Der Mann im Gleichnis rettete nicht die Seele des verlorenen Schafes, sondern das ganze Schaf.
Albert Schweitzer
2 Das ganze Schaf retten
Von der Theologie über Bach zur Medizin
(1905–1912)
Bach oder Die Kunst, Orgel zu spielen
Seine virtuose Orgelkunst wie auch sein Wissen über den Leipziger Thomaskantor erwiesen sich für die Sicherung seiner wirtschaftlichen Existenz über die nächsten Jahre hinweg als so hilfreich, dass Schweitzer später immer wieder betonte, Johann Sebastian Bach habe ihm sein Medizinstudium finanziert. Die Möglichkeit, große Konzerte zu geben und eine Bach-Biographie erfolgreich zu publizieren, eröffnete ihm sein Pariser Orgellehrer Charles-Marie Widor, der ihn als Mülhauser Abiturienten von Eugen Münch als neuen Meisterschüler übernommen hatte – ausgerechnet jener Widor, der Schweitzer hart kritisierte, nachdem der Dreißigjährige angekündigt hatte, ein Medizinstudium aufnehmen zu wollen. Was aber versetzte den Organisten Schweitzer in die Lage, zwischen 1903 und 1905 eine musikwissenschaftliche Bach-Biographie von höchster Qualität zu verfassen? Klaus Eidam zufolge galt sie «lange Zeit […] als epochales Standardwerk der Bach-Literatur».[1] Adolf von Harnack meinte, «daß sie [die Bach-Biographie] alles hinter sich lasse, was bisher über Bach geschrieben war und sowohl in historischer wie auch in musikalischer Hinsicht die Bach-Biographie» sei.[2]
Der Schlüssel zu diesem Werk liegt in Schweitzers Theologie. Schweitzer verstand sich als theologischer Mystiker, der nach der Einheit von Gott und menschlicher Seele fragte. Bach eröffnete Schweitzer zufolge dem Hörer mit seiner Musik einen besonderen, zeitlosen Zugang zu sich selbst, zu seiner Gegenwart und zum Religiösen. So, wie der Mystiker nach der Einheit mit Christus strebe, so sei es wesentliches Anliegen der Bach’schen Musik, den Hörern den Weg zu dieser Einheit musikalisch zu eröffnen. Darum präsentierte er Bach auch nicht als technisch vollendetes kompositorisches Genie oder «Gralswächter der reinen Musik», sondern vielmehr als «Dichter und Maler in Musik».[3] Die Musik sei bei Bach der Weg, um über die ihm eigene «Tonsprache» existentielle und religiöse Erfahrungen auszudrücken.
Dies vermag sie aber nur, wenn der, der in der Sprache der Töneredet, das geheimnisvolle Können besitzt, die Gedanken in einer über ihr eigentliches Ausdrucksvermögen hinausgehenden Deutlichkeit und Bestimmtheit wiedergeben zu lassen. Darin ist Bach der Größte unter den Großen. Dichterisch und malerisch ist seine Musik, weil ihre Themen dichterischen und malerischen Vorstellungen entsprungen sind.[4]
Damit weckt Bach Töne und Bilder, die im Hörer selbst bereits vorhanden sind, und lässt sie in einzigartiger Weise lebendig werden. Wie existentiell diese Art der Musik für Schweitzer selbst ist, erklärt nicht nur seine lebenslange Begeisterung für die Orgel, sondern zeigt sich besonders auch in den letzten Tagen seines Lebens. So stellte man ihm in Lambarene ein Grammophon mit der Musik von Bach und Beethoven ins Sterbezimmer. Als letztes Stück hörte er das Andante aus der 5. Symphonie von Beethoven, und die Worte «Wie wunderschön» sind als seine letzten überliefert.[5] Eben dieses Stück hatte er in den ersten Jahren in Lambarene mit Helene vierhändig gespielt und nochmals als letztes Stück vor der Gefangenschaft 1917 auf dem Tropenklavier mit Orgelpedalen intoniert. Für Schweitzer wie für Bach war Musik weit mehr als Ästhetik oder Unterhaltung, sondern eröffnete neue Horizonte, und daher schrieb der Bach-Biograph Schweitzer über Leben und Werk des Thomaskantors mit klarem Schwerpunkt auf dem Werk. Mystisch, ethisch und ästhetisch konnte er Bach aber nur interpretieren, weil er als Theologe und Musiker Bachs Denken und Werk in vollem Umfang musikalisch, ästhetisch und gleichzeitig religiös zu erfassen vermochte.
1893 wurde Albert Schweitzer Meisterschüler des Pariser Organisten Charles-Marie Widor Das Bild zeigt ihn um 1902 an seinem Lieblingsinstrument.
Die wirkliche Biographie dieses Meisters geben, heißt das Leben und das Entfalten der deutschen Kunst, die sich dann in ihm vollendet und erschöpft, darstellen und sie in ihrem Streben und Fehlen begreifen. Dieses Genie war kein Einzelgeist, sondern ein Gesamtgeist. Jahrhunderte und Generationen haben an dem Werke gearbeitet, vor dessen Größe wir ehrfürchtig stille stehen. Wer die Geschichte dieser Zeit durchgeht und weiß, was ihr Ende bringt, dem wird sie zur Geschichte der Daseinsweise jenes Endgeistes wie er war, ehe er sich in einer Einzelpersönlichkeit objektivierte.[6]
Schweitzers wichtigster Impulsgeber für die Bach-Biographie war sein französischer Lehrer Widor, der 1890 von César Franck die Orgelklasse am Pariser Konservatorium übernommen hatte und in Paris dem in Frankreich zu dieser Zeit wenig bekannten Bach über die Einbeziehung seiner Werke in den Orgelunterricht neue Prominenz verschaffte. Da sich aber gerade Bachs Choräle nur im Zusammenhang mit den dazugehörigen Texten verstehen lassen, brauchte es einen deutschsprachigen Orgelschüler wie Schweitzer, der sich gemeinsam mit Widor dieses Terrain erschloss, um es angehenden französischen Organisten vermitteln zu können. Widor regte darum zunächst eine kleinere Studie an, in der es nicht um die Person Bachs, sondern um die Bedeutung des Denkens und der Persönlichkeit Bachs für dessen Musikverständnis gehen sollte.
Schweitzer untersuchte – anders als seine Vorgänger – Bachs Werk nicht nur musikalisch, sondern als geistiges und geistliches Erlebnis. Er verstand ihn als «fünften Evangelisten».[7] Wie aber war es möglich, dass er mit seiner Biographie eine so unerwartete Bach-Renaissance auslöste? Rund fünfundzwanzig Jahre zuvor hatte Philipp Spitta (1841–1894), Musikhistoriker und Sekretär der Königlichen Akademie der Künste zu Berlin – nicht zu verwechseln mit jenem Karl Johann Philipp Spitta, dessen Gesangbuchbeiträge Schweitzer im Zweiten Theologischen Examen vor der irritierten Prüfungskommission als «unbedeutend» charakterisierte –, mit seiner Abhandlung über Bach ein genau gearbeitetes zweibändiges Werk vorgelegt, von dem man meinte, dass damit alles über Bach gesagt sei. Für Kritiker stellte Philipp Spittas Bach-Biographie gar die «imposanteste musikgeschichtliche Leistung des ganzen 19. Jahrhunderts» dar.[8] Und nun Schweitzers Jean-Sébastian Bach, le musicien-poète.[9]
Schon früh war Schweitzer mit den Werken Johann Sebastian Bachs über seinen Lehrer Eugen Münch in Berührung gekommen. Münch, der an der Berliner Hochschule für Musik tätig gewesen war, dort seine Begeisterung für Bach entdeckt hatte und dann Organist der reformierten Stephanskirche von Mülhausen wurde, ließ den jungen Orgelschüler Schweitzer schon früh Bach spielen,[10] und zwar an einer Orgel, die 1765 von Johann Andreas Silbermann erbaut worden war – jenem Silbermann, der für Schweitzer das große Vorbild in seinen späteren Ausführungen zur Orgelbaukunst werden sollte. Schweitzers Vorbild als Organist war Pfarrer Schillinger, sein Großvater mütterlicherseits, ein ausgewiesener Fachmann für Orgeln und deren Bau. Auch in der dortigen Kirche stand eine Silbermann-Orgel von 1736. Mit den neuen, gegen Ende des 19. Jahrhunderts gebauten Orgeln machte Schweitzer dagegen keine guten Erfahrungen. Im Herbst 1896 nahm der junge Theologiestudent, der zuvor erstmalig Bayreuth besucht hatte und sich nun auf der Heimreise befand, einen Umweg in Kauf, um in der Stuttgarter Liederhalle die dortige neue Orgel zu begutachten, über die die Zeitungen enthusiastisch berichtet hatten. Schweitzer kam jedoch zu der Erkenntnis, dass dieser neue Orgeltyp keinerlei musikalischen und klanglichen Fortschritt mit sich brachte. Sein Eindruck verfestigte sich, als er in der Folgezeit viele alte und neue Orgeln verglich und sich regelmäßig mit Orgelbauern und Organisten über deren Ansichten austauschte.[11]
Dagegen schien die französische Orgeltradition für Schweitzer und sein Interesse an Bach wie gemacht. Diese Spieltradition wurde besonders prominent von dem Breslauer Organisten Adolf Friedrich Hesse (1809–1863), der auch Schweitzers Lehrer Widor prägen sollte, vertreten. Hesse, auf den sich Schweitzer immer wieder bezog, zählte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu den bedeutendsten Organisten und Orgelkomponisten und diente mit seiner Interpretation der musikalischen Werke Bachs in Paris den französischen Organisten als Vorbild.[12] Die öffentlichen Auftritte Hesses in Paris und seine Vorliebe für die französischen Orgeln waren für Schweitzer ein einschneidendes Erlebnis und sollten ihn nachhaltig prägen. Nicht die neuen deutschen Orgeln, sondern die alten französischen im Sinne Silbermanns bedeuteten für Schweitzer die Möglichkeit, die Bach’sche Orgelmusik werkgetreu zu spielen.[13]
Aus seiner Vorliebe für die Silbermann-Orgeln machte...