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Es war einmal... Grausamkeit und Gewalt in Märchen

AutorClaudio Seipel, Ina Böttcher, Jeannine Richter, Kerstin Prinz, Paolo Parisi
VerlagScience Factory
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl247 Seiten
ISBN9783656556183
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis39,99 EUR
Und wenn sie nicht gestorben sind... dann haben sie nochmal Glück gehabt! Im Kampf des Guten gegen das Böse gehen Märchenfiguren über Leichen. Es wird gefoltert, gemordet, verbrannt und zerstückelt. Da wird eine kannibalistische Hexe am Ende in den brennenden Backofen geschubst, eine böse Königin muss in rotglühenden Pantoffeln tanzen und ein faules Mädchen wird zur Strafe in siedendes Pech getaucht. Märchen sind voll von ausführlichen Gewaltdarstellungen. Wie grausam sind Märchen wirklich? Welche Folgen haben diese Gewaltdarstellungen auf die kindliche Entwicklung? In diesem Buch finden Sie Antworten auf diese Fragen. Aus dem Inhalt: Ursprüngliche Funktion des Märchens Rechtsgeschichte und kulturhistorische Relativität von Grausamkeit Grausame Sachverhalte, subtile und kontextabhängige Grausamkeiten Grausamkeit in exemplarischen Märchen und ihr Wandel Das kindliche Verständnis von Grausamkeiten in Märchen

Claudio Seipel, Jahrgang 1971, studierte Pädagogik und Psychologie und beobachtet sozialpsychologische Phänomene in der Gesellschaft. Bisherige Veröffentlichungen/Titel: - Grausamkeiten in Märchen: Wie gehen Kinder damit um? - Es war einmal... Grausamkeit und Gewalt in Märchen. - Das Dritte Kind: Ein Ehe-Liebesdilemma-Drama.

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Leseprobe

Hauptteil


Die dargestellte Grausamkeit


„Da rief sie einen Jäger, und sprach ,bring das Kind hinaus in den Wald, ich wills nicht mehr vor meinen Augen sehen. Dort sollst dus töten, und mir Lunge und Leber zum Wahrzeichen mitbringen.’“[7] (Sneewittchen[8], KHM 53)

Nach Mallet gehört das Märchen vom Sneewittchen zu den schlimmsten Mord- und Totschlaggeschichten der Grimmschen Märchen. Auf keine andere Heldin würden so viele Mordanschläge ausgeübt. Die ihm zugedachten Todesarten gingen von Erdolchen über Erwürgen bis zum Vergiften[9]:

„[…] aber die Alte schnürte geschwind, und schnürte so fest, dass dem Sneewittchen der Atem verging, und es für tot hinfiel.“[10]

„[…] aber kaum hatte sie den Kamm in die Haare gesteckt, als das Gift darin wirkte, und das Mädchen ohne Besinnung niederfiel.“[11]

„Kaum aber hatte es einen Bissen davon im Mund, so fiel es tot zur Erde nieder.“[12]

Folgende Züge des Sneewittchen-Märchens der Grimmschen Fassung sind hinsichtlich ihrer Varianten interessant: Der Auftrag des Jägers, Sneewittchen im Wald zu erstechen, die Anschläge der eifersüchtigen Stiefmutter mittels Schnürriemen, Kamm und Apfel sowie die Vereitlung der ersten beiden Anschläge durch die Zwerge, welche Sneewittchen aus Ehrfurcht vor ihrer Schönheit bei sich aufnahmen.

So zeigt eine andere Erzählung folgende Abweichung: Im Wald in einer Höhle wohnten sieben Zwerge, die töteten jedes Mädchen, das sich ihnen nahte. Das wusste die Königin [Stiefmutter, K.P.], und weil sie Sneewittchen nicht geradezu ermorden wollte, hoffte sie es dadurch loszuwerden, dass sie es hinaus vor die Höhle führte und zu ihm sagte: „Geh da hinein und wart, bis ich wieder komme!“ Dann ging sie fort, Sneewittchen aber getrost in die Höhle. Die Zwerge kamen und wollten es anfangs töten; weil es aber so schön sei, ließen sie es leben und sagten, es sollte ihnen dafür den Haushalt führen.[13] Hier ersetzen also mädchenmordende Zwerge einen zum Töten befohlenen Jäger, in weiteren Varianten wird der Jäger durch Sneewittchens Bruder ersetzt; neidische Schwestern, Hexen oder ein wilder Mann ersetzen die böse Stiefmutter, an die Stelle von Schnürriemen, Kamm und Apfel treten Mordwerkzeuge wie Nadeln, Ringe oder vergiftete Kleider. Die Tortur wird sogar noch fortgesetzt: Selbst nach der Hochzeit Sneewittchens wird es noch vom eigenen Vater oder seinen Geschwistern verfolgt, bisweilen in ein Tier verwandelt, damit der Neider in dessen Rolle schlüpfen kann.[14] Anscheinend bemüht sich das Märchen vom Sneewittchen mit aller Kraft, das Mädchen auf grausame Art und so oft wie möglich aus dem Weg zu räumen. Dabei scheint jede Kombination willkommen.

Der grausame Zug, den Märchenhelden oder die -heldin zu beseitigen, scheint dem Märchen ein gewichtiges Anliegen zu sein und lässt sich in verschiedenen Motiven noch an weiteren Märchen festmachen, wobei der Verlauf des Märchens wie z. B. im Grimmschen Sneewittchenmärchen durch die Wiederbelebung der Heldin ein für sie glimpfliches Ende nehmen oder aber auch mit dem endgültigen Tod der Heldin oder einer anderen ,guten’ Märchenfigur besiegelt werden kann. So werden in der Grimmschen Fassung des Rotkäppchen-Märchens (KHM 26) Rotkäppchen und seine Großmutter von dem bösen Wolf verschlungen, nachher aber von einem Jäger wieder befreit. Dagegen entwickelten französische Varianten kannibalistische Züge[15]: Nachdem der Wolf die Großmutter weder im Ganzen noch mit heiler Haut gefressen hat, bietet er [dem nichtsahnenden, K.P.] Rotkäppchen das Fleisch und Blut seiner eigenen Großmutter an, welches Rotkäppchen auch aß und trank und daraufhin selbst vom Wolf verspeist wurde. „Da eine geschlachtete Großmutter, deren Fleisch und Blut das Kind genossen hat, nicht gut wieder lebend aus dem Bauch des Wolfes herausgeholt werden kann, endet das Märchen tragisch mit dem Tod der beiden.“ (Röhrich, S. 126)

Auch die Grimmschen Fassungen sparen nicht an der Schilderung grausamer Züge und grässlicher Ermordung – ein Hexenmeister ermordet eine große Zahl von Mädchen und zerhackt ihre Körper:

„[…] Wie erschrak sie aber, als sie hineintrat: Da stand in der Mitte ein großes blutiges Becken, und darin lagen tote zerhauene Menschen. […] Darauf ergriff er sie, führte sie hinein, zerhackte sie, dass ihr rotes Blut auf der Erde floss, und warf sie zu den übrigen ins Becken.“[16] (Fitchers Vogel, KHM 46)

Menschen werden zerstückelt, um daraufhin verspeist zu werden:

„,[…] Dein Bräutigam will dir das Leben nehmen. Siehst du, da hab ich einen großen Kessel mit Wasser aufsetzen müssen, wenn sie dich in ihrer Gewalt haben, so zerhacken sie dich ohne Barmherzigkeit, kochen dich und essen dich, denn es sind Menschenfresser […].’ […] Sie brachten eine andere Jungfrau mitgeschleppt, waren trunken, und hörten nicht auf ihr Schreien und Jammern. Sie gaben ihr Wein zu trinken, drei Gläser voll, ein Glas weißen, ein Glas roten, und ein Glas gelben, davon zersprang ihr das Herz. Darauf rissen sie ihr die feinen Kleider ab, legten sie auf einen Tisch, und zerhackten ihren schönen Leib in Stücke, und streuten Salz darüber.“[17] (Der Räuberbräutigam, KHM 40)

Im Gegensatz zum Märchen vom Sneewittchen und vom Rotkäppchen erfahren die Märchenheldinnen die dargestellte Grausamkeit jedoch nicht am eigenen Leibe; die Gewalt vollzieht sich hier an Nebenfiguren. Während im Räuberbräutigam anstelle der Heldin das tödliche Schicksal „eine andere Jungfrau“ ereilt, die im Laufe der Handlung nicht mehr erwähnt wird, entgeht die Heldin in Fitchers Vogel nicht nur dem grausamen Ritual des Mädchenmörders, sondern belebt auch ihre zuvor getöteten Schwestern wieder:

„Ach, was erblickte sie! ihre beiden lieben Schwestern, die, jämmerlich ermordet, in dem Becken lagen. Aber sie hub an und suchte ihre Glieder zusammen und legte sie zurecht, Kopf, Leib, Arm und Beine. Und als nichts mehr fehlte, da fingen die Glieder an sich zu regen, und schlossen sich an einander, und beide Mädchen öffneten die Augen, und wurden wieder lebendig.“[18]

Grausame Handlungen werden aber nicht allein an Märchenhelden und -heldinnen vollzogen – meist ahndet das Märchen begangene Verbrechen und entledigt sich der Täter auf grausame Art.

Hinrichtungen


Den Abschluss des Grimmschen Sneewittchen-Märchens und gleichzeitig den letzten Höhepunkt der Geschichte bilde die Hinrichtung der Stiefmutter; so sei die fünfte Gewalttat die einzig erfolgreiche und zugleich die grausamste[19].

„Und wie sie hereintrat, erkannte sie Sneewittchen, und vor Angst und Schrecken stand sie da, und konnte sich nicht regen. Aber es waren schon eiserne Pantoffeln über Kohlenfeuer gestellt, und wurden glühend herein gebracht: da musste sie die feuerroten Schuhe anziehen, und darin tanzen, dass ihr die Füße jämmerlich verbrannten: und sie durfte nicht aufhören bis sie sich tot getanzt hatte.“[20]

Der Räuberbräutigam und seine Bande werden ebenfalls für ihre Schandtaten gerichtet, und auch der Hexenmeister aus Fitchers Vogel entgeht nicht seiner Strafe:

„Wie er aber samt seinen Gästen ins Haus gegangen war, da kam die Hilfe von den Schwestern an, und sie schlossen alle Türen des Hauses zu, dass niemand entfliehen konnte, und steckten es an, also Dass der Hexenmeister mitsamt seinem Gesindel verbrennen musste.“[21]

Neben wenigen Ausnahmen[22] gibt es die unterschiedlichsten Abwandlungen der Todesstrafe, die zum Teil paradox erscheinen: In KHM 9 („Die zwölf Brüder“) werde die böse Stiefmutter in ein Fass gesteckt, „das mit siedendem Öl und zu allem Überfluss, paradoxerweise auch noch mit giftigen Schlangen angefüllt ist.“ (Röhrich, S. 143) Zum Zwecke des Ertränkens werden Fässer durchlöchert und mit dem Täter oder der Täterin ins Wasser gestoßen, und auch als „Nageltonne“ findet das Fass Verwendung: So werde die falsche Braut in KHM 89 („Die Gänsemagd“) „splitternackt ausgezogen in ein Fass, das inwendig mit spitzen Nägeln beschlagen ist, geworfen“, „und zwei weiße Pferde, davor gespannt, müssen sie Gasse auf und Gasse ab zu Tode schleifen.“[23] Röhrich bemerkt dazu, dass mit dieser Strafe eigentlich der Höhepunkt aller Märchengrausamkeiten erreicht sei[24].

Offenbar wird die Hinrichtung der Täter und Täterinnen im Märchen ins Extreme gesteigert. Ebenso erscheint die an den Märchenhelden oder -heldinnen vollzogene Todesstrafe besonders grausam: Die Strafe stehe oft in keinem Verhältnis zur begangenen Freveltat, und auch kleinere Vergehen wie z. B. Neugierde würden im Märchen streng geahndet[25]. So betreten neugierige Mädchen eine verbotene Kammer und werden zur Strafe zerstückelt...

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