Teil A
„Das Konstrukt Kind steuert die Wahrnehmung und Deutung der Phänomene des Kinderlebens; es stellt dar, wie das Kind lebt und bewertet implizit oder explizit, wie es leben soll. Die Bilder und Begriffe vom Kind stehen in einer je eigentümlichen Beziehung zum tatsächlichen Leben der Kinder, zur Kindheit als Element gesellschaftlicher Ordnung. “[48]
Das Thema „Kindheit“ ist mittlerweile zu einem interdisziplinären Forschungsgebiet geworden. Die moderne Kindheitsforschung betrachtet den historischen, sozialen, gesellschaftlichen und kulturellen Kontext dieses Lebensabschnitts und die Frage interessiert, welche Wechselwirkung es zwischen dem sich entwickelnden Menschen und der sich wandelnden Umwelt gibt.[49] Historisch gesehen ist das Konzept der „Kindheit“ jedoch ein relativ junges Phänomen, da diese erst im Zuge der Aufklärung als eigenständige Phase begriffen wurde; vorher wurden Kinder als „kleine Erwachsene“ angesehen.[50] Nach Rathmayr (2007) lassen sich vier Unterscheidungen im Hinblick auf die historische Entwicklung des „Konstrukts Kindheit“ vornehmen:
1) Kindheit als Unterwerfung und Gehorsamspflicht. Von der Antike mit dem patriarchalischen Weltbild, über das Mittelalter bis hin in die Frühe Neuzeit galten Gehorsam und Unterordnung „mit unendlich viel Leid im totalen Widerspruch zur Verhätschelung für Kinder“ als normales Verständnis von Kindheit.
2) Erziehungskindheit: Seit der Aufklärung im 17. Jahrhundert wird das Kind neu gesehen, nämlich als mit besonderen Maßnahmen in seiner Eigenart zu erziehendes Wesen.[51]
3) Kinder als sozial kompetente Akteure: Seit den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts mit seinen Neuansätzen der Kindheitsforschung in den USA, den skandinavischen Ländern usw. gelten Kinder als eigenberechtigte Personen, die an Erziehung und Sozialisation einen aktiven und konstruktiven Anteil haben.
4) Als eine Art Ergänzung (um nicht zu sagen Gegenbewegung) gilt das vierte Konstrukt: Kinder brauchen ein eigenes Kind-Erwachsenen-Verhältnis. Das heißt: Kinder sind angewiesen auf Erwachsene, die ihnen Bindung bieten (v. a. D. die Mutter in der frühen Kindheit), sie brauchen Schutz, weil sie verletzlich sind, emotionale und physische Fürsorge, weil sie sonst verkümmern.[52]
Aus dem vierten Konstrukt wir deutlich, dass Kindheit heute als biographischer Erfahrungszeitraum verstanden wird, in welchem relevante Entwicklungsimpulse an die Kinder herangetragen, aber in dem auch vielfältige Unterstützungen und Hilfen gegeben werden müssen.[53]
Auch die Vorstellung von einer Jugend als eigenständige, von der Kindheit unterschiedene Lebensphase aller Heranwachsenden setzte sich erst im 19. und 20. Jahrhundert durch.[54] Die Bestimmung einer eigenständigen Lebensphase Jugend geschah durch verschiedene gesellschaftlichen Entwicklungen wie z. B. lebenslanges Lernen, die Selbstgestaltung des Lebens, verlängerte Ausbildungszeit und allgemeine veränderte Lebensstrukturen.[55]
Insgesamt hat sich das Entwicklungsverständnis weg von der Zielorientierung menschlicher Entwicklung (das Erwachsenenalter als Ziel der menschlichen Entwicklung, wobei Kindheit und Jugend automatisch eine defizitäre Rolle zugewiesen wird) hin zur Wertschätzung jeder einzelnen Lebensphase von der Antike bis heute radikal verändert.[56] Somit erscheint es relevant, die Kindheit sowie die Jugend als eigenständige Lebensabschnitte anzusehen, mit ihren jeweiligen spezifischen Anforderungen, Aufgaben und Bewältigungskapazitäten. [57]
Wie Kindheit und Jugend im Einzelnen definiert wird, welche Rolle ihnen zugeschrieben und von welchen Disziplinen der Begriff der „Kindheit“ und „Jugend“ untersucht wird, aber auch, wann Kindheit und Jugend zeitlich anzusetzen sind, hängt somit von historischen und gesellschaftlichen Umständen ab und davon, unter welcher Fragestellung man sie betrachtet. [58] I. d. R. werden diesen Lebensphasen im Alltagsgebrauch sowie in wissenschaftlichen Untersuchungen gewisse Alterskategorien zugeordnet. Doch weder altersgemäß noch symbolisch sind die Übergänge vom Kind zum Jugendlichen klar definiert, sondern eben auch nur gesellschaftlich konstruiert.[59] Gab es also zu Beginn des 20. Jahrhunderts lediglich zwei Lebensphasen - die Kindheit (bis ca. 14 Jahren) und das Erwachsenenalter - so haben sich in den jeweils vierzig folgenden Jahren zwei Kategorien hinzufügen lassen - zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts die Jugend und der Ruhestand, Ende des zwanzigsten Jahrhunderts eine Unterteilung in Jugend und Nachjugendalter sowie spätes Erwachsenenalter; zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist nach Klaus Hurrelmann eine noch feingliedrige Aufteilung der Lebensabschnitte sinnvoll.[60] Den Ausblick auf künftige Unterteilungen gibt er aufgrund möglicher zukünftiger Gesellschaftszusammensetzungen, sowie Verschiebungen in Form von zeitlichen Ausdehnungen. Lebensphasen können in ihrer Dauer gestaucht werden, indem neue Unterteilungen vorgenommen werden oder im Zuge einer genaueren Einteilung sogar neue Lebensphasen hinzukommen.[61]
Wie deutlich werden konnte, hat die Lebensphase der Kindheit (aber auch der Jugend) durch gesamtgesellschaftliche Entwicklungen starke Veränderungen erfahren, die man unter dem Begriff der „Veränderten Kindheit“[62] subsumieren kann. Getreu der Aussage, dass Kindheit eine Lebensform und als solche unhintergehbar ist, wird sie zum Gegenstand wissenschaftlichen Interesses.[63] Deutlich werden konnte zudem, dass es sich um ein interdisziplinäres Interesse handelt und je nach wissenschaftlicher Disziplin zeigen sich unterschiedliche Schwerpunktsetzungen in der Klärung des Begriffes „Kindheit“. So lassen sich z. B. drei Perspektiven unterschiedlicher, aber miteinander korrelierender und sich ergänzender wissenschaftlicher Disziplinen[64] unterscheiden, die im Rahmen dieser Masterarbeit Anwendung finden: Kindheit aus soziologischer Perspektive, wo Kindheit als Lebensphase mit individuellen Sozialisationsprozessen und als sozio-kulturelles Muster gedeutet wird,[65] das diesen Prozessen vorausgeht und damit die Bedeutung von gesellschaftlichen Veränderungen und Prozessen ins Spiel kommt. Hierdurch wird eine Annäherung an den Begriff der „Veränderten Kindheit“ überhaupt erst möglich.[66] Diese Perspektive soll dahingehend Anwendung in der Arbeit finden, indem immer wieder auf gesellschaftliche Verhältnisse und Hürden, aber auch Zuschreibungen hingewiesen wird, so z. B. die vorgestellte soziologische Betrachtung der Lebensphasen Kindheit und Jugend.[67] Die zweite Perspektive, die im beruflichen Alltag relevant ist und die im letzten Drittel der Arbeit eine bedeutende Rolle spielt, ist die Kindheit aus pädagogischer Perspektive; hier werden Fragen nach Erziehung und Bildung in der dieser Lebensphase in den Blick genommen und diskutiert. Die dritte Perspektive ist die Kindheit aus entwicklungspsychologischer Perspektive, bei der es darum geht, Kindheit und Jugend als eine Abfolge von Entwicklungsphasen zu konzipieren und illustrieren, bei denen mit stetig wachsenden motorischen, kognitiven, affektiven und psychosozialen Fähigkeiten des Kindes und Jugendlichen deren „Welt“ ständig wächst und komplexer wird[68] und es, in der Auffassung von Robert J. Havighurst, bestimmte Entwicklungsaufgaben zu bewältigen hat.[69]
Dieser Punkt soll in den nun folgenden Abschnitten ausführlicher behandelt werden.
Die Entwicklungspsychologie ist ein Teilgebiet der Psychologie [70], die sich vor rund 100 Jahren als eigenes Wissenschaftsgebiet etabliert hat. Sie beschäftigt sich mit der Frage, wie und wann psychische Funktionen und Strukturen entstehen und in welcher Weise sie sich über die Lebensspanne des Menschen verändern. Die entwicklungspsychologische Forschung hat es sich zum Ziel gemacht, eine grundlegende Orientierung über den menschlichen Lebenslauf zu erarbeiten, sodass typische Entwicklungen und typische Probleme in bestimmten Lebensabschnitten kennengelerntwerden können. [71] Auch für die Entwicklungspsychopathologie, die sich mit der Genese psychopathologischer Symptome [72] innerhalb einer normalen oder gestörten Entwicklung beschäftigt und den Einfluss von psychosozialen Belastungen für die Entwicklung beschreibt, was für das vorliegende Thema bzgl. Traumata zentral ist, ist es wichtig, Kenntnisse über sich vollziehende Entwicklungsschritte in diversen Lebensabschnitten auf biologischer, kognitiver, affektiver und sozialer Ebene zu erhalten. [73] Es ist hierbei nicht sinnvoll, nur einzelne Ebenen herauszugreifen, da sie sich zum Teil gegenseitig bedingen und miteinander korrelieren. [74] Die psychische Entwicklung, ein lebenslanger dynamischer Prozess, bei der es sich um Veränderungen im Psychischen und Physischen handelt, [75] kann somit nie nur für sich betrachtet werden, da sie mit zahlreichen Einflussgrößen wie den körperlichen Reifungsvorgängen oder aber eben auch den gesellschaftlichen Bedingungen eng...