sich mit leichten Abstrichen das ganze 19. Jahrhundert hindurch verfolgen. Zwar blieben die großen, auf aktenmäßiger Grundlage ruhenden Darstellungen – neben der von Johann Ludwig Klüber, einem Kongressteilnehmer und Herausgeber eines (nach wie vor unverzichtbaren) Aktenwerkes (Uebersicht der diplomatischen Verhandlungen des wiener Congresses […], Erlangen 1816) und von Gaëtan de Raxis de Flassan (Histoire du congrès de Vienne, Paris 1829), ebenfalls ein Augenzeuge und offizieller Historiograph des französischen Außenministeriums – zunächst noch rar. Goethes Prognose jedoch, die durchaus einem Verdikt nahekam, der Kongress eigne sich nicht zum Nacherzählen, weil er keinen Gehalt gehabt habe, erfüllte sich nicht. Selbst der erste Biograph des Freiherrn vom Stein, der auf dem Kongress über eine Nebenrolle nicht hinausgekommen war, Georg Heinrich Pertz, bescheinigte im Nachgang zu den revolutionären Ereignissen von 1848/49 den Architekten der Wiener Friedensordnung eine «weise und große Politik» und bei aller Unvollkommenheit im Einzelnen die «einzige gesunde und dauernde Grundlage des europäischen Lebens» gelegt zu haben.
Die Abstriche bei der positiven Einschätzung des Kongresses bezogen sich auf einen – freilich kardinalen – Punkt der Wiener Friedensordnung in ihrem umfassenderen Verständnis, nämlich das von den Großmächten reklamierte Interventionsrecht, das von vielen Staats- und Völkerrechtlern des 19. Jahrhunderts, etwa Johann Caspar Bluntschli, entweder offen kritisiert oder aber bezeichnend «beschwiegen» wurde. Vor der Folie der liberalen Tendenzen der Zeit und der offensichtlichen Neigung von Autoren, alle Arten von Bevormundungen – von Individuen, von Gesellschaften, aber auch von Staaten – ins moralische Abseits zu stellen, konnte man mit dem Anspruch der Großmächte, bei «Gefahr im Verzug» dritte Gemeinwesen zu kujonieren, nichts mehr anfangen. Aber es gab daneben immer auch wenigstens subtile Kritik daran, dass die Kongressväter sich bei den überfälligen gesellschaftlichen Reformen nicht so durchgesetzt hätten, wie es angebracht gewesen wäre – von einem deutlichen Zuwachs an Freiheit und Partizipation des Einzelnen, einem Abbau von Diskriminierungen, einer konstitutionellen Weiterentwicklung, was die «öffentliche Meinung» vielerorts erwartet hatte, konnte wenigstens flächendeckend ja noch keine Rede sein.
Wenn im 19. Jahrhundert die Gesamtdarstellungen auf Aktenbasis wenigstens auf breiter Front noch ausblieben, so sollte sich das im 20. Jahrhundert dann nachhaltig ändern. Websters Darstellung, die der Autor seinerzeit noch glaubte durch eine ausführlichere ersetzen zu sollen, zu der es aber nicht kam, steht am Beginn einer stattlichen Reihe von Gesamtdarstellungen, von denen die von Karl Griewank (Leipzig 1942), von Harold Nicolson (London 1946), von Henry A. Kissinger (London 1957, deutsch 1962) und die aus der Perspektive Metternichs geschriebene von Enno E. Kraehe (Princeton 1983) hier Erwähnung finden sollen – Nicolson und Kissinger im Übrigen wie Webster Grenzgänger zwischen Wissenschaft und Politik. Auch an spezielleren Darstellungen, etwa zur Politik der mindermächtigen deutschen Stände in Wien (Michael Hundt, Mainz 1996), zur Politik Russlands in Wien (Ulrike Eich, Köln 1986), zur Behandlung der Judenfrage in Wien (Salo Baron, Wien/Berlin 1920) und zur völkerrechtlichen Bedeutung des Wiener Kongresses (Robert Rie, Bonn 1957) – um nur einige wenige Themenkomplexe herauszugreifen –, fehlt es nicht. Ebenso wenig herrscht an großen Gesamtdarstellungen Mangel, die einen längeren Zeitabschnitt behandeln, aber den Wiener Kongress prominent berücksichtigen – sozusagen von Heinrich von Treitschke bis Paul W. Schroeder und Michael Erbe. Und erst recht liegt über die Akteure und Friedensarchitekten von 1814/15 ein reiches Schrifttum vor, ob man an Metternich oder Hardenberg denkt, an Castlereagh oder Graf Münster, den Freiherrn vom Stein oder Talleyrand oder die vielen Monarchen, die den Kongress besuchten.
Das alles wird aber übertroffen von der geradezu abundanten zeitgenössischen Literatur, den Flugschriften, Memoiren und «Denkwürdigkeiten», Tagebüchern, Briefwechseln der Beteiligten oder relativ Unbeteiligten, die den Wiener Kongress zu dem am besten erhellten Ereignis dieser Art in der gesamten neueren Geschichte machen. Diese Quellen betreffen nicht nur die Verhandlungen im engeren Sinn, sondern in viel stärkerem Maß noch die «Begleitmusik», die Hintergründe, die vielen Feste, die dem Kongress zu jenem Bild in der Öffentlichkeit verhalfen, das sprichwörtlich geworden ist: Er habe nicht gearbeitet, sondern getanzt. Gewiss hatten auch frühere Friedenskongresse schon Schriften von Augenzeugen zu dem provoziert, was der Kongressbeobachter Comte de La Garde in seiner «chronique scandaleuse» Gemälde des Wiener Kongresses 1814–1815 beschrieb und später dann August Fournier mit seiner Wiedergabe von Geheimdokumenten vom Wiener Kongress (1913) und Maurice-Henri Weil im Ersten Weltkrieg in den auf den Spitzelberichten der Wiener Polizeibehörden beruhenden Titel Les Dessous du Congrès de Vienne (Paris 1917) packten; zum Utrechter Kongress ein Jahrhundert vor dem Wiener hatte der Vielschreiber Casimir Freschot zum Beispiel ein Buch Histoire amoureuse et badine du congrès et de la ville d’Utrecht verfasst, das rasch auch ins Deutsche übersetzt wurde, also offenbar – vor allem wohl wegen des Nachweises der Verstrickung des diplomatischen Corps in das kommunale «Rotlichtmilieu» – ein Publikumserfolg war. Aber die entsprechenden Quellen zu den gesellschaftlichen, intriganten, nichtpolitischen, zwischenmenschlichen, amourösen Begleiterscheinungen des Wiener Kongresses stellen doch alles bisher Dagewesene bei Weitem in den Schatten. Dabei sollen die vielen – oft kolorierten – satirischen Kupferstiche meist französischer oder englischer Provenienz, die in dem Katalog der Wiener Jubiläumsausstellung 1965 reich dokumentiert worden sind, gar nicht weiter gewichtet werden, weil sie längst nicht immer den Weg bis zu den Wiener Straßen fanden. Insofern kann es in einer rezeptionsgeschichtlichen Perspektive auch gar nicht überraschen, dass der Wiener Kongress immer wieder als Folie für nichtwissenschaftliche Umsetzungen, Filme beispielsweise oder musikalische Werke, wenigstens in Erwägung gezogen wurde – sogar Richard Strauss ging mit dem Gedanken um, den Wiener Kongress zum Gegenstand einer Oper zu machen.
Dahinter sollen die Editionen der diplomatischen Akten und Ergebnisse...