2 Sportsoziologie: Gegenstandsbereich, theoretische Ansätze und methodische Zugänge
Gegenstand der Soziologie ist die Gesellschaft oder das Soziale. Folglich hat die Sportsoziologie den Zusammenhang zwischen Gesellschaft und Sport bzw. das Soziale im Sport zum Gegenstand.
Definition:
Sportsoziologie ist jene Wissenschaft, die sich mit der Erforschung sozialen Handelns, sozialer Prozesse und Strukturen im Sport sowie mit den Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft und Sport befasst.
Ihre grundlegenden Fragen lauten entsprechend: Wie prägen gesellschaftliche Strukturen, Institutionen und Beziehungen den Sport? Wie wirkt der Sport auf andere gesellschaftliche Bereiche? Wie ist der Sport aufgebaut? Welche sozialen Prozesse vollziehen sich in ihm und wie wird in ihm gehandelt? Diese Grundfragen lassen sich in eine Vielzahl von Einzelfragen aufsplitten. Die folgenden Einzelfragen sind beispielhaft ausgewählt und sollen das Themenspektrum der Sportsoziologie verdeutlichen.
a) | Beispiele für Fragen zum sozialen Handeln, zu sozialen Prozessen und Strukturen innerhalb des Sports: |
| Wie ist die organisatorische Verfassung des Sports in einem Land? Wie verlaufen die formellen und informellen Entscheidungs- und Kommunikationswege in verschiedenen Sportorganisationen? Welche sozialen Probleme gibt es im Sport? Welche Zusammenhänge bestehen zwischen Mannschaftsstrukturen und Mannschaftserfolg? Gibt es einen Heimvorteil im Mannschaftssport und wenn ja, aus welchen Gründen? Inwiefern ist soziale Integration im Sport möglich? Inwieweit erfolgt im/durch Sport eine Sozialisation? Welche Besonderheiten weist die Rolle des Berufssportlers/Sportmanagers/Sportlehrers/Trainers/Schiedsrichters etc. auf? Was bedeutet Identität im Sport?
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b) | Beispiele für Fragen zum wechselseitigen Verhältnis von Sport und Gesellschaft |
| Welche Bedeutung hat Sport in der Gesellschaft? Welche Funktionen hat Sport in der Gesellschaft? Welche Beziehung besteht zwischen Sport und Wirtschaft, welche zwischen Sport und Arbeit? Welche Beziehung besteht zwischen Sport und Massenmedien? Welchen Einfluss haben Sportverbände auf politische Entscheidungen? Welchen Einfluss nimmt die Politik auf den Sport? Welche kulturellen und religiösen Werte prägen das Ethos des Sports? Wirkt ein Sportethos in andere gesellschaftliche Bereiche hinein? In welcher Form wird durch familiäre und schulische Sozialisation die Fähigkeit und Bereitschaft beeinflusst, Sport oder einzelne Sportarten zu betreiben? Ist ein Transfer von sozialen Kompetenzen, Handlungsorientierungen und Werten, die im Sport erworben werden, in andere Lebensbereiche möglich? Inwiefern beeinflusst die soziale Stellung, die der Einzelne in der Gesellschaft einnimmt, sein Sportverhalten? Welche Wirkungen hat der Sport auf die soziale Stellung des Einzelnen?
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Die Zahl der Forschungsfragen und Themen hat sich in jüngster Zeit durch eine Hinwendung zu den Themenfeldern „Bewegung“ und „Körper“ weiter vergrößert. Mit diesen vielfältigen Themen, Fragen und Problemen des Sports beschäftigt sich die Sportsoziologie in theoretischen und empirischen Untersuchungen. Sie ist eine auf Theoriebildung basierende, empirische Disziplin.
Wie werden Theorien in der Sportsoziologie gebildet? Indem auf Theorien der allgemeinen Soziologie zurückgegriffen wird und diese entsprechend verarbeitet werden. Dabei hat die Verarbeitung systemtheoretischer Ansätze eine lange Tradition. War es zunächst die strukturell-funktionale Systemtheorie, die Anwendung fand, so ist es im deutschsprachigen Raum seit den 1980er Jahren insbesondere die Luhmannsche Fassung der Theorie, auf welche Entwürfe einer soziologischen Theorie des Sports Bezug nehmen. In diesen wird Sport – oder zumindest der Leistungs-/Spitzensport – als eigenständiges Teilsystem der modernen, also funktional differenzierten Gesellschaft verstanden. Als solches habe er sich zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert ausdifferenziert, sprich aus anderen gesellschaftlichen Bereichen herausgelöst. Die Voraussetzung für diese Ausdifferenzierung wird – je nach Variante der Theorie – in der Entwicklung eines spezialisierten Codes, durch welchen sich Teilsysteme voneinander abgrenzen, oder in der Spezialisierung auf eine Funktion für die Reproduktion der Gesellschaft gesehen.
Definition:
Die Funktion eines gesellschaftlichen Teilsystems liegt in demjenigen Beitrag, der zum Überleben des übergreifenden sozialen Systems (Gesellschaft) notwendig ist.
Als gesamtgesellschaftliche Funktion, welche das Sportsystem im Zuge seiner Ausdifferenzierung für sich in Anspruch genommen habe, wird von Cachay (1988, S. 179–274) „Produktion gesellschaftsadäquater personaler Umwelt durch Körperbildung“ vorgeschlagen. Dem steht die Auffassung des wahrscheinlich größeren Teils der Forscher gegenüber, der zufolge das Teilsystem Sport keine gesamtgesellschaftlich unverzichtbare Funktion erfüllt. Demnach könnte „die Gesellschaft zur Not auf den Sport verzichten“, wie es Schimank (1988, S. 183) formuliert. Für Bette (1989, S. 170) ist der Sport im Vergleich zu funktionalen Teilsystemen wie Wirtschaft, Politik, Medizin oder Religion, ein Sonderfall, der seine Funktion darin findet, keine exklusive Funktion zu besitzen und gerade dadurch eine besondere Flexibilität und Anschlussfähigkeit gewinnt.
Während die Funktion und auch der Code des Sportsystems (nämlich „leisten/nicht leisten“ oder „Sieg/Niederlage“) nicht einheitlich verstanden werden, besteht Einigkeit darüber, dass der Sport als Breiten-, aber auch als Spitzensport Leistungen für andere gesellschaftliche Teilbereiche erbringt und von diesen Teilbereichen Leistungen erhält (Schulze 2007, S. 94–95). So werden beim Breitensport starke Leistungsbeziehungen vor allem zu folgenden gesellschaftlichen Teilsystemen gesehen: Gesundheitssystem (Breitensport wird oft um der Gesundheit willen betrieben und unterstützt so dieses Teilsystem), Bildungssystem (Breitensport gilt als „pädagogisch wertvoll“), Politiksystem (Breitensport wird auf Grund seiner mutmaßlichen erzieherischen, gesundheitlichen und sozialintegrativen Leistungen politisch gefördert), Familiensystem (Eltern sehen mit Blick auf ihre Kinder die Sozialisationsfunktionen des Sporttreibens) und Wirtschaftssystem (kommerzielle Nutzung des Breitensports durch Fitness-Studios, Sportartikelhersteller etc.). Der Spitzensport bietet sich anderen Teilsystemen (Wirtschaft, Politik, Medien) durch seine aufmerksamkeitsträchtige Ereignisproduktion an und erhält im Gegenzug finanzielle Ressourcen (Schimank 2001, S. 13–18; 2008, S. 71–72). Diese Aspekte bilden nicht nur einen systemtheoretischen Konsens, sondern darüber hinaus eine gemeinsame Basis mit der nicht systemtheoretisch arbeitenden empirischen und theoretischen Sportsoziologie (Schulze 2007, S. 94).
Ein Ansatz in der nicht systemtheoretisch arbeitenden Sportsoziologie ist die Theorie sozialer Institutionen. Ihr zufolge ist Sport eine soziale Institution, vergleichbar etwa mit Religion, Familie, Politik oder Wirtschaft.
Definition:
Soziale Institution kennzeichnet eine allgemein anerkannte gesellschaftliche Einrichtung, die der Befriedigung wichtiger Bedürfnisse dient und als fundamentaler Teil einer Kultur angesehen wird.
Als Institution bietet Sport spezifische Werte, Normen, Rollen1, Sozialisationsmodelle, Organisationsformen sowie ideologische Orientierungen an und macht diese – für diejenigen, die sich entsprechend betätigen – relativ verbindlich (Rigauer 1982, S. 32). Die Reglementierungen sind im organisierten Sport besonders deutlich: Das Verhalten ist dort in sozialen Rollen organisiert, von denen viele seitens ihrer Träger als „Pflicht“ oder „Amt“ empfunden werden (Funktionär, Trainer etc.). Für Wettkämpfe und das Messen von Leistungen gibt es einheitliche Regeln. Regelverstöße werden...