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E-Book

Traditionelle Chinesische Medizin

AutorPaul U. Unschuld
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2013
ReiheBeck'sche Reihe 2796
Seitenanzahl129 Seiten
ISBN9783406656033
FormatePUB/PDF
KopierschutzDRM/Wasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Dieses Buch erläutert Ursprung und Geschichte der Chinesischen Medizin von ihren Anfängen in der Antike bis in die Gegenwart. Es schildert ihre Eigenart als säkularer Gegenentwurf zu dem bis heute in China weit verbreiteten Glauben an den Einfluß von Göttern, Ahnen und Dämonen auf die Gesundheit der Lebenden und verdeutlicht die spezifisch chinesische Weltanschauung, die dieser Heilkunde zugrunde liegt. Der Autor zeigt die Gründe auf für die zwei Jahrtausende währende Vielfalt therapeutischer Ansätze in der chinesischen Kultur und den Bedeutungsverlust der Chinesischen Medizin vor dem Hintergrund der chinesischen Reformpolitik im 20.Jahrhundert, und er beschreibt die kreative Rezeption der sogenannten Traditionellen Chinesischen Medizin in den westlichen Industrienationen seit den 1970er Jahren.

Prof. Dr. Paul U. Unschuld ist Sinologe und Medizinhistoriker und Direktor des Horst-Görtz-Stiftungsinstituts für Theorie, Geschichte und Ethik chinesischer Lebenswissenschaften der Charité-Universitätsmedizin Berlin.

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Leseprobe

9. Das Gegenmodell: Im Blickpunkt das Kranksein


Für die frühen Daoisten, die als Gruppe die nachhaltigste Gegenmeinung zu der neuen Medizin verkörperten, waren böse Geister der Unterwelt die Repräsentanten einer ewigen Bedrohung der Lebenden. Allerorten wirkten Schamanen. Sie gaben vor, mit diesen Geistern kommunizieren und sie für die Gesundung von Patienten gewinnen zu können. Diesen lokalen Kulten stellte sich nun eine ganz neue Anschauung entgegen. Sie führte zwar das Wissen um die Existenz der Dämonen aus dem Totenreich fort, aber sie verneinte den Sinn, diese bösen Kräfte für das Wohl der Menschen einsetzen zu wollen. Die Dämonen der Unterwelt, so lehrten die frühen Daoisten, sind nur fähig, den Menschen zu schaden. Zur Gesundung der Menschen müssen Götter aus dem Pantheon einer himmlischen Welt gewonnen werden.[3]

Drei Welten mit je einer eigenen Bürokratie, davon waren sie überzeugt, existieren: die des Himmels, die auf Erden und die in der Totenwelt. Der Mensch muß mit den Göttern im Himmel gegen die Kräfte der Unterwelt vorgehen. Dabei behilflich sind die gebildeten und schriftkundigen Priester des Daoismus. Ihnen gilt es zu vertrauen, nicht den wild gestikulierenden, unbeherrschten Schamanen der örtlichen Kulte. Es traf sich, daß ein neues Schriftzeichen gegen Ende der Zhou oder zu Beginn der Han-Zeit geprägt werden mußte, um das Konzept «betrügen», «falsche Rede» zu verbildlichen. Die Verantwortlichen fügten zwei ältere Schriftzeichen zusammen: «Reden», yan , und «Tänzer»/«Schamane», wu , und kreierten so das aussagekräftige Schriftzeichen wu , das noch heute im Sinne von «falsches Zeugnis ablegen» in Gebrauch ist.

Es galt, die Menschen davon zu überzeugen, daß man die bösen Geister der Totenwelt nicht als Bundesgenossen gegen das Kranksein einsetzen kann, sondern als Feinde bekämpfen muß. Die Priester boten sich an als Mittler. Sie boten ihr Wissen um das Dao, den rechten Weg, an, um den Menschen behilflich zu sein, Kranksein zu vermeiden und Krankheit zu heilen. Sie gaben vor, die himmlische Bürokratie zu kennen und von dort Hilfe herbeiholen zu können für den Kampf gegen die bösen Geister.

Die himmlischen Kräfte waren freilich, wie irdische Bundesgenossen auch, nicht umsonst zu haben. Sie mußten durch Opfergaben überzeugt werden, für die Menschen einzuschreiten. Die Bestechlichkeit auf Erden fand hier ihr Gegenstück im Himmel. Gleichzeitig wurde von den Kranken verlangt, daß sie ihre Sünden eingestehen, daß sie für eine Weile in sogenannten Ruhekammern isoliert über ihren Lebenswandel nachdachten und schließlich, daß sie durch Reue geläutert wieder in ihr normales Leben zurückkehren. Die Verfehlungen mußten verschiedenen Gottheiten mitgeteilt werden; die Priester schrieben Amulette, die verascht und in Flüssigkeit aufgelöst von den Kranken einzunehmen waren, um so in den Genuß der Hilfe der Götter gegen die bösen Totengeister zu gelangen.

So alternativ dieser heilkundliche Zugang zum Verständnis und zur Therapie von Kranksein im Vergleich mit der Medizin auch war, eine Projektion irdischer Zustände und Erfahrungen auf die angeblichen Zustände im Himmel und in der Unterwelt ist hier ebenso sichtbar wie die Projektion von Zuständen der politischen Realität auf das Innere des menschlichen Organismus in der Medizin. Beiden gemeinsam war das Versprechen, Überleben zu ermöglichen in einem von Gewalt geprägten Universum. Für die Medizin waren die Naturgesetze die «Bundesgenossen», an die es sich anzulehnen galt. Für diejenigen, die sich nicht aus dem Bewußtsein einer existentiellen Abhängigkeit zu lösen vermochten, waren es die Götter im Himmel, an die es sich anzulehnen galt.

Die neue Medizin war von der Überzeugung geleitet, daß Kenntnis und Befolgung der säkularen Naturgesetze vor jeglicher Krankheit schützen. Akupunktur und Diätetik wurden mehr zur Therapie von leichten Befindlichkeitsänderungen konzipiert als zur Behandlung bereits manifester Krankheiten. Die Pharmazie beruhte auf einem andersartigen Fundament. Kranksein ist unvermeidlich. Der Mensch muß die Gaben der Natur nutzen, um seine Krankheiten zu behandeln. Die neue Medizin distanzierte sich weitestgehend von der Anwendung der in den Mawangdui-Schriften des frühen 2. Jahrhunderts v. Chr. so eindrucksvoll beschriebenen Pharmazie. In den genannten Texten Su wen, Ling shu und Nan jing kommt der Gebrauch von Arzneimitteln nur gelegentlich zur Sprache; es sind inhaltliche Einsprengsel. Um das Jahr 200 n. Chr. schrieb ein Autor namens Zhang Ji ein Rezeptbuch, in dem er erstmals die Yin-Yang-Theorie auf die Erklärung der Wirkungen von Natursubstanzen im menschlichen Organismus anwendete. Doch die Zeit war noch nicht reif für derlei Brückenbau. Sein Werk wurde nur wenigen Menschen bekannt; es dauerte eintausend Jahre, bis es zur Song-Zeit wiederentdeckt und einer weiteren Verbreitung für würdig erachtet wurde.

In der Tang-Zeit zitierte der Arzt Sun Simiao (581–682?) in einem seiner Rezeptwerke einen angeblichen Ausspruch des Begründers des Daoismus, Lao zi:

«Daß ich leiden muß, beruht darauf, daß ich einen Körper besitze. Hätte ich keinen Körper, welche Ursache gäbe es dann für ein Leiden?»

In dem Moment, in dem der Mensch geboren wird, wird er zu Materie. Materie verrottet, dagegen hilft keinerlei noch so gut gemeintes moralisches Verhalten. Folglich kommentierte Sun Simiao den Ausspruch des Lao zi mit den Worten:

«Also, allein Form und Materie führen zu Krankheit. Nur Formlosigkeit kennt kein Leiden. Wenn nicht einmal die Weisen sich vom Leiden fernhalten können, wie könnte dies die Kerze im Winde?»

Die frühen Daoisten sahen keinen Sinn in der angeblichen Naturgesetzlichkeit von Yin und Yang und den Fünf Phasen; sie sahen auch keinen Sinn in solch großen politischen Einheiten wie dem geeinten China mit seiner Notwendigkeit von Schrift und Gesetzen, Fernverkehr, Militär und Bürokratie. Das gesamte strukturelle Umfeld, das der neuen Medizin Grundlage und Berechtigung verlieh, lehnten sie ab. In den Worten des Lao zi, dokumentiert in Kapitel 80 des Klassikers des Daoismus, Dao de jing, und hier zitiert in der Übersetzung durch Wolfgang Bauer, kommt der politische Gegenentwurf deutlich zum Ausdruck:

«Da sei ein kleines Land mit wenigen Bewohnern. Selbst wenn es Erfindungen gäbe, die zehn-, ja hundertfach an Arbeit sparen, das Volk sollte sie nicht benutzen. Die Leute würden eher zweimal sterben als auszuwandern. Da wären vielleicht Boote und Wagen, aber niemand würde in ihnen fahren. Da wären vielleicht Waffen, aber niemand würde sich an ihnen üben. Man brächte es fertig, dass das Volk außer Knoten in Schnüren keine Schrift kennt, zufrieden ist mit seinem Essen, froh mit seiner Bekleidung. Der nächste Ort mag so nah sein, dass man die Hähne krähen und die Hunde bellen hört, aber die Leute würden alt und stürben, ohne je dorthin gegangen zu sein.»

Wo keine Gesetze eingeführt sind, da reagieren die Menschen auf Probleme ad hoc. Kranksein ist unvermeidlich. Wenn es nötig ist, muß es therapiert werden. Die Fortführung der vormedizinischen Pharmazie erfolgte daher in diesem ideologischen Umfeld, nicht aber im Rahmen der neuen Medizin und schon gar nicht auf der Grundlage der säkularen Naturgesetzlichkeit von Yin-Yang und den Fünf Phasen. Zhang Ji, der hier eine Brücke zu bauen suchte, war ein Außenseiter und fand keine Nachahmer. Ein Jahrtausend lang blieb ein offenbar fast unüberwindlicher ideologischer Graben geöffnet zwischen der medizinischen Literatur mit dem Schwerpunkt einer Nadelungstherapie auf der Grundlage der relationistischen Theorien einerseits und der pharmazeutischen Literatur mit dem Wissen um eine im weitesten Sinne durch Erfahrung geprägten Arzneikunde andererseits.

Die medizinische Literatur übernahm auch das in den Mawangdui-Schriften dokumentierte Wissen um die Verursachung von Kranksein durch Kleinstlebewesen und Dämonen nicht. Weder für die Kleinstlebewesen noch für die Dämonen war ein Verhalten vorstellbar, das diese Erreger aus dem Körper fern hielt oder im Falle eines Befalls wieder entfernte. Sie tauchten daher in der neuen Medizin gar nicht mehr auf. In der pharmazeutischen Literatur waren sie dagegen weiterhin als mögliche Schädlinge, derer es sich zu erwehren gilt, anerkannt. Im Gegenzug findet sich in dieser Literatur kein Hinweis auf die Yin-Yang- und Fünf-Phasen-Lehren der systematischen Korrespondenz.

Die Arzneidrogen wurden sachlich beschrieben in einer Sprache, die auch heute noch leicht verständlich und in ihren Aussagen nachvollziehbar ist. Vier Beispiele mögen dies verdeutlichen. In der Monographie der Kroton-Samen, ba dou , finden wir die auch in Europas historischen Arzneibüchern beschriebenen extrem kräftigen abführenden Wirkungen. Die bewusstseinsverändernde Kraft des Stechapfels, lang dang , ist auch in Europa seit vielen Jahrhunderten beschrieben worden. Für die angeblich psychotropen...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Cover1
Titel4
Zum Buch
3
Über den Autor
3
Impressum5
Inhalt6
Einführung8
Teil I: Die historischen Grundlagen12
1. Ursprung und Eigenart der Chinesischen Medizin12
2. Die existentielle Fremdbestimmung14
3. Die Sehnsucht nach existentieller Selbstbestimmung17
4. Zitate aus dem medizinischen Klassiker21
5. Die Normalität der Gewalt25
6. Die Mawangdui-Texte27
7. Körperaufbau, Physiologie und Pathologie der neuen Medizin28
8. Die mangelnde Überzeugungskraft der neuen Medizin35
9. Das Gegenmodell: Im Blickpunkt das Kranksein38
10. Die radikale Heilung: Leben als Krankheit an sich43
11. Zwischen Antike und Neuzeit48
11.1. Brückenbau und Pharmakologie51
11.2. Die handschriftliche Dokumentation52
11.3. Arzneitherapie54
11.4. Akupunktur und Übriges56
12. Zwei ärztliche Autoren in der Ming- und Qing-Zeit58
12.1. Wan Quan59
12.2. Xu Dachun67
Teil II: Neuzeit und Gegenwart76
13. Die Konfrontation mit westlicher Lebensart76
14. Die Überzeugungskraft der westlichen Medizin81
15. Die Meinungen der Intellektuellen und Politiker85
16. Die Auswahl92
17. Die Überraschung99
18. Die kreative Rezeption im Westen101
19. Die Versachlichung der Diskussion. Chance und Herausforderung114
Anmerkungen124
Register126

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