Was uns krank macht
Der Siegeszug der Schulmedizin
Über die Jahrtausende der Entwicklung der Menschheit entstanden in den verschiedenen Kulturen komplexe Vorstellungen darüber, was gesund und was krank macht und wie gesundheitliche Probleme behandelt werden sollen.
In Europa setzte sich in den vergangenen 150 Jahren die moderne Schulmedizin durch – zunächst als alleinige Methode des industriellen Medizinbetriebes, inzwischen vielfältig ergänzt um Maßnahmen aus den anderen, in Europa lange Zeit zurückgedrängten Denkwelten.
Das schulmedizinische Denksystem, wie es heute besteht, ist ein Kind der Industriegesellschaft und in seinen Grundstrukturen erst etwa 150 Jahre alt. Die Grundlagen dafür schufen Robert Koch und Louis Pasteur, die mit der Entdeckung der Bakterien als Krankheitserreger bekämpfbare Krankheitsursachen aufspürten, sowie Rudolf Virchow, der die Theorie der Zellpathologie veröffentlichte. Sie besagt, dass Krankheiten auf Störungen der Körperzellen basieren. Eine weitere Voraussetzung war die Fähigkeit, in den menschlichen Körper einzudringen, ohne allzu viel Schaden anzurichten. Erst als der englische Chirurg Joseph Lister 1870 die Wunddesinfektion entwickelt hatte, konnten medizinische Eingriffe in großer Anzahl in den Krankenhäusern durchgeführt werden, die damit ihre erste Blüte als Medizin-Fabriken erlebten.
Die Entdeckung der Bakterien als Ursache von Infektionskrankheiten führte zur heute als Irrtum erkannten Auffassung, ein keimfreies Leben könne zur Abwesenheit von Krankheiten führen. Und die Entwicklung von chemischen Substanzen, die Bakterien töten können, schuf die Grundlage der industriell herstellbaren und vermarktbaren Medizin – der Arzneimittel. Dass Antibiotika bislang die einzige Substanzgruppe blieben, die tatsächlich ursächlich in den Entstehungsprozess von Krankheiten eingreifen, hat die Entwicklung nicht in Frage gestellt. Bis heute beherrscht der Einsatz von Medikamenten die Denkwelt der Schulmedizin. Objektiven Untersuchungen halten diese Ansprüche nicht stand.
Die Erfolge der Schulmedizin sind unbestritten: In den Fällen, in denen eine einfache, aber massive Schädigung von außen oder der Mangel an einer einzelnen Substanz im Körper zu einem Gesundheitsproblem führt, hat sie viel erreicht.
Schwerste Unfälle mit daraus resultierendem Multiorganversagen können dank Unfallchirurgie und Intensivmedizin überlebt, Gliedmaßen wieder angenäht, Gelenke und Körpersäfte ersetzt werden. Vielen Patienten, die von Krampfadern gequält werden, von Hämorrhoiden oder der Parkinson-Krankheit, sichert die Medizin heute eine deutlich verbesserte Lebensqualität. Das Eingreifen bei Darmverschluss, Magendurchbruch oder Behandlungen im Rahmen der Geburtshilfe kann lebensrettend sein.
Durch immunologische Vorsorge lassen sich verschiedene Erkrankungen bei Neugeborenen vorbeugen.
Mit biochemischen Methoden können die Ärzte unterschiedlichen Drüsenabnormitäten beikommen, wie etwa einer Störung der Nebennieren, der Hypophyse oder der Schilddrüse. Anämien lassen sich wirkungsvoll per Blutaustausch bekämpfen. Antibiotika haben zur Rettung unzähliger Leben beigetragen. Fortschritte in der Anästhesie und technische Neuerungen ermöglichen der Chirurgie spektakuläre Eingriffe in den Körper.
Beim Ersatz von nicht mehr funktionierenden Organen erzielen die schulmedizinisch arbeitenden Chirurgen beachtliche Erfolge. Menschen können nun viele Jahre weiterleben, auch wenn eines ihrer lebenswichtigen Organe längst versagt hat. Für schwer Herzkranke und Dialysepatienten sowie für Menschen mit einer nicht mehr funktionierenden Leber ist das eine drastische Verbesserung der Lebenschancen.
Auch wenn die Zahl der Nutznießer insgesamt gering, die Zahl der von Unfalltoten entnommenen Organen begrenzt und der Preis auch für die Betroffenen – allein schon wegen der notwendigen immunsuppressiven Behandlung – hoch ist, prägen diese Erfolge das Bild des Fortschritts der Medizin.
Machtlos gegen die großen Killer
Wenn aber ein komplexer Prozess im menschlichen Körper zu einer langwierigen Krankheit führt, ist die Medizin heute annähernd so hilflos wie vor 100 Jahren. Bis heute ist gegen die großen Killer Herztod und Krebs ebenso wenig ein Mittel gefunden wie gegen die Plage Rheuma. Das rasche Ansteigen der Allergien, Demenzen, Depressionen und Stoffwechselkrankheiten wird ratlos beobachtet und mit einer Fülle von wenig wirksamen Maßnahmen zur Symptomlinderung beantwortet, auch wenn immer größere Diagnosegeräte und immer komplexere Behandlungsabläufe den Eindruck einer immer ausgeklügelteren Therapie erwecken.
In ihrem Streben, einzelne Laborwerte, menschliche Zellen und Gene zu beeinflussen, haben die Mediziner freilich längst den Überblick über das Ganze verloren. Das enorme Wissen über die Abläufe im Körper, bis in die Bestandteile der Zellen, wird weniger zum Verständnis der komplexen Prozesse genutzt, die zu einer Krankheit führen, sondern fast ausschließlich, um ein Gen, ein Molekül oder eine chemische Fehlfunktion zu finden, die Schuld haben und deren Ausmerzung den heilenden Segen bringt.
Trotz dieser auch von vielen Medizinern erkannten Defizite entwickelt sich das Denkmuster immer weiter: Krankheit als Betriebsschaden im menschlichen Körper ist ein einprägsames Bild, das der Medizin in der modernen Gesellschaft einen hohen Stellenwert verschafft und der Pharmaindustrie große Gewinne garantiert.
Doch der Mensch ist kein simples Räderwerk, sondern ein enorm differenziertes, lebendes System. Anstatt die eigenen Systemmängel zu erkennen, konzentriert sich der Medizinapparat darauf, neue Geräte und Analysemethoden zu entwickeln, um die Diagnose ständig zu verfeinern.
Noch ist es eine Minderheit, aber sie wächst von Jahr zu Jahr: Immerhin rund ein Drittel der Allgemeinmediziner und rund ein Fünftel der Fachärzte gaben in einer Umfrage der Zeitschrift Brigitte an, bei der Diagnostik von Krankheiten auch nach den gesunderhaltenden Elementen in der Geschichte ihrer Patienten zu forschen und bei den Empfehlungen zur Lebensstiländerung die Bedürfnisse und Gewohnheiten der Menschen zumindest nicht zu ignorieren. Denn Regeln und Verbote haben sich längst als unwirksame Mittel der Beeinflussung des Verhaltens erwiesen. Nur wer die Gewohnheiten und Vorlieben eines Menschen miteinbezieht, kann einen Lebensstil so beeinflussen, dass er die Gesundheit fördert.
Moderne Heilkunst denkt und handelt in vernetzten Strukturen. Sie sieht genetische Vorgaben, die Biographie von Personen und die soziale Kultur miteinander verwoben. Krankmachende und heilende Kräfte wirken auf den Menschen ein; Schmerzen lassen sich mit Aspirin bekämpfen, aber auch durch neues Glück im Alltagsleben. Einsamkeit und Prüfungsstress verringern die Abwehrkraft der Blutkörperchen, und Bakterien werden gefährlicher, wenn der Mensch sozial entwurzelt ist. Mentale Einstellungen beeinflussen die physiologische Leistungskraft von Sportlern, und Gefühle verändern die Körperchemie unmittelbar. Krebspatienten mit gutem Kontakt zu anderen Menschen haben deutlich höhere Überlebenschancen, und Placebomedikamente vermögen wundersame Heilungen auszulösen.
Dies alles sind Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaft. Eine neue Theorie für den Organismus als lebendes System im sozialen Zusammenhang entsteht und braucht neue Konzepte für die Heilung aus eigener Kraft.
Beziehungsbereitschaft und Beziehungsfähigkeit müssen bestimmende Faktoren für die Heilung werden – denn Beziehung heilt am meisten. Bei Prävention und Heilung aus eigener Kraft denkt, fühlt und handelt man in diesen dynamischen Wechselbeziehungen und nicht mehr in eindimensionalen Ursache-Wirkungs-Ketten.
Moderne Gesundheitsförderung setzt auf die Stärkung der Persönlichkeit und ihre Befähigung, in sozialen Gruppen gemeinsam Veränderungen durchzusetzen. Heilung aus eigener Kraft geht davon aus, dass Menschen ihre Fähigkeiten dann am besten entfalten, wenn sie eigenverantwortlich handeln können und sie an den sie betreffenden Entscheidungen beteiligt werden. Auch dies formuliert die Ottawa-Charta der Weltgesundheitsorganisation deutlich: «Die sich verändernden Lebens-, Arbeits- und Freizeitbedingungen haben entscheidenden Einfluss auf die Gesundheit. Die Art und Weise, wie eine Gesellschaft die Arbeit, die Arbeitsbedingungen und die Freizeit organisiert, sollte eine Quelle der Gesundheit und nicht der Krankheit sein.»
Äußere Faktoren als Quelle der Krankheit
In den letzten 50 bis 100 Jahren haben sich unsere Lebensbedingungen radikal verändert. Die Umweltbelastung als Folge der Luft- und Wasserverschmutzung durch die ins Gigantische gewachsene Industrialisierung wirkt sich auf uns alle aus. Die Arbeitsbedingungen, bestimmt durch Konkurrenzdruck und immer komplizierter werdende Abläufe, verursachen Stress, Gefühle der Überforderung und Ausweglosigkeit. Die Folgen: die mangelnde Fähigkeit, sich in der Freizeit zu entspannen, falsche Ernährung, zu wenig Bewegung, steigender Alkohol- und Tabakkonsum, womöglich Drogen- und Medikamentenmissbrauch. Hinzu kommt die ständige Reizüberflutung durch die Medien. Ein Burn-out ist nicht selten das Ergebnis dieser falschen Lebensweise.
Natürlich sind diese äußeren Faktoren nicht zu unterschätzen. Wir sollten uns alle dafür einsetzen, dass unsere Umwelt nicht länger zerstört wird, unsere Lebensmittel nicht weiter...