Kapitel 1
Jugend- und Lehrjahre
Walther Rathenau kam am 29. September 1867 in Berlin zur Welt.[1] Später sprach er oft davon, dass seine Vorfahren seit hundert Jahren in Berlin lebten. Aber das Berlin, in das seine Großeltern zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus dem Norden und Nordosten Brandenburgs zogen, war ein ganz anderes Berlin als jenes, das Rathenau in seiner Jugend kannte.[2] Während sich damals die Hauptstadt vollständig an den militärischen Bedürfnissen des Königreichs Preußen orientierte, einer Garnisonsstadt, die erst kürzlich mit einigen königlichen Bauten im prächtigen klassizistischen Stil ausgestattet worden war, so wandelte sich das Berlin von 1860 schnell, um seinem zukünftigen Status als Zentrum des Kaiserreiches gerecht zu werden. Die preußische Armee gewann in diesem Jahrzehnt drei Kriege in Folge. Bald nach dem ersten Sieg über Dänemark im Jahre 1864 begann die Stadt in bislang unbekanntem Ausmaß zu wachsen. Das Image einer jugendlichen, energiegeladenen Metropole, der politisch und auch ökonomisch eine große Blüte bevorstand, machte sie für neue Einwohner attraktiv. Nach dem Sieg über Österreich im Sommer 1866 sorgte Bismarcks Anwesenheit in der Stadt für Begeisterung bei vielen Zugezogenen. Obwohl der Reichskanzler selbst kein Stadtmensch war, betrachtete man ihn zu jener Zeit als die treibende Kraft dieser rasanten Entwicklung Berlins. Als schließlich am 18. Januar 1871 der preußische König zum Kaiser eines neuen Deutschen Reichs gekrönt wurde, nach einem weiteren spektakulären Sieg, dieses Mal über Frankreich, warteten die Bewohner der neuen kaiserlichen Hauptstadt begierig auf den pompösen Auftritt Wilhelm I., nun preußischer König und deutscher Kaiser, der ab und zu durch das Brandenburger Tor ritt. Der Bauboom, besonders nach Westen hin, der für elegante Wohnbezirke für die wohlhabenden Bürger sorgte, wurde jetzt durch noch schnelleres Wachstum angeheizt. Das neue Deutschland begann die Früchte der Industrialisierung zu genießen. Durch die beträchtlichen Reparationszahlungen, welche die besiegten Franzosen pflichtgemäß beglichen, konnte, zumindest eine Zeit lang, der neue Luxus aufrechterhalten werden. Und obwohl die Finanzblase wuchs und schon 1873 platzte, kehrte Berlin nie wieder zu seiner provinziellen Vergangenheit zurück.
Zur Zeit der nationalen Einigung hatte die Stadt schon 865.000 Einwohner, 1877 waren es bereits mehr als eine Million und 1905 zwei Millionen. Zwar waren Paris, London und New York viel größer, aber keine andere Stadt wuchs damals so dramatisch schnell. Der Aufbau des Kaiserreichs wurde von einem Wirtschaftswachstum begleitet, das zwar Krisen und Rückschläge erlebte, aber langfristige und eindrucksvolle Folgen hatte. Es war eine aufregende Zeit für alle Deutschen, und Berlin war das Zentrum. Die Dynamik war ansteckend, die Leistungen waren – außergewöhnlich. Zweifellos war es der richtige Ort und der richtige Zeitpunkt, um ins Rampenlicht zu treten.[3]
Das galt umso mehr für einen Juden. Bereits in den Achtzigerjahren des 18. Jahrhunderts hatte die Diskussion darüber begonnen, dass die diskriminierende Gesetzgebung abgeschafft werden musste, die das Leben der Juden in den verschiedenen Staaten des alten Heiligen Römischen Reichs reglementierte. Die ersten Texte, die mehr Bürgerrechte für die Juden forderten, wurden in Preußen veröffentlicht, in Berlin. Die frühesten Reformen wurden jedoch in den habsburgischen Gebieten umgesetzt, die unmittelbar zum Herrschaftsgebiet von Joseph II. gehörten. Im restlichen Kaiserreich gab es für die meisten Juden nur minimale Verbesserungen, trotz der lang andauernden Debatte über ihren Status und später sogar trotz der neuen Gesetzgebung, die Napoleon zwangsweise eingeführt hatte. Die regional unter der französischen Besatzung erzwungenen Reformen wurden kurz nach der Niederlage der Franzosen entweder ganz zurückgenommen oder nur teilweise umgesetzt. Die vollständige Emanzipation der Juden wurde erstmals während der Revolution von 1848/49 in die Verfassung aufgenommen und von der Nationalversammlung in Frankfurt verabschiedet, aber auch diese ist nie verwirklicht worden. Erst in den Sechzigerjahren des 19. Jahrhunderts, in der Epoche des schnellen Wirtschaftswachstums und der wieder aufkeimenden Liberalisierung, schien der Widerstand gegen die Emanzipation schwächer zu werden, und nach und nach leiteten die deutschen Staaten die lang ersehnten gesetzlichen Schritte zur Emanzipation ein, und 1871 wurde sie im Gefolge der deutschen Einigung besiegelt. Für das deutsche Judentum hatte eine neue Ära begonnen.
Aber die gesetzliche Gleichstellung selbst führte nicht immer zu Veränderungen im täglichen Leben, obwohl sie von hohem symbolischen Wert war. Von Beginn an hatte die Emanzipation nicht nur eine rechtliche, sondern auch eine gesellschaftliche und kulturelle Seite. In Frankreich wurde die Gleichstellung als eine Vorbedingung der Integration betrachtet. Sie wurde dem einzelnen Juden gewährt, aber man hat gleichzeitig die Korporationsrechte der Juden, die oft als Privilegien aufgefasst wurden, abgeschafft. In Deutschland machte man dagegen die Integration zur Vorbedingung der Gleichstellung.[4] Die konservativen Regime, die nach der Niederlage von Napoleon in den meisten deutschen Staaten wieder an die Macht gekommen waren, ließen die alten Institutionen der jüdischen Gemeinden unangetastet. Die Juden, die einen «Zugang» zur deutschen Gesellschaft anstrebten, konnten nur dann auf Gleichstellung hoffen, wenn sie «Wohlverhalten» zeigten oder sich durch besondere Leistungen hervortaten.
Jüdische «movers and doers»,[5] erfolgreiche Geschäftsleute und Bankiers, waren aktiv am Aufbau einer neuen Bourgeoisie beteiligt, die ihre Basis in der Wirtschaft hatte, und einigen ihrer Söhne gelang es allmählich, auch ins Bildungsbürgertum aufzusteigen. So wurde der Wandel von beiden Seiten initiiert: Die Deutschen ließen zu, dass einige der Barrieren, mit denen man Juden üblicherweise ausgrenzte, abgeschafft wurden, und gleichzeitig wuchs das Interesse der Juden, eine immer vollständigere Integration zu erreichen. Die begrenzte, aber doch wahrnehmbare Öffnung auf der einen Seite ermutigte aktive Anstrengungen auf der anderen, und obwohl es zunächst ein langsamer Prozess war, beschleunigte er sich bald und erfasste immer größere Teile der Bevölkerung.
Dieser Prozess wurde jedoch durch Widerstände auf beiden Seiten abgeschwächt. Die vorsichtigeren unter den etablierten Rabbinern misstrauten der Integration ganz prinzipiell und lehnten sie ab. Viele Deutsche hatten aus diversen gesellschaftlichen und ökonomischen Gründen Vorbehalte, doch noch zentraler war eine lange und tief sitzende antijüdische Tradition. Die Konservativen schienen sehr darauf bedacht zu sein, den christlichen Charakter von Staat und Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Die Liberalen, die zu diesem Zeitpunkt bereits zu den wichtigsten Vertretern einer neuen Variante des Nationalismus geworden waren, betrachteten die Juden als fremdes ethnisches Element, als Menschen, die ihrer Natur nach untauglich waren, gleichberechtigte Bürger eines zukünftigen deutschen Nationalstaates zu werden. Unter diesen Umständen schien weder eine echte formale Gleichstellung noch eine wirkliche Integration möglich. Trotzdem konnten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die deutschen Juden beträchtliche Erfolge vorweisen, sowohl in der sozialen und ökonomischen Mobilität als auch in der Akkulturation.
Zwischen 1800 und 1870 gelang ihnen tatsächlich der gesellschaftliche Durchbruch. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts waren sie meist arm, und sie lebten weitgehend isoliert von ihren nichtjüdischen Nachbarn. Dagegen waren sie im späten 19. Jahrhundert ein fester Bestandteil der unteren und mittleren Mittelschicht geworden. Nur wenige wurden sehr reich, aber es gab auch nur relativ wenige Arme. In nur zwei oder drei Generationen waren die Juden vom Rand der deutschen Gesellschaft in ihr Zentrum gelangt. Sie waren urbaner als andere, und überdurchschnittlich viele zogen in die Metropolen. Die Berufsmöglichkeiten öffneten sich vor allem durch den Zugang zu den freien Berufen. Zwar konnten sie nicht Offiziere der preußischen Armee werden, meist nicht einmal in den Reserveeinheiten, und sie hatten nur sehr geringe Aufstiegschancen im Staatsdienst, vor allem in der übermächtigen preußischen Verwaltung. Aber immer öfter und immer deutlicher kam ihre Stimme zur Geltung. Sie waren eine ganz besondere Art von Minderheit. Sie waren weder ärmer noch weniger gebildet als die anderen Deutschen, sie waren in vieler Hinsicht keine «Randgruppe». Normalerweise betrachteten sie sich selbst keineswegs als eine Minderheit. Man sagte sich, Deutschland sei ein ethnisch heterogenes Land und die Juden seien ein «Stamm» unter vielen anderen, der, wie die anderen auch, in der im Entstehen begriffenen großen deutschen Nation aufgehen würde.
Die nichtjüdischen Deutschen sahen das meist anders. Während die Juden normalerweise die gesellschaftliche und kulturelle Integration anstrebten, ohne ihre jüdische Identität aufzugeben, erwarteten viele Deutsche gerade diesen letzten...