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E-Book

Albert Schweitzer

1875-1965

AutorNils Ole Oermann
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2013
ReiheBeck'sche Reihe 6089
Seitenanzahl368 Seiten
ISBN9783406644405
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Albert Schweitzer, der Friedensnobelpreisträger des Jahres 1952, war bedeutender Theologe, gütiger Urwalddoktor, Bestseller-Autor und Philosoph der «Ehrfurcht vor dem Leben». Gerade in seiner Schlichtheit und Geradlinigkeit war der Friedensnobelpreisträger zudem ein Meister der Selbstinszenierung. Er verkehrte mit führenden Politikern und Denkern und war zugleich darauf bedacht, sich von den Großen und Mächtigen abzuheben. Er machte kein Aufheben um sein Äußeres und sah gerade darum aus «wie ein naher Verwandter des lieben Gottes» («Der Spiegel»). Nils Ole Oermann beleuchtet auf der Grundlage bisher unbekannter Quellen das Leben Albert Schweitzers neu, etwa seine Schlüsselentscheidung, Mediziner zu werden, sein Verhältnis zu den Afrikanern oder seine politische Rolle in den fünfziger Jahren. So entsteht ein neues Bild von «einem der außergewöhnlichsten Menschen der Neuzeit» («Time Magazine»).

Nils Ole Oermann, geb.1973, lehrt als Professor Ethik an der Leuphana-Universität Lüneburg. Der in Oxford und Harvard ausgebildete Historiker und Theologe ist zudem Direktor am Forschungsbereich «Religion, Politics and Economics» an der Humboldt-Universität zu Berlin. Mit seiner wirtschaftsethischen Arbeit «Anständig Geld verdienen?» (2007) ist er einer größeren Leserschaft bekannt geworden. Nils Ole Oermann lebt mit seiner Familie in der Altmark.

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Leseprobe

Der Mann im Gleichnis rettete nicht die Seele des verlorenen Schafes, sondern das ganze Schaf.

Albert Schweitzer

2 Das ganze Schaf retten
Von der Theologie über Bach zur Medizin

 (1905–1912)


Bach oder Die Kunst, Orgel zu spielen


Seine virtuose Orgelkunst wie auch sein Wissen über den Leipziger Thomaskantor erwiesen sich für die Sicherung seiner wirtschaftlichen Existenz über die nächsten Jahre hinweg als so hilfreich, dass Schweitzer später immer wieder betonte, Johann Sebastian Bach habe ihm sein Medizinstudium finanziert. Die Möglichkeit, große Konzerte zu geben und eine Bach-Biographie erfolgreich zu publizieren, eröffnete ihm sein Pariser Orgellehrer Charles-Marie Widor, der ihn als Mülhauser Abiturienten von Eugen Münch als neuen Meisterschüler übernommen hatte – ausgerechnet jener Widor, der Schweitzer hart kritisierte, nachdem der Dreißigjährige angekündigt hatte, ein Medizinstudium aufnehmen zu wollen. Was aber versetzte den Organisten Schweitzer in die Lage, zwischen 1903 und 1905 eine musikwissenschaftliche Bach-Biographie von höchster Qualität zu verfassen? Klaus Eidam zufolge galt sie «lange Zeit […] als epochales Standardwerk der Bach-Literatur».[1] Adolf von Harnack meinte, «daß sie [die Bach-Biographie] alles hinter sich lasse, was bisher über Bach geschrieben war und sowohl in historischer wie auch in musikalischer Hinsicht die Bach-Biographie» sei.[2]

Der Schlüssel zu diesem Werk liegt in Schweitzers Theologie. Schweitzer verstand sich als theologischer Mystiker, der nach der Einheit von Gott und menschlicher Seele fragte. Bach eröffnete Schweitzer zufolge dem Hörer mit seiner Musik einen besonderen, zeitlosen Zugang zu sich selbst, zu seiner Gegenwart und zum Religiösen. So, wie der Mystiker nach der Einheit mit Christus strebe, so sei es wesentliches Anliegen der Bach’schen Musik, den Hörern den Weg zu dieser Einheit musikalisch zu eröffnen. Darum präsentierte er Bach auch nicht als technisch vollendetes kompositorisches Genie oder «Gralswächter der reinen Musik», sondern vielmehr als «Dichter und Maler in Musik».[3] Die Musik sei bei Bach der Weg, um über die ihm eigene «Tonsprache» existentielle und religiöse Erfahrungen auszudrücken.

Dies vermag sie aber nur, wenn der, der in der Sprache der Töneredet, das geheimnisvolle Können besitzt, die Gedanken in einer über ihr eigentliches Ausdrucksvermögen hinausgehenden Deutlichkeit und Bestimmtheit wiedergeben zu lassen. Darin ist Bach der Größte unter den Großen. Dichterisch und malerisch ist seine Musik, weil ihre Themen dichterischen und malerischen Vorstellungen entsprungen sind.[4]

Damit weckt Bach Töne und Bilder, die im Hörer selbst bereits vorhanden sind, und lässt sie in einzigartiger Weise lebendig werden. Wie existentiell diese Art der Musik für Schweitzer selbst ist, erklärt nicht nur seine lebenslange Begeisterung für die Orgel, sondern zeigt sich besonders auch in den letzten Tagen seines Lebens. So stellte man ihm in Lambarene ein Grammophon mit der Musik von Bach und Beethoven ins Sterbezimmer. Als letztes Stück hörte er das Andante aus der 5. Symphonie von Beethoven, und die Worte «Wie wunderschön» sind als seine letzten überliefert.[5] Eben dieses Stück hatte er in den ersten Jahren in Lambarene mit Helene vierhändig gespielt und nochmals als letztes Stück vor der Gefangenschaft 1917 auf dem Tropenklavier mit Orgelpedalen intoniert. Für Schweitzer wie für Bach war Musik weit mehr als Ästhetik oder Unterhaltung, sondern eröffnete neue Horizonte, und daher schrieb der Bach-Biograph Schweitzer über Leben und Werk des Thomaskantors mit klarem Schwerpunkt auf dem Werk. Mystisch, ethisch und ästhetisch konnte er Bach aber nur interpretieren, weil er als Theologe und Musiker Bachs Denken und Werk in vollem Umfang musikalisch, ästhetisch und gleichzeitig religiös zu erfassen vermochte.

1893 wurde Albert Schweitzer Meisterschüler des Pariser Organisten Charles-Marie Widor Das Bild zeigt ihn um 1902 an seinem Lieblingsinstrument.

Die wirkliche Biographie dieses Meisters geben, heißt das Leben und das Entfalten der deutschen Kunst, die sich dann in ihm vollendet und erschöpft, darstellen und sie in ihrem Streben und Fehlen begreifen. Dieses Genie war kein Einzelgeist, sondern ein Gesamtgeist. Jahrhunderte und Generationen haben an dem Werke gearbeitet, vor dessen Größe wir ehrfürchtig stille stehen. Wer die Geschichte dieser Zeit durchgeht und weiß, was ihr Ende bringt, dem wird sie zur Geschichte der Daseinsweise jenes Endgeistes wie er war, ehe er sich in einer Einzelpersönlichkeit objektivierte.[6]

Schweitzers wichtigster Impulsgeber für die Bach-Biographie war sein französischer Lehrer Widor, der 1890 von César Franck die Orgelklasse am Pariser Konservatorium übernommen hatte und in Paris dem in Frankreich zu dieser Zeit wenig bekannten Bach über die Einbeziehung seiner Werke in den Orgelunterricht neue Prominenz verschaffte. Da sich aber gerade Bachs Choräle nur im Zusammenhang mit den dazugehörigen Texten verstehen lassen, brauchte es einen deutschsprachigen Orgelschüler wie Schweitzer, der sich gemeinsam mit Widor dieses Terrain erschloss, um es angehenden französischen Organisten vermitteln zu können. Widor regte darum zunächst eine kleinere Studie an, in der es nicht um die Person Bachs, sondern um die Bedeutung des Denkens und der Persönlichkeit Bachs für dessen Musikverständnis gehen sollte.

Schweitzer untersuchte – anders als seine Vorgänger – Bachs Werk nicht nur musikalisch, sondern als geistiges und geistliches Erlebnis. Er verstand ihn als «fünften Evangelisten».[7] Wie aber war es möglich, dass er mit seiner Biographie eine so unerwartete Bach-Renaissance auslöste? Rund fünfundzwanzig Jahre zuvor hatte Philipp Spitta (1841–1894), Musikhistoriker und Sekretär der Königlichen Akademie der Künste zu Berlin – nicht zu verwechseln mit jenem Karl Johann Philipp Spitta, dessen Gesangbuchbeiträge Schweitzer im Zweiten Theologischen Examen vor der irritierten Prüfungskommission als «unbedeutend» charakterisierte –, mit seiner Abhandlung über Bach ein genau gearbeitetes zweibändiges Werk vorgelegt, von dem man meinte, dass damit alles über Bach gesagt sei. Für Kritiker stellte Philipp Spittas Bach-Biographie gar die «imposanteste musikgeschichtliche Leistung des ganzen 19. Jahrhunderts» dar.[8] Und nun Schweitzers Jean-Sébastian Bach, le musicien-poète.[9]

Schon früh war Schweitzer mit den Werken Johann Sebastian Bachs über seinen Lehrer Eugen Münch in Berührung gekommen. Münch, der an der Berliner Hochschule für Musik tätig gewesen war, dort seine Begeisterung für Bach entdeckt hatte und dann Organist der reformierten Stephanskirche von Mülhausen wurde, ließ den jungen Orgelschüler Schweitzer schon früh Bach spielen,[10] und zwar an einer Orgel, die 1765 von Johann Andreas Silbermann erbaut worden war – jenem Silbermann, der für Schweitzer das große Vorbild in seinen späteren Ausführungen zur Orgelbaukunst werden sollte. Schweitzers Vorbild als Organist war Pfarrer Schillinger, sein Großvater mütterlicherseits, ein ausgewiesener Fachmann für Orgeln und deren Bau. Auch in der dortigen Kirche stand eine Silbermann-Orgel von 1736. Mit den neuen, gegen Ende des 19. Jahrhunderts gebauten Orgeln machte Schweitzer dagegen keine guten Erfahrungen. Im Herbst 1896 nahm der junge Theologiestudent, der zuvor erstmalig Bayreuth besucht hatte und sich nun auf der Heimreise befand, einen Umweg in Kauf, um in der Stuttgarter Liederhalle die dortige neue Orgel zu begutachten, über die die Zeitungen enthusiastisch berichtet hatten. Schweitzer kam jedoch zu der Erkenntnis, dass dieser neue Orgeltyp keinerlei musikalischen und klanglichen Fortschritt mit sich brachte. Sein Eindruck verfestigte sich, als er in der Folgezeit viele alte und neue Orgeln verglich und sich regelmäßig mit Orgelbauern und Organisten über deren Ansichten austauschte.[11]

Dagegen schien die französische Orgeltradition für Schweitzer und sein Interesse an Bach wie gemacht. Diese Spieltradition wurde besonders prominent von dem Breslauer Organisten Adolf Friedrich Hesse (1809–1863), der auch Schweitzers Lehrer Widor prägen sollte, vertreten. Hesse, auf den sich Schweitzer immer wieder bezog, zählte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu den bedeutendsten Organisten und Orgelkomponisten und diente mit seiner Interpretation der musikalischen Werke Bachs in Paris den französischen Organisten als Vorbild.[12] Die öffentlichen Auftritte Hesses in Paris und seine Vorliebe für die französischen Orgeln waren für Schweitzer ein einschneidendes Erlebnis und sollten ihn nachhaltig prägen. Nicht die neuen deutschen Orgeln, sondern die alten französischen im Sinne Silbermanns bedeuteten für Schweitzer die Möglichkeit, die Bach’sche Orgelmusik werkgetreu zu spielen.[13]

Aus seiner Vorliebe für die Silbermann-Orgeln machte...

Inhaltsverzeichnis
Cover1
Titel2
Zum Buch3
Über den Autor3
Impressum4
Widmung5
Inhalt7
Vorwort9
1 Sinn für das Feierliche Vom Pfarrhaus zur Theologie (1875–1905)13
Der Elsässer Pfarrerssohn13
Schul- und Jugendzeit21
Student der Theologie, Philosophie und Musik30
Kant35
Vikar, Doktorand und Außenseiter45
Theologe oder Mystiker?54
2 Das ganze Schaf retten Von der Theologie über Bach zur Medizin (1905–1912)66
Bach oder Die Kunst, Orgel zu spielen66
Der Weg zur Entscheidung83
Das Medizinstudium97
Der treue Kamerad105
3 Ein geistiger Abenteurer Von Straßburg in den Urwald und zurück (1912–1917)125
Die Ausreise nach Äquatorialafrika125
Lambarene134
Kriegsausbruch und Deportation143
4 Gut ist: Leben erhalten Albert Schweitzers Kulturphilosophie148
«Wir sind ja doch alle nur Epigonen»148
Ehrfurcht vor dem Leben165
Kulturphilosophie und Religion169
Die Bedeutung der Tiere173
5 Das eiserne Tor öffnet sich Krise und Durchbruch (1917–1932)179
Rückkehr ins Elsass179
Der unter das Möbel gerollte Groschen186
Wieder in Lambarene192
Vom richtigen Umgang mit den Eingeborenen201
6 Mit zentralafrikanischem Gruß In der Zeit des «Dritten Reichs» (1933–1945)213
Die Ruhe vor dem Sturm213
Lambarene im Krieg221
7 Das Gespenst des Atomkriegs bannen Schweitzer im Kalten Krieg (1945–1957)228
«The Greatest Man in the World»229
Der Friedensnobelpreis und die Folgen235
Schweitzer, Einstein und die Bombe253
Eine Glocke aus der DDR271
Homo politicus287
8 Wie wunderschön! Die letzten Jahre (1957–1965)295
Dekolonialisierung und Kritik296
Der neunzigste Geburtstag301
Epilog: Mythos und Wirklichkeit305
Anhang313
Zeittafel315
Anmerkungen322
Literatur353
Bildnachweis362
Personenregister363

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