„Wer Musik nicht liebt, verdient nicht, ein Menschen genannt zu werden; wer sie
nur liebt, ist erst ein halber Mensch; wer sie aber treibt, ist ein ganzer Mensch.“[30]
Goethes Verhältnis zur Musik ist ein vielfältiges und vielgestaltiges. Zum einen schreibt er: „Musik kann ich nicht beurteilen, denn es fehlt mir an Kenntnis der Mittel, deren sie sich zu ihrem Zwecken bedient; ich kann nur von der Wirkung sprechen, die sie auf mich macht, wenn ich mich ihr rein und wiederholt überlasse.“[31] Er verdeutlicht hier seinen Willen, sich ohne Vorurteile und häufig genug, um in Übung zu bleiben, mit Musik zu befassen. Eine Beurteilung scheint er danach jedoch nicht abgeben zu wollen, bzw. in seinen Augen auf Grund mangelnder Kenntnisse nicht abgeben zu können.
Zum anderen jedoch verfasst Goethe eine auf naturwissenschaftlichen Erkenntnissen aufbauende Tonlehre, führt eine lange Diskussion um „die so allgemeine Tendenz nach den Molltönen, die man sogar bis in die Polonäse spürt“[32] mit seinem Diskussionspartner Zelter und nähert sich der Musik durch die Vertonungen seiner Gedichte und Singspiele, für die er ganz klare Vorstellungen hat, wie sie gestaltet und durchgeführt werden sollen. Er beschäftigt sich also durchaus mit den „musikalischen Mitteln“, die er meint, nicht zu kennen.
Goethe scheint folglich vielmehr ausdrücken zu wollen, dass er sich nicht anmaßen möchte, eine universelle und allgemein gültige Meinung über Musik darlegen zu können. Er ist sich der Subjektivität seiner Beobachtungen und seiner Erkenntnisse stets bewußt, ist dabei aber oft und mit wechselndem Ehrgeiz bestrebt, so viel wie möglich über die Musik zu erfahren. Eine Mischung aus sehr persönlich-emotionalen Texten auf der einen und Diskussionen auf einem wissenschaftlichen Niveau auf der anderen Seite zeichnen daher Goethes Nachlaß aus. Der folgende Satz zu Eckermann über die „neuere“ Musik seiner Zeit mag dies verdeutlichen:
„Es ist wunderlich, wohin die aufs höchste gesteigerte Technik und Mechanik die neusten Komponisten führt; ihre Arbeiten bleiben keine Musik mehr, sie gehen über das Niveau der menschlichen Empfindungen hinaus, und man kann solchen Sachen aus eigenem Geist und Herzen nichts mehr unterlegen.“[33]
Goethe hat sich demnach mit der sogenannten „neuen Musik“ auseinandergesetzt, und er stellt klar heraus, wie wichtig ihm „Geist und Herz“, also das Nachdenken über die Musik und das Empfinden darüber gleichermaßen sind. Mag es also zunächst als Ablehnung klingen, wenn er die „neuere Musik“ nicht „aus eigenem Geist und Herzen“ zu erfassen vermag, so ist es vielleicht auch folgendermaßen zu verstehen:
„Musik im besten Sinne bedarf weniger der Neuheit, ja vielmehr, je älter sie ist, je gewohnter man sie ist, desto mehr wirkt sie.“[34]
Goethes erwähnter Wille, durch viel Kontakt mit Musik in der Übung zu bleiben, scheint hier eine Begründung zu finden.
An Schiller schreibt er 1799, er habe die Beobachtung gemacht,
„wie sehr man mit einer Kunst in Verhältnis, Übung und Gewohnheit bleiben muss, wenn man ihre Produktionen einigermaßen genießen und etwa gar beurteilen will. Ich habe schon öfters bemerkt, dass ich, nach einer langen Pause, mich erst wieder an Musik gewöhnen muss, um ihr im Augenblick was abgewinnen zu können.“ [35]
Durch die Ebenen „Geist und Herz“, auf denen Goethe sich bewegt, und die eben nicht nur rein wissenschaftlich sind, sieht er sich also als Laie in Bezug auf Musik. „Da ich mich gegen Musik nur empfindend und nicht urteilend verhalte, so höre ich gar zu gern, was Meister und Kenner uns darüber eröffnen mögen.“[36] Auch deswegen möchte er wohl in der Übung bleiben, um ohne die Mühe des immer wieder neu Eingewöhnens neue Erkenntnisse, vielleicht auch von sogenannten „Kennern“, davon zu tragen.
Dass Goethe davon ausgeht, selbst kein „Kenner“ der Musik zu sein, mag ebenso damit zusammenhängen, dass er der Musik eine überzeitliche, übermäßige und somit nicht greifbare Kraft zumisst. Über die von ihm als „älteste aller Künste“ bezeichnete Kunst sagt er:
„In der Poesie ist durchaus etwas Dämonisches, und zwar vorzüglich in der unbewußten, bei der aller Verstand und alle Vernunft zu kurz kommt, und die daher auch so über alle Begriffe wirkt. Desgleichen ist es in der Musik im höchsten Grade, dass kein Verstand ihr beikommen kann, und es geht von ihr eine Wirkung aus, die alles beherrscht und von der niemand imstande ist, sich Rechenschaft zu geben. Der religiöse Kultus kann sie daher auch nicht entbehren, sie ist eins der ersten Mittel, um auf die Menschen wunderbar zu wirken.“[37]
„Wunderbar“ ist in diesem Sinne nicht nur als „zauberhaft, prächtig“ oder „großartig“ zu verstehen, sondern als etwas, das nicht zu fassen und nicht zu erzwingen ist, das jemandem unerwartet und unverhofft geschieht und eine (positive) Wirkung ausübt.
Das hier angesprochene „Dämonische“ in Bezug auf die Poesie ist ebenfalls nicht zufällig gewählt. Dämonen sind für Goethe Wesen, die der Menschheit Ideale vor die Au-
gen stellen, die für einen „normalen“ Menschen unerreichbar erscheinen, „die so anlockend sind, dass jeder nach ihnen strebt, und so groß, dass niemand sie erreicht.“[38] Für die Kunst nennt Goethe Raffael, für die Poesie Shakespeare, für die Musik Mozart. Auch Napoleon habe die „dämonische Art“, das „Dämonische (...), was durch Verstand und Vernunft nicht aufzulösen ist.“ Unter den Künstlern, so Goethe, finde es sich eher in Musikern, denn in Malern, vor allem bei Paganini.[39] Unter diesen Gesichtspunkten erscheint es verständlich, dass Goethe sich ausserstande sieht, die Musik zu bewerten, über sie in irgendeiner Weise zu urteilen und ihr dabei gerecht zu werden.
Die Kräfte, die Goethe der Musik weiterhin zuschreibt, sind Tröstung und eine bildende Wirkung.[40] In den „Leiden des jungen Werther“ schreibt Goethe:
„Kein Wort von der alten Zauberkraft der Musik ist mir unwahrscheinlich. Wie mich der einfachste Gesang angreift! Und wie sie ihn anzubringen weiß, oft zur Zeit, wo ich mir eine Kugel vor den Kopf schießen möchte! Die Irrung und die Finsternis meiner Seele zerstreut sich, und ich atme wieder freier.“[41]
Die bildende Wirkung schildert er in „Wilhelm Meisters Wanderjahren“, Kapitel „Wilhelm Meister bei den Musikschülern der Pädagogischen Provinz“:
„‘Wahrscheinlich‘, so sprach er zu seinem Gefährten, ‚wendet man viele Sorgfalt auf solchen Unterricht, denn sonst könnte diese Geschicklichkeit nicht so weit ausgebreitet und so vollkommen ausgebildet sein.‘ – ‚Allerdings‘, versetzte jener, ‚bei uns ist der Gesang die erste Stufe der Bildung, alles andere schließt sich daran und wird dadurch vermittelt. Der einfachste Genuß so wie die einfachste Lehre werden bei uns durch Gesang belebt und eingeprägt, ja selbst was wir überliefern von Glaubens- und Sittenbekenntnis, wird auf dem Wege des Gesangs mitgeteilt; andere Vorteile zu selbsttätigen Zwecken verschwistern sich hier zugleich: denn indem wir die Kinder üben, Töne, welche sie hervorbringen, mit Zeichen auf die Tafel zu schreiben zu lernen und nach Anlaß dieser Zeichen sodann in ihrer Kehle wieder zu finden, (...) und da dieses alles zuletzt nach reinen Maßen, nach genau bestimmten Zahlen ausgeübt und nachgebildet werden muss, so fassen sie den hohen Wert der Meß- und Rechenkunst viel geschwinder auf als auf jede andere Weise. Deshalb haben wir unter allem Denkbaren die Musik zum Element unserer Erziehung gewählt, denn von ihr laufen gleichgebahnte Wege nach allen Seiten.“[42]
Auch ihrer gesellschaftlichen Funktion wegen liebt Goethe Musik. Die „kleine Singanstalt“, wie Goethe seine Hausmusik gerne nennt, ist als geselliges Zusammensein angelegt. Ausdrücklich rühmt er in den Annalen von 1808 den höchst erfreulichen Anklang, den sie dem geselligen Leben gibt.[43] Gemeinsam mit Schiller schreibt er: „Nutzen der Musik fürs Ganze: Gesellige Verbindung der Menschen, ohne bestimmtes Interesse, mit Unterhaltung. Stimme zu einer idealen Existenz (...).“[44]
Der Rhythmus hat, so Goethe weiter, eine besondere Art zu wirken: „Der Rhythmus hat etwas Zauberisches, sogar macht er uns glauben, das Erhabene gehöre uns.“[45] Der Rhythmus kann Goethe dazu veranlassen, in einem bestimmten Schritt zu laufen, „so dass [er] sich beim Wandern jedesmal im Takt beweg[t] und zugleich leise Töne zu vernehmen...