1. Einleitung: Metternich in der öffentlichen Wahrnehmung
Das «Metternichsche System» hat «den Wert eines Schibboleths erhalten» – so urteilte der österreichische Staatskanzler rückblickend im Jahre 1852, und mit diesem hebräischen, heute kaum noch geläufigen Begriff spielte er an auf die untereinander entzweiten Israeliten im Alten Testament. Um ihre feindlichen Brüder, die Ephraimiter, erkennen zu können, ließen die Gileaditer sie ein Erkennungswort – eben ‹Schibboleth›, was so viel wie ‹Ähre› bedeutete – sagen. Sprachen sie nun ‹Sibboleth›, hatten sie sich mit der falschen Aussprache des Wortes zu erkennen gegeben. Für Metternich bezweckte die gegnerische Rede vom «Metternichschen System» Ähnliches. Er sah in dem Schlagwort eine Losung, ein Erkennungszeichen: für die Männer der Opposition wurde er «zur Zielscheibe ihrer Angriffe» gemacht – auch später noch, als er im Exil und Ruhestand lebte. Er sah ganz richtig, wie die Formel parteiähnliche Lager konstruierte und gleichzeitig Wissenschaftlichkeit unterstellte, denn es war von einem ‹System› die Rede, für Metternich eine «unlogische Verwechslung der Begriffe», denn tatsächlich habe es sich doch um den «Umsturz der althistorischen Ordnung der Dinge im Reiche» gehandelt. Da er durch geheime Spitzelberichte und intensive Lektüre der von ihm unterdrückten Schriften mit den Gedanken seiner Gegner bestens vertraut war, kannte er auch die Schlagworte, mit denen sie das so genannte Metternichsche System beschrieben: ‹Obskurantismus› (das erinnerte an das ‹finstere Mittelalter›), ‹Absolutismus› und ‹abstraktes Stabilitätssystem›. Er galt in den Augen seiner Gegner als die Verkörperung von Reaktion und Repression.
Parteibegriffe bauen eine Front der Ablehnung auf, aber jenseits der Mauer erblicken die Parteigänger ein Reich der heilen oder wieder zu heilenden Welt. Die Schlussfolgerung lautete 1848, wenn Metternich und sein System erst einmal fielen, breche die große Freiheit herein. Das predigten die Anhänger des ‹Völkerfrühlings› seit dem Wiener Kongress in ständig anschwellendem Chor. Die Selbstbestimmung der Völker im jeweils eigenen Nationalstaat werde ein friedliches Zusammenleben der Nationen verbürgen. Wir wissen heute, dass diese Utopie bereits in der Revolution ihre Glaubwürdigkeit verlor und durch eine blutige Spur nationaler Kriege bis 1945 vollständig zunichte wurde. Wenn das so ist: warum wird dann nicht auch die andere Seite der Utopie, das ‹Schibboleth› des Metternichschen Systems, angezweifelt, sondern weiterhin als Tatsache behandelt und in den Schulbüchern ständig wiederholt? Hier liegt Vieles im Argen.
Es war immer schwer für den Historiker, sich Metternich unbefangen zuzuwenden. Fast jeder, der über ihn urteilt, verrät mehr über seine eigenen Werte und seine Vorurteile als über die eigentliche Person des Staatskanzlers. Man kann mit Recht fragen, ob es diese «eigentliche Person» überhaupt geben kann und ob nicht jedes Urteil dem Zeithorizont des Biographen folgt. Nun ist es geschichtswissenschaftliche Erkenntnis, dass ein besonderer Punkt, von dem aus man seinen Gegenstand ins Auge fasst, nicht per se tendenziös sein muss; die Fragen erwachsen zweifellos aus der Zeitgenossenschaft des Historikers, der er ja nicht entrinnen kann; die Urteile aber dürfen einer historischen Gestalt nicht mehr abverlangen, als diese in ihrer Zeit wissen konnte und zu tun vermochte. Was heißt das konkret? Es gilt zunächst einmal, vermeintliche Tatsachen zu prüfen und in ihren Zeithorizont zu stellen. Hier seien nur die vier wichtigsten Urteile hervorgehoben, die das Metternichbild wesentlich prägen: 1. Metternich verurteilte das Repräsentativprinzip als Organisationsform moderner Verfassungen. 2. Er sah in der politischen, auf den Staat bezogenen Selbstbestimmung der Nationalitäten ein Verhängnis. 3. Er hielt Journalisten für unfähig, kompetent über die hohe Politik zu berichten. 4. Er erblickte in den von der Französischen Revolution ausgehenden Tendenzen ein Grundübel, das den Frieden Europas zerstören würde. Diese Aussagen werden in der Regel jeweils mit einem typischen Umkehrschluss verknüpft: 1. Metternich war ein Absolutist. 2. Er war antinational. 3. Er knebelte die Geistesfreiheit. 4. Er war reaktionär. Diese Wertungen werden mit einer Selbstverständlichkeit vorgetragen, die ohne Überlegung zwischen ‹richtig› oder ‹falsch› im historischen Prozess unterscheiden zu können glaubt.
Die populären Urteile sind teilweise auch noch in der Geschichtsschreibung lebendig, vor allem dann, wenn sie sich auf eine nationale Engführung beschränkt und den internationalen Zusammenhang ausblendet. Im öffentlichen Bewusstsein erscheint Metternich als Inbegriff von ‹Restauration›. Noch 2008 erblickte ein Journalist in der erneuten Wahl Franz Münteferings zum Parteivorsitzenden bei dessen Gegnern die Furcht, er «könne die Restauration der Agenda-Partei betreiben, eine Art Metternich der SPD werden». Da ist es wieder: das ‹Schibboleth›, das im kollektiven nationalen Gedächtnis von Metternich geblieben ist. Allen Urteilen ist gemeinsam: Der moderne, liberale, an den Traditionen der Aufklärung orientierte nationale Verfassungsstaat ist das Maß der europäischen Geschichte und lässt Metternichs Politik als einen einzigen Irrweg erscheinen. Nun ist aus heutiger Sicht an diesem Wertekanon im Prinzip nichts auszusetzen. Der Weg dahin aber war begleitet von nationalen Kriegen um Gebietshoheit, von maßlosem Imperialismus und Kolonialismus europäischer Nationen. Die Gewissheit, die historische Entwicklung lasse sich gleichsam in einer einzigen großen Meistererzählung bis zur Gegenwart bündeln, hat sich längst als Schein erwiesen. Ebenso ist der Glaube dahin, die selbstbestimmte Nation sei im geeinten Staat ohne Krieg zu haben. Dennoch wendet man im Urteil über Metternich dieses zugleich teleologische und polare Muster der Geschichtsdeutung unbeirrt an. Weil sich die Geschichte des langen 19. Jahrhunderts aber nicht mehr so naiv in die ‹Guten› und die ‹Bösen› scheiden lässt, so dass von vornherein klar wäre, was als der Königsweg richtiger Politik anzusehen sei, wird auch das Urteil über Metternich kompliziert. Die Geschichtswissenschaft hat gelernt, nachdrücklich nach dem Preis, den moralischen ‹Kosten› noch so hehrer Ideale, zu fragen, und das macht das Urteilen noch schwieriger.
Alle Historiker, die ihre eigene Epoche verleitet hat, mit Metternich abzurechnen, haben mehr über sich selbst ausgesagt als über den ursprünglichen Reichsgrafen, Deutschen, Österreicher und Politiker aus Koblenz. Heinrich von Treitschke, der preußisch gewordene Sachse, erblickte in Metternich den Verräter an der deutschen Nation, den Intriganten der Diplomatie, den vollendeten Weltmann, den «ideenlosen» Kopf, begabt mit «gewiegter Schlauheit» und «schamloser Herzenskälte», bestechlich, verlogen, den ‹Undeutschen›: den Österreicher. Jemanden so vor den eigenen Richterstuhl zu zerren, nannte Thomas Nipperdey einmal das «Schlachten der Großväter». Heinrich von Srbik, der Österreicher, schätzte – nach der Erfahrung eines barbarischen (Ersten) Weltkriegs – Metternichs europäische, dem Frieden verpflichtete Weltsicht. Ihm gelangen in seiner großen Biographie von 1925 die tiefsten und differenziertesten Einsichten, so dass er für die Metternichforschung Bleibendes geleistet hat. Doch bei aller Empathie für den Staatskanzler ließ auch Srbik sich hinreißen, ihn auf die Anklagebank zu setzen. Er habe zugelassen, dass «sein deutsches Führervolk» in dem großen Reich der «Gefahr der Verslawung» ausgesetzt wurde, habe einem «slawisierten Staat» Vorschub geleistet. Statt Metternichs Politik zu erklären, kanzelt er ihn ab nach einem Handlungsmuster, das er auf ideale Weise in dem österreichischen Ministerpräsidenten Felix Fürst zu Schwarzenberg verkörpert sah: Dieser erschien ihm als ein Tatmensch, ein schöpferischer Geist, absolutistisch dem ganzen Wesen nach, sprunghaft, rücksichtslos, ein harter Realist, der kaltblütig Machtrelationen kalkulierte ohne Rücksicht auf Legitimität und Tradition, eine politische Herrennatur und ein Kämpfer; nur sein früher Tod habe ihn gehindert, die Utopie eines großösterreichischen Imperiums in Mitteleuropa, konzentriert auf das deutsche Wesen und dessen «Blutsgemeinschaft», in die Tat umzusetzen. Diese 1925 veröffentlichten Worte verlassen den Boden rationaler Wissenschaft und versperren zugleich den Weg zum historischen Metternich. Der Engländer Alan Palmer bewies in seiner Biographie 1972 mehr Distanz und Verständnis; er war frei von dem engagierten Blick eines Deutschen auf das Lebenswerk dieses europäischen Politikers; als solcher tritt er bei ihm hervor, anschaulich und lebendig, stets in seinen konkreten Lebensbezügen, freilich auch als der eitle Höfling, der «nicht einmal ein konstruktiver Staatsmann» gewesen sei. Den Reflexionen Metternichs über die Menschen, die Politik...