Exkurs: Die ICF als Klassifikation von Funktionsfähigkeit, Behinderung und Ge- 2001 als Nachfolgerin der „Internationalen Klassifikation der Schädigungen, Funktionseinschränkungen und Behinderungen“ (ICIDH) (1980) von der World Health Organisation (WHO) verabschiedet, ermöglicht die ICF durch eine Zusammenführung der medizinischen und sozialen Erklärungsmodelle von Behinderung einen mehrperspektivischen Zugang zu diesem Sujet im Sinne eines interaktiven Prozesses (Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information [DIMDI] 2005, S. 21). Die Grundannahme der medizinischen Herangehensweise besteht darin, dass eine Abweichung von bestimmten gesundheitlichen Normvorstellungen vorliegt. Die Behinderung stellt ein Problem dar, dessen Lösung bei der betroffenen Person ansetzt (ebd., S. 24). Medizinische Versorgung ist demnach vonnöten, um Gesundheit, Leistungsfä- higkeit und Normalität weitestgehend wieder herzustellen. Das soziale Modell sieht „Behinderung nicht als eine einer Person innewohnenden Eigenschaft, sondern als Produkt des sozialen Kontextes und Umfelds dieser Person, einschließlich der physischen Strukturen dieses Umfelds (Gebäudekonstruktionen, Beförderungssysteme, usw.) sowie der sozialen Konstrukte und Überzeugungen, die zur Diskriminierung behinderter Menschen führen“ (Europäische Kommission 2002, S. 21). Folglich gilt nicht die betroffene Person als Ausgangspunkt des Nachdenkens über Behinderung und Hilfsmaßnahmen, sondern vielmehr die Gesellschaft, das Verhalten der Umwelt (DIMDI 2005, S. 25).
Mit der ICF wurde eine durch die ICIDH bereits eingeleitete Wende in der Sichtweise von Behinderung als nicht mehr ausschließlich schädigungsorientiert fortgeführt und
2 Theoretischer Teil
____________________________________________________________________________ ein biopsychosozialer Ansatz geschaffen (DIMDI 2005, S. 24), in den biologische, psychologische, soziale und kulturelle Aspekte einbezogen werden. An die Stelle der ursprünglich gegebenen Klassifikation von Krankheitsfolgen trat eine Klassifikation von Komponenten der Gesundheit (ebd., S. 10) und damit eine noch stärkere Distanzierung von einem defizitorientierten Verständnis von Behinderung. Entgegen der weit verbreiteten Annahme, dass diese Klassifikation nur auf Menschen mit Behinderungen anzuwenden sei, kann die ICF auf alle Menschen bezogen werden (DIMDI 2005, S. 8). Als eine aus der Ausgestaltung der ICF erwachsende Konsequenz ist die Tatsache zu sehen, dass die reine Funktionsfähigkeit und die Beschreibung des Gesundheitszustandes eines Menschen um die Betrachtung der jeweiligen Kontextfaktoren seiner Lebenswirklichkeit und seines individuellen Lebenshintergrunds ergänzt werden (ebd., S. 21). Einen Teil dieser Lebenswelt bildet etwa das schulische Bedingungsfeld, das im Rahmen der vorliegenden Arbeit eine maßgebliche Rolle spielt und mit Blick auf eine Wechselwirkung mit den besonderen Bedürfnislagen der Zielgruppe der Schüler mit einer Hörbeeinträchtigung analysiert werden soll.
Geltungs- und Anwendungsbereich der ICF
Die in Bezug auf die Erfassung der Situation relevanten Informationen umfassen innerhalb der ICF folgende Bereiche: Es werden die Funktionsfähigkeit und die Behinderung einer Person ebenso erhoben wie die Kontextfaktoren. Jeder dieser beiden Teile setzt sich aus zwei Komponenten zusammen (DIMDI 2005, S. 9).
Der erste Teil, der die Funktionsfähigkeit und Behinderung fokussiert, beinhaltet einerseits die Komponente des Körpers, konkret die Körperfunktionen (Wahrnehmung, Sprache) und die Körperstrukturen (Organe, Gliedmaßen), sowie andererseits die Komponente der Aktivität (Durchführung einer Aufgabe oder einer Handlung) und Partizipation (Teilhabe, das Einbezogensein in Lebenssituationen) (DIMDI 2005, S. 9). Bei der ersten Komponente handelt es sich um individuelle, mittels einer Standardnorm zu erhebende körperliche Voraussetzungen, wohingegen zur näheren Bestimmung von Aktivität und Partizipation die Beurteilungsmerkmale Leistung als Maß des Agierens einer Person in ihrer Umwelt und Leistungsfähigkeit als Fähigkeit eines Menschen zur Ausführung von Handlungen herangezogen werden (ebd., S. 145ff.). Die verschiedenen hierfür als Grundlage dienenden Domänen der Aktivität und der Partizipation sind in einer einzigen, alle Lebensbereiche umfassenden Liste enthalten. Insgesamt sind es neun: „Lernen und Wissensanwendung, allgemeine Aufgaben und Anforderungen, Kommunikation, Mobilität, Selbstversorgung, häusliches Leben, interpersonelle Interaktion und
2 Theoretischer Teil
____________________________________________________________________________ Beziehung, bedeutende Lebensbereiche, Gemeinschafts-, soziales und staatsbürgerliches Leben“ (DIMDI 2005, S. 16). Im zweiten Teil der ICF werden die Kontextfaktoren thematisiert, wobei zwischen umwelt- und personenbezogenen Faktoren unterschieden wird. Unter die erstere Kategorie fallen die materiellen, sozialen und einstellungsbezogenen Umweltgegebenheiten, die einen positiven oder negativen Einfluss auf die Situation einer Person ausüben können, indem sie sich fördernd oder hemmend auf die Leistung und Leistungsfähigkeit eines Menschen und somit auf seine Funktionsfähigkeit auswirken. Hieraus lassen sich Maßnahmen zur Verbesserung der Leistung und zur Erhöhung der Aktivitäten und Partizipation einer Person ableiten (DIMDI 2005, S. 19f.). Die personenbezogenen Faktoren sind in der ICF aufgrund ihrer vom soziokulturellen Bedingungsgefüge abhängigen Unterschiede nicht klassifiziert worden (ebd., S. 9). Zu ihnen zählen unter anderem Alter, Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, sozialer Hintergrund, Ausbildung, Erziehung, Erfahrungen und Bewältigungsstile, also nicht primä- re, aber für Interventionen maßgebliche Teile des Gesundheitsproblems eines Menschen (DIMDI 2005, S. 20).
Aus der folgenden Grafik wird das Zusammenspiel der einzelnen, das Entstehen einer Behinderung beeinflussenden Komponenten ersichtlich:
Abbildung 3: Wechselwirkung zwischen den Komponenten der ICF (DIMDI 2005, S. 23)
36
2 Theoretischer Teil
____________________________________________________________________________ verwendeten und für die vorliegende Arbeit relevanten Begrifflichkeiten eingegangen werden.
Behinderung wird im Rahmen der ICF als Oberbegriff für Schädigungen (Funktionsstö- rungen, Strukturschäden et cetera), Aktivitätseinschränkungen und Beeinträchtigungen der Partizipation verwendet. Der Begriff bezeichnet „die negativen Aspekte der Interaktion zwischen einer Person mit einem Gesundheitsproblem und ihren Kontextfaktoren (umwelt- und personenbezogene Faktoren)“ (DIMDI 2005, S. 271). Der Begriff der Funktionsfähigkeit wird in dem Zusammenhang als Oberbegriff für Körperfunktionen, Körperstrukturen, Aktivitäten und Partizipation verwendet. Er bezeichnet die positiven Aspekte der Interaktion zwischen einer Person (mit einem Gesundheitsproblem) und ihren Kontextfaktoren (umwelt- und personenbezogene Faktoren). Der Begriff der Schädigung beinhaltet eine Beeinträchtigung einer Körperfunktion oder -struktur im Sinne einer wesentlichen Abweichung von der Populationsnorm (ebd., S. 272). Die entsprechende Festlegung erfolgt durch hinreichend qualifiziertes Fachpersonal, das auch geringfügige Veränderungen und zeitliche Schwankungen mit berücksichtigt.
Schädigungen können darüber hinaus aufgrund der weiten Begriffsfassung Ausdruck eines Gesundheitsproblems sein, ohne jedoch das Vorhandensein einer Krankheit zu implizieren. Beispielsweise stellt der Verlust von Gliedmaßen eine Schädigung einer Körperstruktur dar, bedeutet „aber im strengen Sinn keine Gesundheitsstörung oder Krankheit“ (DIMDI 2005, S. 14). Zusätzlich charakterisiert ist der Schädigungsbegriff dadurch, dass er das Entstehen weiterer Beeinträchtigungen der Körperfunktion nach sich ziehen kann.
In der ICF wird der Begriff der Behinderung, wie zuvor angeführt, auch als ein Oberbegriff für Beeinträchtigungen verwendet, wobei zwischen Beeinträchtigungen der Aktivität und der Partizipation eines Individuums unterschieden wird (ebd., S. 271). Als Beeinträchtigung einer Aktivität ist laut ICF „eine quantitative oder qualitative Abweichung in der Durchführung der Aktivität bezüglich Art oder Umfang“ (DIMDI 2005, S. 272) zu beschreiben. Beeinträchtigungen der Partizipation liegen vor, wenn es zu Einschränkungen im Hinblick auf das Einbezogensein eines Menschen in bestimmte Lebenssituationen kommt (ebd., S. 16).
In den nun folgenden Abschnitten wird das oben dargestellte biopsychosoziale Modell auf die Situation von Schülern mit einer Beeinträchtigung im Bereich des Hörens angewendet. In diesem Zusammenhang werden dem wissenschaftlichen Diskurs Informationen, Bewertungen und Ergebnisse empirischer Studien entnommen und den einzelnen Komponenten der ICF zugeordnet. Grundlage für diese Zuordnung bildet die
2 Theoretischer...