Kapitel 2
Auswirkungen auf das Soziale Umfeld, die Sozialisation, die Psyche und
die Gesundheit des Kindes im familiären Kontext
1. Allgemeine Auswirkungen von Armut auf die kindliche Entwicklung
(Hintergrundinformationen über die Bereiche Soziales Umfeld,
Sozialisation, Psyche und Gesundheit
„Du bist, was du isst.“ Dieses allgemein bekannte Sprichwort könnte wahrhaftig als ein Symbol für Armut gelten, denn wer nicht einmal die Mittel hat, sich und seine Familie vernünftig zu ernähren, der wird auch kaum über Mittel verfügen selbständig aus dem Teufelskreis Armut zu entfliehen. Obwohl die Auswirkungen von Armut bei Kindern und Jugendlichen sehr vielfältig und individuell sein können, bedeuten sie jedoch oft eine starke Einschränkung im Bereich der Erfahrungs-, Entwicklungs- und Lernmöglichkeiten. So wird die Chance des einzelnen Kindes verringert, seine individuellen Anlagen zu entfalten und sie für sich und der Gesellschaft einzusetzen. So bedeutet Armut für Kinder nicht nur ein Verzicht auf Güter, sondern auch oft ein Ausschluss aus der gesellschaftlichen Teilhabe. Die Einschränkungen erstrecken sich zudem auf eine bewusste Ernährung, Unterstützung auf dem Bildungsweg, Pflege sozialer Beziehungen und die Begünstigung eines harmonischen Familienlebens. Die Armut ist also nicht nur als ein Merkmal der sozio-ökonomischen Ressourcen zu definieren, sondern ist als ein multidimensionaler Zusammenhang zwischen materiellen, kulturellen und psycho-sozialen Merkmalen der lebensweltlichen Bedingungen anzusehen.[47] Vordergründig geht es insbesondere um psychische, gesundheitliche und soziale Auswirkungen von Armut auf Kinder und Jugendliche. Bezüglich der psychischen Auswirkungen tendieren Kinder und Jugendliche laut dem 10. Kinder- und Jugendbericht einerseits zu Reaktionen, wie depressiver Verstimmung, Ängstlichkeit und Gefühle, wie Hilflosigkeit, andererseits zu aggressiven Reaktionen und zu Normverstößen.
Diese Auswirkungen wurden in den deutschen Untersuchungen (Schindler, H./ Wetzels 1985; Walpaper 1988) nachgewiesen.[48] Auf der Datenbasis der internationalen Studie „Health Behaviour in School-Aged Children- A WHO (World Health Organisation) Cross National Survey“, die unter anderem Daten über den körperlichen, psychischen und sozialen Gesundheits- und Krankheitszustand Jugendlicher gewonnen hat, basieren auf die Ausführungen Klockes. Er wählte für seine Analysen den deutschen Datensatz, welcher auf die Altersspanne der 12- bis 16jährigen begrenzt wurde. Wie die Zahlen aufweisen, so Klocke, seien Kinder und Jugendliche in Armut durch ihre Lebensumstände belastet. So lasse sich sehr auffällig eine geringere Lebenszufriedenheit, Gefühle der Hilflosigkeit und Einsamkeit, sowie ein geringeres Selbstvertrauen der von Armut Betroffenen beobachten. Obwohl nicht alle die Armut als belastend empfunden haben und entsprechend stabil und unbeeindruckt die Armut verarbeiten konnten, ist der Zusammenhang von Armut und psychosozialen Belastungen unübersehbar. Hierdurch wird deutlich, dass durchgängig der Einfluss der sozialen Lebenslage auf das psychosoziale Wohlbefinden und die Lebensfreude der Kinder und Jugendlichen vorliegt.[49] Gerd Iben, der unter anderem Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche hinsichtlich der elterlichen Langzeitarbeitslosigkeit (Untersuchung von Zenke / Ludwig 1983 – 1991) in seinen Ausführungen benennt, führt unter psychischen Auffälligkeiten – Angstzustände, Schlafstörungen, motorische Unruhe, emotionale Labilität, Konzentrationsschwächen, Regressionen und unter sozialen Auffälligkeiten – Abbruch sozialer Kontakte, Angst vor Stigmatisierung, Distanzierung von den Eltern, Leistungsabfall und Delinquenz an. Außerdem wurden bei den Untersuchungen von Zenke und Ludwig weitere Symptome festgestellt:
deutlich geringeres Selbstwertgefühl,
Depressivität und Einsamkeit,
sie sind empfindlicher, misstrauischer, weniger gesellig und
weniger in der Lage, Stress zu bewältigen,
Nervosität, rasche Ermüdbarkeit und Konzentationsschwäche führen
fast immer zum Absinken der Schulleistungen,
sie erwarten von der Zukunft weniger und neigen auch gegenüber beruflichen Möglichkeiten zur Resignation.[50]
Andreas Klocke macht in seinen Ausführungen bezüglich des psychosozialen Wohlbefindens in Armutslagen folgende Aussagen: „… Kinder und Jugendliche in Armut haben im Bereich des psychosozialen Wohlbefindens einen schlechteren Status als Kinder und Jugendliche aus der Vergleichsgruppe. Auf die unterprivilegierten Lebensbedingungen reagieren die Kinder und Jugendlichen mit seelischen Belastungen und Anomiesymptomen.“[51] Ein weiteres Problemfeld in der Armutsbekämpfung ist die Vernachlässigung, die verstärkt in armen Familien entdeckt worden ist. Diese Vernachlässigung lässt sich jedoch ebenso in anderen Bevölkerungsschichten ausfindig machen. Die Ursachen kommen häufig mit der Auseinandersetzung der elterlichen Problembewältigung einher, Anlässe wie Trennung, Scheidung oder andere Problemlagen können dazu führen, dass die Kinder häufig sich selber überlassen sind.[52] Laut Christoph Butterwegge gilt als sichergestellt, dass materielle und soziale Armut immer auch Auswirkungen auf die Gesundheit haben. So macht er in seinen Ausführungen deutlich, dass für Personen die in sozial benachteiligten Verhältnissen leben, folgende Punkte zutreffen:
Dass es eine deutlich höhere postnatale Säuglingssterblichkeit, als in den oberen sozialen Schichten, gibt.
Dass die Zahl der Kinder, die mit einem Gewicht von weniger als 2.500 Gramm geboren werden, deutlich höher ist.
Dass die Mortalitätsrate durch Unfälle zweimal höher ist, als bei Kindern aus privilegierteren Schichten.
Dass verschiedene akute Krankheiten deutlich häufiger auftreten und
dass es eine höhere Anfälligkeit für chronische Erkrankungen gibt.[53]
Bezüglich gesundheitlicher Beeinträchtigungen ist die Armut häufig mit Fehlernährung und folglich mit gesundheitlichen Belastungen verbunden. Der Bielefelder Gesundheitssurvey weist Zusammenhänge von Armut, gesundheitlichen Beeinträchtigungen und subjektivem Empfinden von Unwohlsein für ältere Kinder in Nordrhein-Westfalen nach, die vor allem auf schlechte Ernährung, ungenügende Körperpflege und wenig Sport der Kinder in armen Familien zurückgeführt werden.[54] Nach einer Umfrage im Rahmen des „Health Behaviour in School-Aged Children-Survey 1994“ der Universität Bielefeld, bei der 3.328 SchülerInnen im Alter zwischen elf und 15 Jahren befragt wurden, fühlten sich Schüler aus den unteren sozialen Schichten erheblich kränker, als die aus oberen sozialen Schichten. Sie fühlten sich z.B. unglücklicher und klagten häufiger über Kopfschmerzen, als Kinder aus Familien mit höherem Einkommen. Zudem berichteten die Betroffenen, dass sie öfters schlecht gelaunt bzw. gereizt seien.[55]
Da das Aufwachsen in Armut den Kindern und Jugendlichen viel abverlangt, ist es nicht verwunderlich, dass sie häufiger körperlich krank sind und öfter psychische und psychosomatische Störungen aufweisen. Neben den Lebensbedingungen spielen auch das Gesundheitsverhalten und die gesundheitliche Versorgung eine große Rolle. Im Hinblick sozialer Benachteiligung wird oftmals die mangelnde Konkurrenzfähigkeit im Konsumbereich genannt. So haben zum Beispiel 25 Prozent der befragten Schulkinder auf die Frage, was sie sich unter Armut vorstellen, geantwortet: „Dann kann ich mir keine Markenklamotten kaufen und habe keine Freunde mehr.“[56] Nach Gerd Iben ein markanter Beweis des Konsumterrors, der als Folge einer Gefährdung sozialer Zugehörigkeit einzustufen sei. Somit werden Kinder und Jugendliche, denen man schon an ihrer Kleidung die finanzielle Lage der Familie ansehen kann, schnell zu Außenseitern abgestempelt. Oft probieren Eltern diese Akzeptanzprobleme zu kompensieren, indem sie versuchen ihren Kindern das gleiche zu bieten, was die Freunde in der Clique besitzen. Dies führt zu einer Einschränkung der Bedürfnisbefriedigung bei den Eltern.
„Viele Aktionen, wo es darum geht, mit Gleichaltrigen etwas zu tun, fallen ansonsten dem Verzicht zum Opfer. Ob Schulausflüge, Kinobesuche, Mitgliedschaft im Sportverein oder kleine Geburtstagsgeschenke, alles kostet Geld, das man nicht hat. Dabei ist es gar nicht notwendig, sich besonders hervorzutun. Es reicht schon, wenn der ganz normale Standart nicht erreicht wird. Damit büßt das Kind schnell an Wertschätzung in der Gleichaltrigengruppe ein.“[57]
Oft kann die Angst der Stigmatisierung die Kinder so unter Druck setzen, dass es zum Abbruch sozialer Kontakte kommt. Diese Isolations- und Rückzugstendenzen schränken die Lebensqualität stark ein und können negative Sozialisationsprozesse in Gang setzen, die ein ganzes Leben prägen.
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