Das liberale Reichsvolksschulgesetz 1869 unter dem Unterrichtsminister Leopold Ritter Hasner von Artha bringt die 3-jährige Bürgerschule hervor. Der Widerstand gegen dieses Pflicht-Schulgesetzwerk ist groß. Die Ständisch-Konservativen, die Konfessionellen und die Föderalisten haben gegen die gottlose Neuschule Stellung bezogen. Eine heute noch in gewandelter Form oft zu hörende Argumentation ist, dass durch mehr Bildung niemand mehr arbeiten will. Man fürchtete sich von gelehrten Bauernkindern mit 15 Jahren, nach der 8- jährigen Schulpflicht. Die Privilegien der Besitzbürger werden ebenfalls schonungslos formuliert:
„Die Welt ist so beschaffen, dass nicht alle bemittelt sein können und dass derjenige, welcher nicht reich ist und alle Mittel dazu besitzt, unmöglich die höhere Bildungsstufe erreichen kann.“[5]
Es gibt damals auch aufgeschlossene Geister, die sehen dieses Volksschulgesetz als zukunftweisend und modern sehen. Es wird entschieden mit den veralteten Schultraditionen gebrochen. Das Reichsvolksschulgesetz 1869 ersetzt die politische Schulverfassung von 1805. Das Reichsvolksschulgesetz wird von Kaiser Franz-Joseph am 17. Mai 1869 sanktioniert. Dieses Kulturgesetz beeinflusst und prägt die österreichische Volksbildung bis in die Gegenwart, wodurch die bereits längst fällige Politische Schulverfassung 1805 abgelöst wird:
- Allen Kindern soll eine grundlegende allgemeine Bildung durch die neue Volksschule geboten werden. Die einheitliche 4- jährige Volksschul-Unterstufe stößt bald auf eine allgemeine Akzeptanz.
- Die Volksschule tritt an die Stelle der Trivial- und Hauptschule. Die neue Volksschule sollte eine interkonfessionelle und öffentliche Schule sein.
- Die Lehrgegenstände sind: Religion, Lesen und Schreiben, Rechnen in Verbindung der geometrischen Formenlehre, Unterrichtssprache, Naturgeschichte, Naturlehre, Geographie und Geschichte mit Berücksichtigung des Vaterlandes und dessen Verfassung, Zeichnen, Gesang, Handarbeiten für Mädchen und Turnen für Knaben.
- Für die Religion sind die Kirchenbehörden zuständig, wobei der konfessionelle Charakter der Volksschule überwunden wird. Religion ist nicht mehr Hauptgegenstand, dem sich alle anderen Fächer unterzuordnen haben. Dieser Reformschritt kündigt sich bereits bei der Revolution 1848 an.
- In größeren Städten sollen neben den 8- jährigen Allgemeinen Volksschule auch Bürgerschulen entstehen. Die Bürgerschulen können 8- jährig geführt werden, wobei diese 3- jährig nach der Volksschule geführt werden können. Die RVG-Novelle hebt die 8- jährige Bürgerschule auf und wird nur mehr 3- jährig geführt. Die Bürgerschule ist eine gehobene Volksschule an der Oberstufe. Der Charakter einer Standesschule der Bürgerschule wird dadurch etwas eingeschränkt.
- Die Fabrikschulen werden allerdings durch das Reichsvolksschulgesetz nicht beseitigt, wobei die Unterrichtsdauer mindestens zwölf Wochenstunden betragen muss.
- Die Volksschule erhält einen Lehrplan, dessen Lehrstoff jahresmäßig aufgeteilt wird.
- Die Schulpflicht beträgt acht Jahre, wobei diese durch Zwangsmittel durchgesetzt werden kann.
- Für die Errichtung der Volksschulen sind die Ortsgemeinden zuständig.
- Es werden 4- klassige Lehrerbildungsanstalten eingeführt.
- Die Errichtung von Privatschulen und Privatlehrerbildungsanstalten ist möglich, allerdings müssen sich diese an staatliche Lehrpläne halten. Diese Schulen unterstehen der staatlichen Schulaufsicht.[6]
Die Deutsch-Liberalen halten am deutschen Charakter des Volksschulwesens fest. Die Schulpolitik wird in die Nationalitäten Problematik der Habsburgermonarchie hineingezogen. Die Weiterentwicklung des Schulwesens hat darunter gelitten. Durch die Konservativen erfolgt ein Rückschlag im Schulwesen. Die konservativen Kräfte gewinnen in Österreich wieder die Oberhand. Bei den Wahlen 1879 verliert die Liberale Partei die Mehrheit. Es kommt zu Schulbesuchserleichterungen und Einschränkungen im Schulausbau werden durch die wirtschaftliche Rezession genährt. Die religiöse Erziehung in den Schulen wird wieder verstärkt und die Schüler müssen wieder an religiösen Übungen teilnehmen. Durch die RVG-Novelle 1883 kommt es zur Auflösung der 8- jährigen Bürgerschule. Die reorganisierte 3- klassige Bürgerschule baut auf dem 5. Jahrgang der Allgemeinen Volksschule auf. Das Bildungsziel führt über die Allgemeine Volksschule hinaus. Die Bürgerschule sollte vornehmlich auf mittlere Fachschulen und die Lehrerbildungsanstalten vorbereiten.
Die Hoffnungen des Armand Freiherr von Dumreicher, dem organisierenden Staatspädagogen gehen nicht in Erfüllung, als es im Jahre 1867 zu einer Reorganisation der Realschulen zu Allgemeinbildenden Mittelschulen kommt. Durch die RVG-Novelle 1883 kommt es nicht zu einer Umwandlung der Bürgerschule zu berufsvorbildenden gewerblichen Schule. Es wird auf die Bedürfnisse der Gewerbetreibenden und Landwirte relativ wenig Rücksicht genommen. Der Lehrplan der Bürgerschulen sollte auf die speziellen örtlichen wirtschaftlichen Bedürfnisse eingehen. Dumreicher führt zur eigentlichen gewerblichen Berufsvorbildung die Allgemeinen Handwerkerschulen ein. Diese gewerblichen Schulen werden anstelle der beiden letzten Pflicht-Volksschuljahre besucht werden. Die Allgemeinen Handwerkerschulen werden ein Teil der Pflichtschulbildung, wobei diese niedere gewerbliche Bildungsstätten sind. Baron Dumreicher ist ursprünglich davon ausgegangen, dass eine gewisse Anzahl von Bildungseinrichtungen den mittleren Ständen dienen soll. Es wären dies die Bürgerschulen, die Realschulen und die Werkmeisterschulen. Dumreicher legt am 9. März der Zentralkommission für das gewerbliche Unterrichtswesen den Entwurf eines Normalstatutes und Lehrplanes einer Allgemeinen Handwerkerschule vor. Es werden Kenntnisse und Fertigkeiten vermittelt, die als Vorbildung für einen gewerblichen, vor allem aber handwerklichen Betrieb, gelten. Der Normal-Lehrplan kann den jeweiligen örtlichen Verhältnissen angepasst werden.[7] Der Unterricht an der Allgemeinen Handwerkerschule umfasst:
Theoretische Fächer
wie die Religionslehre, die Unterrichtssprache und Geschäftsaufsätze, Geographie, Elemente der Naturlehre und Mechanik, Materialienkunde und Technologie, gewerbliches Rechnen, gewerbliche Buchführung und Gewerbegesetzeskunde.
Übungsfächer
wie das Freihandzeichnen, Geometrie und geometrisches Zeichnen, Projectionslehre, gewerbliches Fachzeichnen, Schönschreiben.
Relativ obligate Fächer
wie die zweite Landessprache, die kaufmännische Buchführung und Correspondenz, die Formenlehre und ferner die Übungsfächer mit den Handfertigkeiten und dem Modellieren.[8]
Die Bürgerschule ist eine gehobene Volksschule, die vornehmlich für die städtisch-bürgerliche Bevölkerung vorgesehen ist. Die Bürgerschule soll für das städtische Handwerk und Gewerbe und den Handel die Jugendlichen vorbilden. Die Bürgerschule entsteht quasi aus der 2- jährigen Real- und Gewerbebildung der Hauptschulen. Diese sind an die Hauptschule angeschlossene unselbstständige 2- jährige Unterrealschulen. Die Bürgerschule hat mit ihrer Weiterentwicklung zur außen differenzierten Hauptschule das Zweiklassen-Bildungssystem an der Mittelstufe bis in die Gegenwart verfestigt. Die Gymnasium-Unterstufe bleibt trotz der aufgewerteten innen differenzierten Neue Mittelschule weiterhin bestehen. Die Unterrichtsministerin Claudia Schmid äußert sich zum Beginn des Modell-Schulversuches im Jahre 2007:
„Ich will, dass Bildungspolitik wieder Gesellschaftspolitik wird. Es geht darum, Bildung ins Zentrum der öffentlichen Debatte und des politischen Handelns zu rücken. Im Mittelpunkt stehen unsere Kinder und ihre Zukunft“.[9]
Der Bildungsforscher und Leiter der Bildungsabteilung der OECD Andreas Schleicher äußert sich zur Etablierung der Neuen Mittelschule in Österreich positiv. Diese Reform ist als Zwischenschritt zu sehen, denn schlagartig auf die „Gesamtschule“ umzustellen hätte vermutlich nicht funktioniert. Der Schritt in die Hauptschulen zu investieren war ein weiser politischer Beschluss. Die Hauptschulen im städtischen Bereich nicht zu einer Restschule verkümmern zu lassen war sicher eine kluge bildungspolitische Vorgehensweise.[10] Der Vorsitzende der Expertenkommission zur Beratung der Bildungspolitik, der politisch erfahrene Bildungsexperte Bernhard Schilcher äußert sich zur Einführung des Modellversuchs Neue Mittelschule:
„Kern dieser Schule ist die Arbeit...