Kapitel II
Von Klein-Oels nach Berlin
Kindheit und Jugend im Schloss
Am 13. November 1904 wurde Peter Yorck als fünftes von zehn Kindern im niederschlesischen Klein-Oels geboren und wuchs in dem traditionsreichen Klima des Schlosses auf. Die Geschichte seiner Vorfahren war ihm schon früh gegenwärtig, allgegenwärtig aber war der Vater Heinrich, der alle und alles dominierte. Das Schloss war ein nach klaren Regeln und Zuständigkeiten geordneter sozialer Mikrokosmos. Der Alltag des Kindes wurde bestimmt von den für seine Erziehung zuständigen Bediensteten, die sich an die pädagogischen Vorgaben der Gräfin und des Grafen zu halten hatten. Bei der Vielzahl der Geschwister und der Arbeitsbelastung des Vaters waren innige Kontakte zu den Eltern die Ausnahme. Seine Mutter verehrte und liebte er, sein Verhältnis zum früh verstorbenen Vater blieb demgegenüber unbestimmt und blass.
Peter erlebte eine Welt ohne materielle Einschränkungen. Die Kinder waren, wie zahlreiche Fotografien zeigen, immer nach der neuesten Mode gekleidet und schienen stets so zu sein, wie es die Eltern und Kindermädchen wollten. Letztere trugen die vorgeschriebenen Kleider, Schuhe und Strümpfe. Sie hoben sich ab von der schlichten Kleidung des übrigen Personals: der Küchenfrauen, der Waschfrauen, der Wartungsfrauen, der Frauen in den Ställen und auf den Feldern. Auch bei den Männern wurde durch die Kleidung oder durch Uniformen sofort deutlich, welchen Rang sie in der Hierarchie eines großen land- und forstwirtschaftlichen Betriebes einnahmen.
Abbildung 11: Peter Yorck mit seinen älteren Geschwistern Nina, Paul, Davida und Bertha (von links nach rechts), um 1907.
Abbildung 12: Peter Yorck mit seiner Schwester Dorothea in schlesischer Tracht, um 1909.
Abbildung 13: Peter Yorck, um 1910.
Abbildung 14: Die Gräfin Sophie mit acht ihrer zehn Kinder, Zweiter von links mit Matrosenkragen: Peter Yorck, um 1913.
Abbildung 15: Die Yorck'schen Kinder bei der Gartenarbeit – jedes Kind hatte ein eigenes Beet zu bearbeiten.
Die gräflichen Kinder hatten mit gleichaltrigen Dorfkindern kaum Kontakt, da sie nicht die örtliche Volksschule besuchten und die Landarbeit als gepflegte Gartenarbeit unter fachkundiger Anleitung kennenlernten. Einblicke in die Lebensverhältnisse der Gutsarbeiter hatten sie kaum. Das Leben im Schloss und das durchschnittliche Leben der abhängigen Landarbeiterschaft waren zwei verschiedene Zivilisations- und Kulturwelten auf engem Raum.
Aber es wäre falsch, hier nur kalten Spätfeudalismus zu sehen. Die Gutsherren, die von der Leistungskraft ihrer Leute abhängig waren, hatten ein vitales Interesse an einer guten Landarbeiterschaft. Auch verlangte das Gebot der Nächstenliebe eine menschenwürdige Behandlung. Der rigiden Ordnung entsprach ein sozialer Paternalismus, der nicht nur die unmittelbare Not zu beheben versuchte, sondern Vorsorge für zukünftige Notsituationen betrieb. Dieser hatte natürlich seine Grenzen und hing von der Höhe der Gewinne aus der Land- und Forstwirtschaft und dem finanziellen Eigenbedarf des Grundbesitzers ab, der bei der Yorck’schen Lebensweise nicht unbedeutend war. Aber es gehörte zum Ethos dieser Adelsfamilie, sich verantwortlich zu wissen für das leibliche und geistige Wohl des Personals.
Natürlich war den Yorcks der Gedanke fremd, dass «Arbeitnehmer» monetäre und soziale Forderungen an den «Arbeitgeber» stellen könnten. Ihr Recht, als Eigentümer über das Personal zu bestimmen, war für sie selbstverständlich. Besonders Graf Heinrich konnte in der sozialen gewerkschaftlichen Interessenvertretung und in den politischen Forderungen der Sozialdemokratie nur das Ende einer bewährten, für ihn humanen Lebenswelt sehen.
Großen Wert legte man im Schloss auf gute evangelische und katholische Pfarrer und Lehrer, die vom Gutsherrn selbst ausgewählt wurden. Die an das Schloss angebaute größere Kapelle war katholisch, die evangelische Kirche für Klein-Oels befand sich im benachbarten Ort Weigwitz. Das Besitztum der Grafen Yorck war demnach ein konfessionell gemischtes Gebiet. Alle Yorcks, so klar sie sich selbst als Lutheraner verstanden, hatten keine militanten antikatholischen Komplexe. Mit den katholischen Gutsnachbarn verstanden sie sich besser als mit vielen protestantischen Standesgenossen.[1]
Auf dem Internat Roßleben
Der zweitälteste Sohn, Peter, wurde bis zu seinem sechzehnten Lebensjahr von Hauslehrern unterrichtet, bevor er im Oktober 1920 an das auch von seinem älteren Bruder Paul zuvor besuchte Humanistische Gymnasium Roßleben an der Unstrut in Thüringen wechselte,[2] das eine lange Tradition aufweisen konnte. 1554 war die Anlage eines mittelalterlichen Augustiner- und Zisterzienserklosters von einem Heinrich von Witzleben mithilfe des Melanchthonschülers Georg Fabricius (1516–1571) zu einem evangelischen Bildungszentrum ausgebaut worden. Nach einem verheerenden Brand wurde die Knabenschule mit Internat 1727 neu eingeweiht. Nach einer Grundsanierung um 1880, einer späteren Modernisierung und der Ergänzung durch eine Reihe von Zweckbauten entstand ein für die damalige Zeit moderner Schulkomplex. Ein großer Teil der Schüler stammte aus deutschen Adelshäusern, die ihren Söhnen eine klassische humanistische Bildung und eine Einübung in die lutherische theologische Glaubenstradition ermöglichen wollten.
Abbildung 16: Die Klosterschule Roβleben an der Unstrut in Thüringen (Ansicht von 1913).
Über den Schulalltag des neuen Roßlebener Schülers lässt sich aus Mangel an Quellen nicht viel sagen. Für Yorcks späteres Leben sollten Bekanntschaften und Freundschaften mit Jungen aus verschiedenen Jahrgängen der Schule bedeutsam werden. Einige seien genannt: Seine Doktorarbeit widmete er 1927 Horst Wolf von Gersdorff (1904–1993), dem späteren Ehemann seiner Schwester Renate. Auch mit anderen Schulkameraden hielt er mehr oder weniger intensiven Kontakt. Dazu gehörten Nikolaus Christoph von Halem (geb. 1905), Egbert Hayessen (geb. 1913), Heinrich Graf Lehndorff-Steinort (geb. 1909) und Ulrich Wilhelm Graf Schwerin von Schwanenfeld (geb. 1902). Sie alle standen später zusammen mit Erwin von Witzleben (geb. 1881) aus der Stifterfamilie im Widerstand gegen Hitler und wurden 1944 vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und hingerichtet. Witzleben und Yorck starben gemeinsam am Galgen. Von den alten Freunden aus der Zeit in Roßleben überlebten nur Johann Adolf Graf von Kielmansegg (1906–2006), Albrecht von Kessel, genannt «Teddy» (1901–1976), und Botho von Wussow (1901–1971).
Auf dem Internat in Roßleben erhielten diese späteren Widerstandskämpfer entscheidende geistige und politische Impulse, um sich gegen eine totalitäre Weltanschauungsdiktatur aufzulehnen. Etliche Roßlebener Schüler aus der alten adligen Herrschaftselite entwickelten sich in der Republikzeit anders als die Mehrheit ihrer Standesgenossen, die am Untergang der Republik mitarbeiteten und Gefolgsleute Hitlers wurden.
Zweieinhalb Jahre verbrachte Peter Yorck auf dem Elitegymnasium, davon zwei Jahre in der Prima. Am 12. Dezember 1922 stellte er bei dem Rektor der Klosterschule den Antrag auf Zulassung zur Reifeprüfung im Frühjahr 1923, «nach deren Bestehen ich mich dem Studium der Rechte zu widmen gedenke».[3]
Die Prüfungen begannen im Februar 1923. Das Thema des Deutschaufsatzes am 6. Februar lautete: «Welches Bild von der Entwicklung der menschlichen Kultur entrollt uns Schiller in seinem ‹Spaziergang›?» Am gleichen Tag wurde die lateinische Prüfungsarbeit geschrieben, für die ein deutscher Text ins Lateinische übersetzt werden musste. Bei der Griechisch-Prüfung am 12. Februar mit dem Thema «Verdienste der Plataier um Athen» hatten die Schüler einen griechischen Text ins Deutsche zu übersetzen.
Diese drei Arbeiten von Peter Yorck liegen im Archiv der Klosterschule von Roßleben. Die Bewertung des Deutschaufsatzes lautete:
Der Aufsatz enthält einige vergriffene Ausdrücke und mehrere Verstöße gegen die Zeichensetzung, im Übrigen ist er Genügend. Die Primaneraufsätze des Verfassers waren dem aufgewendeten Fleiße entsprechend verschieden in ihrem Wert, doch überwogen genügende Leistungen.
Unter der griechischen Prüfungsarbeit steht:
Die Verstöße gegen die griechische Grammatik sind unbedeutend, umso ärger die gegen die deutsche; daher kann die Übersetzung nur Genügend genannt werden. Die Klassenleistungen waren durchweg gut.
Die Wertung der Lateinarbeit ist kurz: «Die Arbeit ist Gut zu nennen. Die Klassenleistungen waren genügend.»
Vom «Zeugnis der Reife» ist nur das Deckblatt geblieben, sodass die anderen Zensuren unbekannt sind. Peter scheint ein guter Schüler gewesen zu sein, aber kein herausragender. Etwas anderes dürfte interessanter sein: Oben am rechten Rand des Reifezeugnisses steht mit Bleischrift geschrieben: «Im Zusammenhang mit den Ereignissen vom 20.7.1944 als Verräter...