3.1.1.1 Veränderung des Menschenbildes
Die Entwicklung der Menschenbilder[63] bildet die Basis, um die Konzepte und Theorien gesunder Führung analysieren zu können. Die Veränderungen der Menschenbilder im Zeitablauf führen zu der Annahme, dass sich mit der Veränderung die Bedürfnisse der Menschen verändert haben und sich damit auch die Ansprüche an die Mitarbeiterführung gewandelt haben. Ebenso besteht die Hypothese, dass sich im Zeitverlauf eine Tendenz zur Gesundheitsorientierung im Arbeitsleben erkennen lässt.
Bis etwa zum Jahr 1900 wurde angenommen, dass der einfache Mitarbeiter unmündig sei und geführt werden müsse. Es galt die Annahme, dass bestimmte Menschen zum Führen geboren seien und somit ausschließlich das Management für den Unternehmenserfolg verantwortlich sei. Je weiter die Industrialisierung voranschritt, desto mehr Gewicht wurde auf die Arbeitsteilung und die Trennung von dispositiven und ausführenden Tätigkeiten gelegt.[64]
Mit Einführung der Arbeitsteilung in den Industriebetrieben entwickelte TAYLOR[65] die Annahme des Economic Man (Rational Man), der sich im Wesentlichen durch ökonomische Reize, insbesondere Geld, motivieren lässt. Weiterhin sind die Gefühle des Economic Man irrational und seine Interessen liegen in der Regel entgegengesetzt zu denen der Organisation. Der Economic Man ist nicht fähig zu Selbstdisziplin und Selbstkontrolle, weshalb Fremdkontrolle notwendig ist. Neben dieser ersten Menschengruppe existiert noch eine deutlich kleinere Gruppe von Menschen, die sich weniger irrational verhalten und zu Selbstdisziplin fähig sind und denen somit die Führungspositionen vorbehalten sind.[66] Die Mehrheit der Menschen Anfang des 20. Jahrhunderts arbeitete primär, um ihre physischen Motive zu befriedigen. Die psychischen und sozialen Motive spielten zu dieser Zeit kaum eine Rolle als Grund für die Arbeitsaufnahme.
Als Gegenströmung entwickelte sich ausgehend von der Human-Relations-Bewegung ab 1930 das Menschenbild des Social Man. Für diesen Menschentyp sind die sozialen Bedingungen und die zwischenmenschlichen Beziehungen am Arbeitsplatz von höchster Bedeutung und seine Leistung wird entscheidend durch das Verhalten anderer Menschen beeinflusst. Damit rückte die motivationale und emotionale Bedeutung sozialer Beziehungen in den Fokus der Betrachtung von Führung.[67]
Ab etwa 1950 entwickelten sich aufgrund des sehr ausgeprägten Harmoniedenkens und des in den Hintergrund tretenden wirtschaftlichen Handelns der vorangegangenen Periode die Bilder des Self-actualizing Man und des Complex Man. Der Self-actualizing Man verwirklicht sich selbst und entwickelt sich selbstständig weiter. Er strebt nach Autonomie und Selbstverwirklichung durch eigenverantwortliches und situationsangepasstes Handeln. Der Self-actualizing Man ist motiviert, wenn er sich selbst entfalten und seine Potenziale und Fähigkeiten sinnvoll nutzen kann. Ein bedeutender Vertreter der Strömung des Self-actualizing Man ist MASLOW.[68] Vom Self-actualizing Man wird der Complex Man als ein vielschichtiger Mensch, der von verschiedenen Faktoren, wie der jeweiligen Situation und dem Entwicklungsstand des Individuums beeinflusst wird, abgegrenzt. Der Complex Man ist äußerst wandlungs-, lernfähig und flexibel.[69] Alle komplexen Menschenbilder umfassen somit neben der rationalen und der sozialen Dimension auch die humane Dimension.
Seit circa 1990 hat sich die Gesellschaft durch die Weiterentwicklung von Informations- und Kommunikationstechnologien deutlich gewandelt. Leben, Arbeiten und Kommunizieren der Menschen ist durch diese Technologien stark geprägt, weshalb sich das Modell eines flexiblen Menschen entwickelte, der sich schnell an neue Technologien anpasst. Dieser arbeitet gerne in Kooperationen und ist in Netzwerken aktiv. In Ergänzung zu den klassischen Menschenbildern wird er als Virtual Man bezeichnet. Beim Virtual Man besteht durch die fehlenden sozialen Kontakte die Gefahr der Isolation und es entsteht ein erhöhtes Stresspotenzial durch starke Flexibilisierung, Zeitarbeit und befristete Verträge, den Druck der Optionsvielfalt und die konstante Unsicherheit der Arbeitsumgebung. Diese negativen Einflüsse initiieren aber auch ein erhöhtes Gesundheitsbewusstsein in den Organisationen.[70]
3.1.1.2 Bedeutung der Veränderung der Menschenbilder für gesunde Führung
Die Betrachtung der verschiedenen Menschenbilder in ihrer zeitlichen Abfolge zeigt, dass sich die Arbeitswelt und die Bedürfnisse der Menschen im letzten Jahrhundert stark verändert haben und die Selbstverwirklichung des Menschen mehr und mehr in den Mittelpunkt gerückt ist.
Unternehmen und Führungskräfte müssen sich daher stärker mit den Mitarbeitern und ihren Bedürfnissen auseinanderzusetzen. Das Bedürfnis nach eigenverantwortlichem Handeln nimmt für die meisten Menschen einen hohen Stellenwert ein und muss daher von den Führungskräften bei der Aufgabendelegation berücksichtigt werden. Führungskräfte müssen die Rahmenbedingungen schaffen, sodass der Mitarbeiter seine Potenziale entfalten kann.
Weiterhin müssen die Führungskräfte beachten, dass ihr Team oft aus Menschen unterschiedlicher Generationen zusammengesetzt ist und damit auch unterschiedliche Menschenbilder und Motive vorliegen können. So kann es sein, dass ein älterer Mitarbeiter allein durch die sozialen Kontakte zum Arbeiten motiviert wird und weniger Wert auf die Arbeitsinhalte und die Karriereentwicklung legt als sein jüngerer Kollege. Auch der Umgang mit Kommunikation kann sich bei den einzelnen Teammitgliedern stark unterscheiden. Während für jüngere Mitarbeiter der regelmäßige Umgang mit sozialen Netzwerken und E-Mail selbstverständlich ist, können bei älteren Mitarbeitern bei diesen Medien Unsicherheiten auftreten, die sie an der Umsetzung ihrer Aufgabe hindern. Aufgabe der Führungskraft ist es deshalb, sich mit den einzelnen Mitarbeitern und ihren Bedürfnissen auseinanderzusetzen und die Mitarbeiter gemäß ihren Qualifikationen einzusetzen bzw. sie zu qualifizieren.
Die zunehmende Flexibilisierung und der dadurch entstehende Druck führen zu einem höheren Stresspotenzial und damit höheren krankheitsbedingten Ausfallzeiten bei den Mitarbeitern. Durch die damit verbundenen hohen Kosten wird die Basis für ein steigendes Gesundheitsbewusstsein geschaffen und die zunehmende wirtschaftliche Bedeutung der Gesundheit gesteigert. Die Entwicklung zu einem stärkeren Gesundheitsbewusstsein wird auch von KONDRATIEFF[71] bestätigt. Nach seinen Untersuchungen ist der Auslöser für den aktuellen sechsten KONDRATIEFF-Zyklus die Gesundheit und es werden die Länder und Unternehmen von dieser Entwicklung profitieren, die ihr Wachstum in den nächsten Jahren auf das Themenfeld (psychosoziale) Gesundheit ausrichten.[72]
3.1.2.1 Führungstheoretische Grundlagen
3.1.2.1.1 Eigenschaftstheorien
Die Veränderungen der Menschenbilder erfordern auch eine Anpassung der Führungskonzepte. Deshalb sollen in Kapitel 3.1.2.1 wichtige Aspekte von ausgewählten Führungstheorien[73] hinsichtlich ihrer Bedeutung für einen gesundheitsorientierten Führungsstil analysiert werden.
Eigenschaftstheoretische Ansätze basieren auf der Annahme, dass die Fähigkeit zur Personalführung von den angeborenen oder erworbenen Persönlichkeitsfaktoren des Menschen abhängt und relativ stabil, zeit- und situationsunabhängig ist.[74] Dieser Annahme liegt das Menschenbild des unmündigen Mitarbeiters bzw. Economic Man zugrunde und die Annahme, dass nur wenige Menschen mit bestimmten Eigenschaften als Führungsperson geeignet sind.[75]
YUKI[76] stellte 2002 Eigenschaften zusammen, die oftmals in Verbindung mit guter und erfolgreicher Führung gebracht werden (Abbildung 6).
Abbildung 6: Eigenschaften erfolgreicher Führungskräfte[77]
Empirische Forschungen zeigen, dass die Zusammenhänge zwischen den Eigenschaften der Führungskraft und dem Führungserfolg gering sind, weshalb davon auszugehen ist, dass neben den Eigenschaften von Führungskräften weitere Faktoren für den Führungserfolg verantwortlich sind.[78] In Bezug auf gesunde Führung ist somit festzuhalten, dass erfolgreiche und auch gesunde Führung gelernt werden kann.
3.1.2.1.2 Verhaltenstheorien
Eine weitere Ursache für den Führungserfolg kann das Verhalten der Führungskräfte sein, welches mit verhaltenstheoretischen Ansätzen untersucht wird. Diese Ansätze...