2) Die Debatte um das Kopftuch an den türkischen Hochschulen
2.1) Der Beginn und Verlauf einer politischen Auseinandersetzung
Angestoßen wurde der Streit um das türban an den türkischen Hochschulen[68] nicht durch traditionelle Frauen, die sich aus Gewohnheit verhüllen. Vielmehr geht es um jene, die gut ausgebildet sind und sich im öffentlichen Raum bewegen. Es sind Türkinnen, die sich ganz bewusst für die Bedeckung entscheiden und „verschiedenste Ansprüche auf gesellschaftliche Partizipation“[69] erheben. Das vermehrte Auftreten von verhüllten Studentinnen hat dazu beigetragen, dass der öffentliche Raum, der ansonsten durch westlich geprägte Stadtbilder gekennzeichnet ist, sich wandelt[70]. Fragen, die im Folgenden geklärt werden, sind: Warum und wann begannen die Auseinandersetzungen; wie ist der Streit verlaufen; was sind die rechtlichen Grundlagen? Dazu werden im Anschluss die Auseinandersetzungen auf lokaler Ebene skizziert und der Beginn des Streites bestimmt, der politische Schlagabtausch dargestellt und die juristischen Schwierigkeiten im Streit um das türban aufgewiesen.
2.1.1) Der Streit vor Ort und die Auswirkungen des Kopftuch-Verbotes auf der Hochschul-Ebene
Konfrontationen zwischen Hochschulleitung und den bedeckten Studentinnen drückten sich in verschiedener Form und zu unterschiedlichen Zeitpunkten aus. An manchen Universitäten kam es schon bei der Einschreibung zu Auseinandersetzungen, wenn die muslimisch-konservativen Studienanwärterinnen sich weigerten für das obligatorische Foto für den Studentenausweis das Kopftuch abzunehmen. Diese Universitäten bestanden auf die Abnahme der Bedeckung, da alle Studierenden auf ihren Ausweisen einfach zu erkennen sein sollten. Durch das Tragen eines Kopftuches sei das jedoch nicht gewährleistet, so die gängige Argumentation der jeweiligen Hochschulleitung[71]. Weitere Reibungspunkte entstanden im Lehrbetrieb. Die Frauen wurden beispielsweise aus den Vorlesungen verwiesen, oder die Veranstaltungen wurden zuweilen von Dozenten nicht abgehalten, wenn Studentinnen mit Kopftuch sich weigerten den Hörsaal zu verlassen. Durch das Sicherheitspersonal oder den Lehrkörper wurde ihnen der Zutritt zum Campus oder zu den Räumen, in denen Prüfungen abgehalten wurden, verweigert[72]. Des Weiteren verweigerte man Studentinnen mit Kopftuch zuweilen die Leihung von Büchern aus den Hochschulbibliotheken oder den Frauen wurden ihre Unterkünfte in den universitären Wohnheimen entzogen[73]. Eine weitere Maßnahme, um das Kopftuch-Verbot an den Hochschulen durchzusetzen, waren die ikna odaları, also Überzeugungs- oder Überredungszimmer. Solche Räume wurden laut Ramazanoğlu in verschiedenen Universitäten durch das Rektorat eingerichtet. Die Studentinnen wurden zu einem Gespräch in die ikna odaları gebeten. In diesen Zimmern sollten die Frauen davon überzeugt werden, ihr Kopftuch abzulegen. Um den psychologischen Druck zu erhöhen, wurde das Gespräch zum Teil auch auf Video aufgezeichnet[74].
Der Grad der praktischen Umsetzung des Kopftuch-Verbotes hängt laut Pusch von verschiedenen Faktoren ab. Beispielsweise spiele die persönliche Einstellung bzw. politische Haltung des Rektors eine Rolle oder aber auch die Zahl der verhüllten Studentinnen. In der Regel sei zu beobachten, so Pusch, dass je mehr muslimisch-konservative Frauen im tesettür an einer Universität studierten, desto größer auch die Konflikte seien. Dies sei vor allem an den medizinischen Fakultäten zu sehen, da die bedeckten Studentinnen bei ihrer Studienfachwahl[75] den medizinischen Bereich favorisierten und demnach vermehrt dort auftraten. „Die strikte Ablehnung des Kopftuches von Mitgliedern der Medizinischen Fakultät ist allerdings nicht nur mit der vergleichsweise hohen Zahl der bedeckten Studentinnen zu erklären, sondern auch mit der Tatsache, dass das Kopftuch der Kleiderordnung in Krankenhäusern widerspricht“, erklärt Pusch[76].
Auf die Einhaltung des Kopftuch-Verbotes auf dem Campus reagierten die verhüllten Studentinnen immer wieder mit Protest[77]. Dufner macht innerhalb der Protestformen eine gewisse Steigerung aus. Zunächst habe man durch sehr ruhige und verhaltene Aktionen auf die eigene Position aufmerksam gemacht. So seien die Kopftuch-Anhänger zum Beispiel in Scharen zu den Postämtern gegangen, um per Telegramm Politikern ihre Meinung mitzuteilen. Mit der Verschärfung der Debatte hatten sich laut Dufner auch die Aktivitäten verändert. In der nächsten Stufe hatten die Studierenden ihre Forderungen durch Demonstrationen, Sit-ins oder sogar Hungerstreiks artikuliert[78]. Abgesehen von Rangeleien oder Handgemengen kam es jedoch nicht zu großen Gewaltausschreitungen bei den Protestkundgebungen. Sie verliefen normalerweise verhältnismäßig friedlich. Der Polizeieinsatz erscheint bei solchen Aktionen teilweise erheblich gewesen zu sein, geradezu unverhältnismäßig. Şişman zitiert eine studentische Augenzeugin: Bei einer Demonstration von rund 60 Studentinnen vor der Universität seien zehn Busladungen Polizisten eingesetzt worden, sodass auf eine Protestierende etwa acht einsatzbereite Staatsbeamte entfielen[79]. Die Empörung der Kopftuch-Befürworter scheint unorganisiert und spontan zum Ausdruck gekommen zu sein. Dufner glaubt, dass keine eigenständige, organisierte und starke Studentenbewegung entstanden sei. Zum einen habe das an den rigiden staatlichen Restriktionen gelegen. Zum anderen sei das Thema zu begrenzt, um dauerhaft von einer Masse von Studenten getragen zu werden. Außerdem habe die Vereinnahmung durch verschiedene politische Parteien eine Unabhängigkeit verhindert, so Dufner[80].
Die Reaktionen des Lehrkörpers auf die Studentinnen, das türban sowie auf das Verbot fallen laut Beobachtungen in der Literatur unterschiedlich aus. Die Haltungen in der Kopftuch-Frage variierten von einer strikt gegnerischen Position bis hin zu einer liberal zulassenden Einstellung[81]. Kemalistisch eingestellte Dozenten sahen in dem türban einen Verrat an den Ideen Atatürks. Sie machten sich in der Regel stark für eine genaue Umsetzung des Verbotes. Es wird beobachtet, dass diese Gruppe innerhalb des Lehrkörpers auch nicht davor zurückschreckt, Studentinnen mit türban zu schikanieren, um sie vom Unterricht fernzuhalten. In diesen Fällen kommt es häufig zu Streitereien zwischen Lehrendem und Studentin, die zum Teil auch in Handreiflichkeiten enden[82]. Um das Studium fortsetzen zu können, entwickeln die Frauen oft eine Strategie der Vermeidung. Der Stundenplan wird dann nicht nach den eigenen Fähigkeiten oder Interessen ausgerichtet, sondern nach der Toleranz der unterrichtenden Dozenten. Wahlpflichtfächer werden danach belegt, ob der entsprechende Lehrende die Kopftücher in seiner Veranstaltung hinnimmt. Seminare, in denen mit Widerstand des Dozenten zu rechnen ist, werden nach Möglichkeit erst gar nicht besucht[83]. Die liberalen Säkularen halten die Verbote oftmals für unsinnig, trotz ihrer Sorge „über das Erstarken der proislamischen Bewegung und die Zunahme der kopftuchtragenden Studentinnen“[84]. Sie sehen in der Verhüllung nicht zwangsläufig ein Symbol der unterdrückten Frau, sondern auch „neue Möglichkeiten und Chancen für Frauen aus sunnitisch-konservativen Kreisen am gesellschaftlichen Leben zu partizipieren“[85]. Dieser Teil des Lehrkörpers bevorzuge es, den Studierenden durch Erziehung ein säkulares Bewusstsein nahezubringen. Darüber hinaus werde kritisiert, dass man lange Zeit die massive Zunahme der Imam Hatip Gymnasien hingenommen sowie Religion als Pflichtfach wieder an den Schulen eingeführt habe[86]. Auf diese Weise, so der Vorwurf jener liberal-säkularen Dozenten, habe man eine Grundlage für die Bildung einer islamistischen Identität geboten. Dieser Teil des Lehrkörpers vermeide es jedoch laut Pusch, seine Haltung in großem Maße in der Öffentlichkeit publik zu machen, da er Missverständnisse befürchte. Es herrsche die Angst als Anhänger der Refah Partisi (RP), der religiös-konservativen Wohlfahrtspartei unter Necmettin Erbakan, oder gar als Mitglied der islamistischen Bewegung stigmatisiert zu werden und so – je nach Vertragslage – auf lange Sicht die Anstellung zu verlieren[87]. Auch die Gewerkschaft der Universitätslehrer lehne, obgleich sie sich klar gegen den politischen Islam ausspreche, jegliche Verbote bezüglich des Kopftuches ab. Dies habe laut Pusch verschiedene Gründe:
1.) „Universitäten müssen Orte sein, an denen freie Diskussion möglich ist. Alles, was die Diskussionsfreiheit einschränkt, ist nicht tolerierbar“, wird Prof. Izzetin Önder, Universitätslehrer, zitiert.
2.) Das Kopftuch-Verbot sei ein geschlechtsspezifischer Selektionsmechanismus, da sich männliche Studenten gleich welcher Weltanschauung mit ihrer Kleidung problemlos ihrer Umgebung anpassen können.
3.) Ein erzwungenes Ablegen des Kopftuches ändere nichts an der Einstellung bzw. Weltanschauung der betreffenden Studentin.
Die Gewerkschaft spricht sich nach Angaben von Pusch...