Bevor die gewonnenen Erkenntnisse, über die Entwicklung des moralischen Urteils und wichtige Einflussgrößen des moralischen Handelns, auf die Schule bezogen werden, soll hier zunächst die Frage nach den offiziellen Erziehungszielen der Schule gestellt werden. Es wird zu erörtern sein, ob aus diesen Zielen, wie sie beispielsweise im Niedersächsischen Schulgesetz oder verschiedenen Grundsatzerlassen festgehalten sind, bereits abzuleiten ist, dass die Schule moralisch erziehen soll. Dabei wird deutlich werden, dass schulische Erziehung vor allem anstrebt, dass Schülerinnen und Schüler sich in einer Art
und Weise verhalten, die dem Erhalt unserer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft und den in ihr vorhandenen Grundwerten dient.
In wie weit sie dieses Ziel erreicht, ist fraglich. Die Analyse empirischer Studien wie der 1998/1999 durchgeführten Civic Studie zur politischen Bildung von 14-jährigen (Oesterreich, 2002, S. 15 f.) und der Shell Studie „Jugend 2002“ (Deutsche Shell, 2004) legt jedoch verschiedene Antworten nahe. Schließlich bleibt, die Erziehungsziele der Schule in Beziehung zu ihrer Struktur und tradierten Funktionsweise zu setzen und zu fragen, in wie weit diese sich derzeit angemessen ergänzen bzw. welche Bedingungen hierfür geschaffen werden müssten.
„Die große Mehrheit der auf dem Grundgesetz aufbauenden Verfassungen der deutschen Bundesländer nehmen Erziehungsziele sowie erziehungsbezogene Elternrechte explizit auf“ (Engfer, 1999, S. 61). Eine Auswertung der Länderverfassungen zeigt, dass in allen Bundesländern, die eben solche Ziele in ihre Verfassung mit aufnehmen die „Ausbildung einer ‚sittlichen Persönlichkeit’ ..., die in einer ‚freiheitlich-demokratischen Gesinnung’ ein gemeinschaftsorientiertes Leben führt“ (Engfer, 1999, S. 66) angestrebt wird und fast alle sich auf die Menschenrechte berufen.
Das Land Niedersachsen nennt in seiner Landesverfassung (1993) nur die Schulpflicht und verweist weitere Schulfragen an den Gesetzgeber. Erziehungsziele werden im niedersächsischen Schulgesetz und den hierauf basierenden Grundsatzerlassen für die einzelnen Schulformen formuliert.
Im niedersächsischen Grundsatzerlass für die Grundschule ist ausgeführt, dass Schülerinnen und Schüler in der Schule lernen sollten, „sich anderen ... gegenüber situationsangemessen, hilfsbereit und rücksichtsvoll zu verhalten, eigene Wünsche zurückzustellen, ... sich an Ordnungsformen zu halten, Regeln der Zusammenarbeit zu beachten, aber auch sich selbst zu behaupten und eigene Standpunkte zu vertreten“ (Niedersächsisches Kultusministerium, 2004a). Darüber hinaus sollen sie unterschiedliche Lebensformen akzeptieren und damit einhergehend andere religiöse und weltanschauliche Überzeugungen achten. Bei dem Entwurf eines Schulprogramms ist Werteerziehung als Fächerübergreifendes Bildungs- und Erziehungsziel zu berücksichtigen (Niedersächsisches Kultusministerium, 2004a).
Im Grundsatzerlass für die Realschule wird festgehalten, dass Ziel der Schule bestehe in der Bildung der Gesamtpersönlichkeit von Schülerinnen und Schülern. Schule dürfe nicht einseitig auf Leistungen im kognitiven Bereich ausgerichtet sein (Niedersächsisches Kultusministerium, 2004c). Stattdessen soll die Schule zur Herausbildung humaner Einstellungen und Verhaltensweisen beitragen und soziale Integration fördern. Konkret wird ausgeführt, dass die Schülerinnen und Schüler sich für die Umwelt einsetzen, sich gesundheitsbewusst verhalten, für gute Beziehungen unter Menschen verschiedener Nationalität, Kultur und Religion eintreten und schließlich sich partnerschaftlich, also einander als gleichberechtigt akzeptierend, verhalten sollen (Niedersächsisches Kultusministerium, 2004c).
Die Hauptschule setzt sich zum Ziel, Schüler zu entlassen, die ihr Leben sinnvoll und eigenverantwortlich gestalten können und zudem über Kompetenzen verfügen, die ihnen eine aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ermöglichen. Durch Erziehung sollen Hauptschüler zu Selbstverantwortlichkeit, Anstrengungsbereitschaft, Zuverlässigkeit, Teamfähigkeit, Ordnung und Pünktlichkeit geführt werden (Niedersächsisches Kultusministerium, 2004b).
Grundlage der Zielformulierungen der angeführten Grundsatzerlasse ist § 2 des Niedersächsischen Schulgesetzes (NschG, 2004), in dem der Bildungsauftrag der Schule formuliert ist. Dort heißt es:
Die Schule soll ... die Persönlichkeit der Schülerinnen und Schüler auf der Grundlage des Christentums, des europäischen Humanismus und der Ideen der liberalen, demokratischen und sozialen Freiheitsbewegungen weiterentwickeln. Erziehung und Unterricht müssen dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland und der Niedersächsischen Verfassung entsprechen; die Schule hat Wertevorstellungen zu vermitteln, die diesen Verfassungen zugrunde liegen. Die Schülerinnen und Schüler sollen fähig werden,
- die Grundrechte für sich und jeden anderen wirksam werden zu lassen, die sich daraus ergebende staatsbürgerliche Verantwortung zu verstehen und zur demokratischen Gestaltung der Gesellschaft beizutragen,
- nach ethischen Grundsätzen zu handeln sowie religiöse und kulturelle Werte zu erkennen und zu achten,
- ihre Beziehungen zu anderen Menschen nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit, der Solidarität und der Toleranz sowie der Gleichberechtigung der Geschlechter zu gestalten,
- Konflikte vernunftgemäß zu lösen, aber auch Konflikte zu ertragen,
- sich umfassend zu informieren und die Informationen kritisch zu nutzen,
- sich im Berufsleben zu behaupten und das soziale Leben verantwortlich mitzugestalten. (NschG, 2004)
Zwei Dinge werden aus diesen Formulierungen schnell klar: Erstens, unsere Schulen sind keineswegs wertneutral, sondern sollen ganz klar die Schülerinnen und Schüler zu bestimmten Werten erziehen, und zweitens soll Schule dazu beitragen, dass sich Kinder und Jugendliche in einer bestimmten Art und Weise verhalten, das heißt, eben nicht nur kognitiv zu erkennen, sondern auch entsprechend handeln.
Dass dieser Zusammenhang jedoch nicht linear sondern hoch komplex ist, wurde in Kapitel 3.2 versucht zu zeigen. Es stellt sich die Frage, ob Schulen überhaupt in der Lage sind, diesem Anspruch gerecht zu werden. Zumindest sollte klar geworden sein, dass eine einseitige Konzentration auf einzelne Aspekte, die moralisches Verhalten beeinflussen, allzu leicht wirkungslos bleiben kann.
Die im Gesetzestext oder auch in den Grundsatzerlassen genannten Erziehungsziele der Schule sind zu einem großen Anteil moralische Erziehungsziele. Rücksicht auf andere nehmen, nach ethischen Grundsätzen handeln, Beziehungen gerecht gestalten, um nur einige Beispiele herauszugreifen, beziehen sich auf Moral. Die zu Beginn dieser Arbeit gelieferte Begriffsdefinition von Moral, besonders aber auch Kohlbergs (1968, S. 30) Definition von moralischem Denken als Gerechtigkeitsdenken und die Kritik am Ansatz von Kohlberg, in der weitere Aspekte, die die Moral umfasst, hervorgehoben wurden, sollten diese Feststellung leicht nachvollziehbar machen.
Das gesamte Schulwesen steht nach Art. 7 Abs. 1 des Grundgesetzes unter der Aufsicht des Staates und dieser darf auch eigene Erziehungsziele verfolgen, wie aus unterschiedlichen Urteilen des Bundesverfassungsgericht hervorgeht (z.B. BVerfG, 1 BvR 1640/97). Zwar enthält das Grundgesetz selbst „keine expliziten Erziehungsziele, gleichwohl basiert es auf identifizierbaren Werten, die ihrerseits wiederum zur Legitimation erzieherischen Handelns hinzugezogen werden können. Die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes kann dabei durchaus als bewußte Korrektur einer weitgehend wertneutralen Weimarer Verfassung interpretiert werden“ (Engfer, 1999, S. 59).
Unsere Schule soll Menschen hervorbringen, die sich mit moralischen Werten, wie sie in der Verfassung festgehalten sind, identifizieren und nach ihnen handeln. Das heißt, es werden der Demokratie förderliche Werthaltungen angestrebt.
Das dies so ist, ist für sich genommen nicht weiter überraschend, hat die sozialwissenschaftliche Forschung doch gezeigt, dass die Schule in jeder Gesellschaft prinzipiell drei Funktionen erfüllt: Qualifikation (Vermittlung von Fähigkeiten und Fertigkeiten), Selektion (Auslese, Verteilung der Positionen in der Gesellschaft) und Integration (Reproduktion von Normen und Werten, die der Sicherung der Herrschaftsverhältnisse dienen) (Fend, 1980, S. 235 f.).
Auch in unserem Schulsystem erfüllt die Schule...