Die nackte Glühbirne an der Zimmerdecke wirft einen gelblichen Schein über die Wand. Kurz vor der Sockelleiste geht der Farbverlauf in sattes Grün über – die Reflexion des Kunstrasens, der in meinem Acht-Quadratmeter-Zimmer als Teppich dient. Es ist Januar und der diesjährige Winter ungewöhnlich kalt. Die Straßen der hessischen Landeshauptstadt werden schon seit Wochen von gefrorenem Schnee gesäumt. Untypisch für eine Stadt wie Wiesbaden, in der sich üblicherweise die Wärme staut.
Seit zwei Monaten bewohne ich das Zimmer unter dem Dach in der Klarenthaler Straße. Für gewöhnlich nutzt es die Studenten-WG im fünften Stock als Abstellraum. Um mich herum vergessenes oder aussortiertes Gerümpel. Es gibt Licht, eine Steckdose und eine Heizung. Außerdem habe ich eine Platte auf zwei Holzböcke gelegt. Meine Arbeitsfläche. Nur der Umstand, dass ich kein Badezimmer und keine Küche habe, somit für Dusch- und Toilettengänge oder einen wärmenden Tee den unliebsamen Gang treppab machen muss, schmälert mein Übergangszuhause. Ich hasse die Kälte. Dabei könnte ich mich jetzt in Kopenhagen neben Metteline aufs Sofa kuscheln, wir könnten es uns mit heißem Tee und einer DVD hyggelig machen, wie man die Extremform der Gemütlichkeit auf Dänisch nennt. Seit einem Dreivierteljahr sind wir ein Paar, kennengelernt haben wir uns während meiner letzten Reise durch Südostasien und das östliche Indien.
Die Bootsfahrt in Laos geht mir dieser Tage häufig durch den Kopf, denn sie ist der Grund für mein Hiersein. Es wird immer diese Geschichte sein, die ich auf die Frage hin erzähle, was mich nach dem Reisen hat süchtig werden lassen. Wie ein Musiker, der sich an das erste Lied erinnert, das er auf seinem Instrument beherrschte. Die erste Freundin, der erste Kuss, das erste Mal Sex. Es ist etwas, was nicht wiederholt werden kann. Der erstmalige Genuss, der einen auf den Geschmack bringt. Jo und Jeff sind immer noch ein Paar. Sie arbeiten gerade auf einer Farm in Neuseeland, um sich ihre nächste Reise zusammenzusparen.
Schon als ich an meiner Diplomarbeit im Fach Innenarchitektur werkelte, kam das Fernweh. Nach meinem Abschluss würde ich wieder losziehen – und diesmal nicht nur für zwei oder drei Monate. Ich wollte länger fortbleiben, umherreisen und das Leben in der weiten Welt erkunden. Aber auch Karriere war ein Begriff, den ich trotz vorhandenem Aussteigergen nicht aus meiner Effizienzdenkweise löschen konnte. Ich steckte in einer Zwickmühle. Einerseits wollte ich meiner kreativen Leidenschaft nachgehen, andererseits aber nicht zu Hause oder im Büro am Schreibtisch sitzen. Es war die Gleichförmigkeit des Alltags, die mir zu schaffen machte. Das Aufstehen am Morgen in der Gewissheit, dass dieser Tag genauso verlaufen würde wie der vorangegangene. Mir fehlten die Überraschungen, die Abenteuer.
Auf der Suche nach einer Möglichkeit, meinen Traumjob und meine Reiselust unter einen Hut zu bringen, stieß ich auf eine mittelalterliche Tradition: die Walz des Handwerksgesellen. Die Burschen in schwarzer Tracht, mit Schlaghosen, Schlapphut und Wanderstock kennt man ja. Im Mittelalter musste ein Handwerker, der seine Ausbildung abgeschlossen hatte, für eine bestimmte Zeit auf Wanderschaft gehen, wenn er den Meistertitel erwerben wollte. Man ging davon aus, dass ein Wandergeselle als ein weiser, weltoffener und an Erfahrungen reicher Mensch von der Walz heimkehren würde, als jemand, der sich zu einer echten Persönlichkeit entwickelt hatte, ein Furchtloser, den die Kulturen der Welt und die Weite des Universums nicht schreckten.
Könnte auch ich dahin kommen? Das wollte ich, unbedingt. Ich recherchierte die Regeln der Walz, übersetzte sie in das Medienzeitalter und passte sie meinem Berufsstand an. Bald standen meine zehn persönlichen Regeln der Walz:
1. Design statt Handwerk: Ich nehme Kurzjobs in Architekturbüros, Werbeagenturen, bei Graphikern, Fotografen usw. an, anstatt in Schreinereien oder als Handwerker auf dem Bau zu arbeiten.
2. ALLES wird mir eine Lehre sein – ob Baustellenbetreuung, Kampagnenentwürfe, Regieassistenz oder der Büroklassiker: Kaffee kochen.
3. Erfahrungsreichtum statt Geldsegen: Auf der Walz arbeite ich lediglich für Kost und Logis – egal ob Brotkanten oder Dreigängemenü, Matratze, Sofa oder Himmelbett.
4. Alles inklusive: Jedwedes zum Arbeiten benötigte Material und Equipment reisen mit, so dass kein zusätzlicher Arbeitsplatz bereitgestellt werden muss. Darunter fallen die üblichen Arbeitsgeräte wie Laptop, Fotokamera etc.
5. Zur Walz gehört ein Tagebuch. Meines heißt: Stories of A Journeyman und ist ein Onlineblog.
6. Von Haus zu Haus: Ein Arbeitsverhältnis dauert etwa einen Monat, Verlängerungen sind die Ausnahme.
7. Sperrgebiet: Es ist mir nicht erlaubt, mich meinem Heimatort auf weniger als 300 km zu nähern.
8. Auszeit: Die Reise soll mindestens ein Jahr, aber nicht länger als zwei dauern.
9. Querweltein: Innerhalb dieser Zeit leiste ich mindestens einen Job auf allen bevölkerten Kontinenten der Erde ab; darunter fallen Europa, Asien, Afrika, Nordamerika, Südamerika und Australien.
10. Der Weg ist das Ziel: Die Route wird nicht im Vorhinein festgelegt, sie ergibt sich auf der Walz.
Ursprünglich wollte ich im Fernen Osten starten. Doch Japan erwies sich als ungeeigneter Ort für einen Walz-Anfänger wie mich. Tokio würde kaum einen Einwohner haben, der mir auch nur einen Quadratmeter Platz überlassen könnte. Als einer meiner ehemaligen Professoren von meinem Plan erfuhr, bot er mir an, bei einem Kollegen in der chinesischen Metropole Schanghai anzufragen, ob er einen Arbeitsplatz für mich habe. Noch vor Antritt meiner Reise fand ich den für mich strittigsten Punkt meiner Agenda bestätigt – es erwies sich als sinnvoll, sich nicht von vornherein auf bestimmte Orte festzulegen. Man weiß nie, wer auf einen zukommt; Kontakte sind hilfreich.
Der Plan war geschmiedet, aus dem Feuer geholt und ins kühlende Wasserbad getaucht worden. Er war nun bereit für die Umsetzung. Doch ich war es nicht. Zur Absicherung wollte ich mir ein kleines Guthaben ansparen. 3000 Euro sollten nach meiner Einschätzung reichen. Aber die Auftragslage war schlecht. Immer wieder flatterten mir Rechnungen ins Haus, hinzu kamen die üblichen Fixkosten; ich musste doch weiterhin meine Miete bezahlen. Bekam ich das Honorar für einen Job überwiesen, war die Summe gleich darauf auf dem Weg zu einem anderen Konto. Ein halbes Jahr ging das so. Ich musste handeln, wollte ich meinen Plan nicht aus den Augen und später aus dem Sinn verlieren. Also entschloss ich mich, meine Sachen in Kartons zu verstauen und mir bis zu dem Zeitpunkt meiner Abreise ein günstiges Zimmer zu suchen. War diese Entscheidung voreilig? Und was würde aus Metteline werden? Was würde aus uns als Paar werden? Schon als wir uns kennenlernten, erzählte ich ihr von meinem Plan, meinem großen Traum, und wir standen vor der Frage, ob eine Beziehung unter diesen Umständen überhaupt Sinn ergab. Aber ergibt Liebe überhaupt je einen Sinn?
»Schaffen wir das?«, fragte ich sie.
»Wir schaffen das«, war ihre Antwort.
So finde ich mich in dem Zimmer wieder, das mir für ein paar verbleibende Tage Unterschlupf gewährt. Alle Rechnungen sind bezahlt, alle Schulden beglichen. Höchste Zeit, mich im Architekturbüro in Schanghai zu melden.
»Ni hao. Ich würde gerne mit Yan Weng sprechen.«
»Haben Sie einen Termin?«, fragt eine Frauenstimme mit chinesischem Akzent.
»Ja, habe ich.« Was soll ich auch anderes sagen.
»Ja, hallo?«, meldet sich eine Männerstimme.
»Hallo, Herr Weng, Fabian Sixtus Körner hier. Mein Professor, Herr Stange, sagte, ich dürfe mich bei Ihnen melden. Es geht um einen Job.«
»Ja«, ist seine knappe Erwiderung.
»Ich wollte Sie fragen, ob Sie meinen Plan kennen? Und hätten Sie etwas für mich zu tun?«
»Etwas zu tun hätten wir schon. Komm doch nächsten Montag vorbei, dann besprechen wir das.«
Wie bitte? Offenbar weiß er nicht, dass ich noch in Deutschland bin.
»Das wird etwas knapp. Ich bräuchte schon noch zwei Wochen, um hier alles zu regeln.«
»Dann komm doch am Montag in zwei Wochen vorbei.«
»Alles klar. Dann melde ich mich bei Ihnen, wenn ich in Schanghai angekommen bin.«
»Okay, dann schauen wir mal.«
Okay, dann schauen wir eben mal. Was soll schon schiefgehen? Wenn ich den Job nicht bekomme, suche ich mir eben vor Ort etwas anderes. Ich merke, dass ich etwas trotzig reagiere, aber was bleibt mir anderes übrig, als die Gelegenheit beim Schopf zu packen? Es ist die Chance, endlich einen Anfang zu finden.
Vom Honorar meines letzten Auftragsjobs habe ich mir ein One-Way-Ticket Frankfurt–Schanghai gekauft. Die letzte Nacht in meinem Wiesbadener Transitzimmer ist gekommen. Ich habe 200 Euro in bar, 255,69 Euro auf dem Konto und bin allein mit meinen herumschwirrenden Gedanken. Habe ich wirklich die richtige Entscheidung getroffen?
Fakt ist: Ich habe kein Geld. Aber nur weil ich kein Geld habe, bin ich noch lange nicht arm.
Falls ich wirklich in Schanghai stranden sollte, könnte ich auf meine Familie und meine Freunde...