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E-Book

Das Theater der Gegenwart

AutorAndreas Englhart
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2013
ReiheBeck'sche Reihe 2779
Seitenanzahl128 Seiten
ISBN9783406654770
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Das deutschsprachige Gegenwartstheater gilt vielen als verrückt oder zumindest weitgehend unverständlich. Andere halten deutschsprachige Ensemble- und Repertoiretheater für die weltweit avanciertesten. Sicher ist, dass das Regietheater kaum einen kalt lässt oder langweilt, obwohl es bereits ein halbes Jahrhundert alt ist. Wer es besser verstehen will, dem sei diese kleine Einführung empfohlen. Der Band bietet einen informativen Überblick über die Ästhetiken, Institutionen, Produktionsprozesse und Persönlichkeiten der heutigen Bühne. Es skizziert die Entwicklung und Ausdifferenzierung des Theaters seit den 1960er Jahren: seine Entstehung u.a. mit Hilfe von Erwin Piscator und Fritz Kortner; die Etablierung der jungen Regie mit Peter Zadek, Peter Stein und Claus Peymann; das postmoderne Theater der 1980er Jahre mit Bob Wilson und Heiner Müller; das Theater nach der Wiedervereinigung mit Frank Castorf, Christoph Marthaler, Andreas Kriegenburg und Christoph Schlingensief, und das postironische Theater nach der Jahrtausendwende mit Thomas Ostermeier, Michael Thalheimer, Johan Simons, Rimini Protokoll und Luk Perceval. Deutlich werden Traditionslinien, ambivalente Tendenzen, revolutionäre Brüche und ästhetische Schwerpunkte eines gerade in unsicheren Zeiten hochaktuellen Mediums.

Andreas Englhart lehrt als Professor Theaterwissenschaft an der LMU München.

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Leseprobe

II. Der Beginn des Gegenwartstheaters in den 1960er Jahren


1. ‹Traditionelle› Strukturen


Die Geschichte des Gegenwartstheaters kann auch als die des Regietheaters seit den 1960er Jahren bezeichnet werden. Damit wird zur Orientierung eine Zäsur zwischen das traditionelle Theater der Nachkriegszeit und den innovativen Theaterformen des bewegten Jahrzehnts vor 1968, der Zeit der Counter Culture, gesetzt. Das Regietheater opponierte gegen das texttreue, konventionelle Theater der 1950er Jahre. Aus heutiger Sicht traditionelles Theater in der restaurativen Adenauer- und (zwangs)sozialistischen Ulbrichtzeit war jedoch durchaus innovativ, was die zeitgenössischen Theatertexte betraf. Aus dem angelsächsischen Raum erfuhr die Bühne neue Einflüsse innerhalb des Reeducation-Programms der Besatzungsmächte. Von den Amerikanern, weniger von den Briten, wurden Stücke wie Thornton Wilders Unsere kleine Stadt (1938) den Theatern zur Verfügung gestellt, die auch durchaus beliebt waren. Dem folgten Edward Albee, William Faulkner, Tennessee Williams und George Bernard Shaw. Aus Frankreich kamen Jean Anouilh, Paul Claudel, Albert Camus und Jean-Paul Sartre, in der sowjetisch besetzten Zone sah man Stücke im Geist des sozialistischen Realismus mit klassenkämpferischen Inhalten. Traditionell war das Theater jedoch als Institution und in der Inszenierung. In den Theatern fand nach 1945 im Gegensatz zu anderen gesellschaftlichen Bereichen keine durchgreifende Entnazifizierung statt. Zum einen blieben viele Künstler im Geschäft, die unter den Nationalsozialisten reüssiert hatten, z.B. Gustaf Gründgens, Heinz Hilpert und Karl-Heinz Stroux, zum anderen herrschten Intendanten, auch wenn sie der unbelasteten Zwischengeneration angehörten, weiterhin wie Fürsten von Kleinstaaten, etwa August Everding in München, Harry Buckwitz in Frankfurt oder Boleslaw Barlog in Berlin. Auf den Bühnen pflegte man einen konventionell-literarischen Aufführungsstil. Gründgens verfolgte die wertebezogene Pflege der Klassiker, hielt sehr viel von ‹Werktreue› – angeblich schon unter der NS-Diktatur eine still-subversive Methode, um Zensureingriffe zu vermeiden. Er verweigerte die Historisierung der Stücke und vernachlässigte gesellschaftliche Faktoren, während er das geistig Wesentliche in der Abstraktion und Stilisierung suchte. Das änderte sich mit den Remigranten Fritz Kortner und Erwin Piscator, die dem formalistischen Leerlauf, der affektiven Rhetorik und dem Pathos des westdeutschen Theaters durch leidenschaftliche Vernunft, durch Inhalte und die Orientierung an gesellschaftlichen Tatbeständen begegneten.

Allgemein wurden in den 1950er Jahren Aktualisierungen und Bezüge zur außertheatralen Wirklichkeit sparsam eingestreut. Die Schauspieler legten weit mehr Wert auf Verständlichkeit, man bemühte sich um annähernd artistisches Schauspielniveau, frei von zu aufdringlicher Natürlichkeit. Erwünscht war eine klare Rhetorik, man demonstrierte eigene Kunstfertigkeit, durchaus nicht ohne heroische Charakterisierung, die jedoch immer im Dienste der einfachen inhaltlichen Vermittlung von der Bühne zum Zuschauerraum stand. Dies konnte jedoch auch als hohles Pathos, als letztlich in der festen Form unredliche theatrale Nachlässigkeit, als sogenannter Reichskanzleistil, der mit leisetreterischer Privatheit und gespielter nobler Zurückhaltung einherging, kritisiert werden. Alle Mittel der Inszenierung arbeiteten einer fast klassizistischen Stilisierung zu, sodass das Theater einen in sich abgeschlossenen Eindruck machte. Die herrschende Vorstellungswelt war eine existenzialistische, das Leid, die sozialen Missstände und alltäglichen Probleme der Menschen wurden von der Bühne her als Schicksal gedeutet, das den Menschen seit der Vertreibung aus dem Paradies anhing und auch in Zukunft drohte.

Die restaurative Zeit war dennoch nicht frei von Zwistigkeiten und Skandalen. Im Osten Berlins etablierte sich innerhalb des vorherrschenden sozialistischen Realismus der listige Brecht mit seinem epischen Schauspielstil, der ständig den Verdacht des unerwünschten Formalismus nährte. Im Westen sorgte der 1947 remigrierte Kortner für Unruhe, da er zielstrebig, rücksichtslos und nicht ohne Druck in den Proben den Kern einer Rolle freizulegen suchte, um jede Falschheit und Künstlichkeit auszumerzen. Seine Inszenierung von Schillers Don Carlos im Berliner Hebbel Theater erzeugte 1950 einen Skandal, da Kortner traditionelle Idealisierung mied und alle Rollen auf identifikationsfähiges Menschenmaß herabsetzte, die Figuren über die Kostüme aktualisierte – Carlos trug einen Overall, Alba einen Lederanzug – und die Intrige im Palast als schmutziges politisches Ränkespiel offenbarte. Frische Luft importierte man aus Paris mit den Dramen von Camus und Sartre, dort hatte man den raunenden Heidegger als Philosophie der radikalen Freiheit uminterpretiert. Camus’ Mythos des Sisyphos (1942) inspirierte das Theater des Absurden, die Stücke von Samuel Beckett und Eugène Ionesco eroberten die westdeutschen Bühnen. Brechts und Piscators episches Theater, Kortners Entidealisierungen und das absurde Theater legten zusammen mit dem weitgehend unbeachteten Untitled Event (1952) von John Cage, Robert Rauschenberg und Merce Cunningham am Black Mountain College in den USA den Keim für die theatrale Revolution der 1960er Jahre. Nicht zu vergessen wären die frechen Grotesken Friedrich Dürrenmatts, insbesondere Der Besuch der alten Dame (1956) und Die Physiker (1961), die bis heute eher als Schullektüre denn in spannenden Inszenierungen überlebt haben.

2. Dokumentartheater und Volksstück


In den 1960er Jahren drängte die Wirklichkeit manifest auf die Bühne. Oder anders gesagt: Eine Verdrängung auf mentaler wie auch auf gesellschaftspolitischer Ebene war immer weniger möglich. Schon Kortner provozierte einen radikalen Prozess der Zersetzung, er könnte als Vorläufer des dekonstruktivistischen Gegenwartstheaters angesehen werden. Es ging ihm darum, dasjenige aufzubrechen und freizulegen, was man bis dahin ideologisch und in der Alltagspraxis als Lebenslügen verborgen oder zur Unkenntlichkeit verzerrt hatte. Neben Kortner spielte der zweite wichtige Regieinnovator, Piscator, eine bestimmende Rolle, der mit seinem Agitprop-Stil, seiner Simultanbühne und seinem effektvollen Einsatz neuer Medien in den 1920er Jahren nicht nur das epische als politisches Theater begründet hatte, sondern auch als erster Vertreter des Regisseurstheaters gelten kann. Mit ihnen und Brecht sowie der Erinnerung an das die aktuellen Verhältnisse ins Zentrum stellende Zeitstück der 1920er Jahre, etwa von Ferdinand Bruckner, knüpfte das deutschsprachige Theater nicht ohne institutionelle und politische Widerstände an die große Tradition der Weimarer Republik an. Erst mit dieser nicht nur dramatischen und inhaltlichen, sondern vor allem inszenatorischen und formalen Politisierung erlangte das deutschsprachige Theater wieder Weltgeltung. Diese Politisierung des Theaters in den 1960er Jahren ging von der Protestbereitschaft der Nachgeborenen gegen ihre in der NS-Zeit belasteten Väter aus. 1961 begann in Jerusalem der Prozess gegen Adolf Eichmann, Hannah Arendt entwickelte als Prozessbeobachterin ihre These von der Banalität des Bösen. In Westdeutschland wurden die Auschwitzprozesse von 1963–1965 in Frankfurt/M. als größter Kriegsverbrecherprozess des Landes zu einem gesamtgesellschaftlich wichtigen Ereignis, das die Grundlage für Peter Weiss’ Die Ermittlung lieferte, die 1966 als TV-Film sogar im deutschen Fernsehen zu sehen war.

In dieser Zeit änderte sich die Bundesrepublik mentalitätsgeschichtlich betrachtet von Grund auf, wobei das Theater noch als gesellschaftspolitisches Leitmedium fungierte. Jean-Luc Godards Film Außer Atem und Ornette Colemans Album Free Jazz markierten 1959 den hoffnungsvollen Anfang einer kulturell-gesellschaftlichen Liberalisierung, die bis zum heißen Herbst der RAF 1977 anhielt. Nachdem der remigrierte Piscator über lange restaurative Jahre hinweg einflusslos in der Provinz hatte arbeiten müssen, konnte er 1962 die Leitung der Westberliner Freien Volksbühne, des westlichen Spiegelbildes der traditionellen Volksbühne hinter dem Alexanderplatz, übernehmen. Das nun lebendige Haus, in dessen Neubau heute das Zentrum des Berliner Theatertreffens beheimatet ist, wurde zum Mittelpunkt harter politischer Auseinandersetzungen, die Piscator ebenso durch seine Stückauswahl wie durch seinen Inszenierungsstil provozierte. Dort setzte er auch wieder theaterhistorische Akzente, indem er der neuen Dramatik des Dokumentartheaters zum Aufstieg verhalf. Ohne Zweifel gebührt Rolf Hochhuth die Ehre, mit seinem auch heute noch kontrovers diskutierten Stück Der Stellvertreter (1963) nicht nur einen Aufsehen erregenden Skandal ausgelöst, sondern zugleich den Beginn einer neuen Theaterästhetik eingeleitet zu haben. Dies galt zunächst auf inhaltlich politischer und weniger auf formal-inszenatorischer Ebene, denn das Stück war noch sehr dialoglastig und konventionell dramatisch. Hochhuth hat sich erkennbar an Schillers Geschichtsdramen orientiert, die Dokumente sind eher Fußnoten. Nach Piscators Uraufführung wurde es weltweit inszeniert, unter anderem von Peter Brook in Paris. In dieser Zeit konnte das Stück...

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