Das Gesetz der Polarität – bestimmender Faktor dieser Welt
Yin und Yang brauchen und ergänzen einander, erst gemeinsam bilden sie das Tao, die Ganzheit. Nirgendwo wird das so klar und einfach deutlich wie im Tai-Chi-Symbol. Das ist schon das ganze Geheimnis: Yin + Yang = Tao. Beide Seiten der Polarität bedürfen einander und sind nur zusammen ganz und eins. Wann und wo immer wir lediglich einen Teil betonen, wächst der andere im Schatten mit.
Da wir das meist gar nicht bemerken, sprechen wir dann von der unbewussten, geheimen oder eben der Schattenseite im Sinne C. G. Jungs, des Begründers der analytischen Psychologie.
An nichts krankt unsere Welt so wie am Schatten. Die helle Yang- und die dunkle Yin-Seite ergänzen sich zum vollkommenen Symbol des Kreises oder der Einheit. Aber selbst noch in jedem Teil steckt der Gegenpol, wie der schwarze Punkt im weißen Yang-Feld und der weiße im schwarzen Yin zeigen. Von diesem Grundmuster ist unser Leben mehr bestimmt, als wir oft ahnen.
Dies kann man schon an einem einfachen, für unsere Lebensstimmung aber mitentscheidenden Beispiel deutlich machen: In die helle Zeit des Tages, dem Yang und der Sonne entsprechend, sind wir gut beraten, einen Yin-Bereich wie den Mittagsschlaf oder eine Meditation zu integrieren. In der dunklen Yin-Zeit der Nacht haben wir mit den Träumen der REM-Phasen4 ganz automatisch einen Yang-Anteil. Dadurch erst werden unser Tag und unser Leben rund.
Die Polarität macht in dieser Welt vor nichts halt und setzt sich immer weiter fort; das heißt, in jedem Pol findet sich wieder der Gegenpol. Deshalb müssten wir das Symbol eigentlich wie hier dargestellt zeichnen und dann immer so weiter.
Selbst noch in der Mathematik finden wir das polare Prinzip wieder. Minus und Plus entsprechen und ergänzen sich auch dort und heben einander auf. Wir könnten es auf folgende Formel reduzieren:
Die Erfahrung der Polarität gehört nicht nur zu unserem täglichen Leben, sie ist unser tägliches Leben. Wer einen Stein werfen will, holt sich den Schwung vom Gegenpol. Er wird zuerst nach hinten ausholen, um den Stein dann möglichst weit nach vorn zu schleudern. Jeder kennt das auch von Kugelstoßern und Speerwerfern.
Das greif-barste Beispiel der Polarität haben wir in unserer Hand, das wichtigste in unserem Denken im Kopf. Wollen wir etwas greifen, müssen wir den Daumen in Opposition zu den übrigen vier Fingern bringen. Nur wenn der Daumen diesen Gegenpol einnimmt, ist Greifen möglich. Würde er sich in eine Reihe mit den anderen Fingern stellen, hätten wir eine Klammerhand wie manche Affen und keine Chance, Werkzeuge zu benutzen und auf der übertragenen Ebene unser Leben in den Griff zu bekommen.
So wie wir nur über den Gegenpol greifen können, ist uns auch das Be-greifen nur über die Polarität möglich. Wie könnten wir uns »klein« vorstellen, wenn es nichts Größeres gäbe, was wäre uns »hoch« ohne »tief«, was »reich« ohne »arm«? Und sogar »gut« ergäbe ohne »böse« keinen Sinn. Alles in dieser Welt hat seinen Gegenpol, seine andere Seite. Mit einem Bein könnten wir nicht gehen, mit einem Auge nicht räumlich sehen, und das Einatmen braucht das Ausatmen. Wird eine Seite zu sehr betont, kommt es zur Schattenbildung und damit zu Problemen. Der Asthmatiker übertreibt das Einatmen, »vergisst« das Ausatmen und kann an dieser Einseitigkeit im sogenannten Status asthmaticus sogar sterben. Geben braucht Nehmen und vice versa.
So wie Einatmen das Ausatmen, so erzwingt Schlaf das Erwachen und Leben den Tod. Die Umkehrung ist in vieler Hinsicht selbstverständlich: Das Ausatmen erzwingt natürlich auch das Einatmen wie auch das Wachen den Schlaf. Jede Tür ist immer Ein- und Ausgang, je nach Blickwinkel, auch wenn wir oft nur eine Seite wahr- und wichtig nehmen. Insofern ist die östliche Ansicht, dass nicht nur das Leben den Tod erzwingt, sondern der Tod auch das Leben, logischer, weil sie sich im Einklang mit dem Polaritätsgesetz befindet.
Diese Welt ist eine der Gegensätze von ihren kleinsten bis zu ihren größten Aspekten. Das Atom besteht aus positiv geladenem Kern, um den negativ geladene Elektronen kreisen. Beide Seiten sind gegensätzlich und ziehen sich doch an – sie brauchen einander, um ganz zu sein. Lediglich durch die Bewegung der Elektronen auf ihren Bahnen stürzen sie nicht in den Kern in der Mitte. Dieses System im Kleinsten ist zugleich Modell des Größten, denn ähnlich kreisen die Planeten um die Sonne als Zentrum und alle Sonnensysteme um die Mitte des Spiralnebels unserer Galaxie, die wir »Milchstraße« nennen, weil sie aus unserer Perspektive als breites Lichtband erscheint, während sie von der Seite wie eine Linse und von oben wie ein Spiralkreis aussieht.
So ergibt sich der Tanz um die Mitte oder das Bild des Mandalas, des zentralen Musters dieser Schöpfung, dem nicht nur jedes Atom entspricht, sondern auch jede Zelle, unser Auge, der Kopf und die Erdkugel, aber auch jeder andere Himmelskörper und schließlich die ganze Galaxie. Bis zu allergrößten astronomischen Dimensionen stoßen wir auf dieses Prinzip, finden sogenannte Quasare, die unvorstellbar große Energiemengen ausstrahlen, und Schwarze Löcher, die sie wieder einsaugen.
Polarität in der modernen Naturwissenschaft und Technik
Da in der materiellen Schöpfung alles aus Atomen besteht, lässt sich in diesem polaren System die zentrale Grundstruktur erkennen: Mandala und zugleich grundlegendes Bild unserer Wirklichkeit. Da aber alles polar ist, sollte es – jedenfalls aus Sicht dieser Welt – auch bezüglich der Polarität einen Gegenpol geben.
Der Nobelpreisträger Max Planck ging in einer 1929 in Berlin gehaltenen Rede sogar so weit, die Existenz der Einheit beziehungsweise Gottes aus der Polarität abzuleiten (was freilich noch kein »Gottesbeweis« im herkömmlichen Sinne ist). Er sagte:
Es gibt keine Materie an sich. Alle Materie entsteht und besteht nur durch die Kraft, welche die Atomteilchen in Schwingung bringt und sie zum winzigsten Sonnensystem des Atoms zusammenhält. Da es im gesamten Weltall weder eine intelligente noch eine ewige Kraft gibt, so müssen wir hinter dieser Kraft einen bewussten, intelligenten Geist annehmen. Dieser Geist ist der Urgrund aller Materie. Nicht die sichtbare und vergängliche Materie ist das Reale, Wirkliche, Wahre – denn die Materie bestünde, wie wir gesehen haben, ohne diesen Geist überhaupt nicht –, sondern der unsichtbare, unsterbliche Geist ist das Wahre.
Da es aber Geist an sich allein auch nicht geben kann, sondern jeder Geist einem Wesen zugehört, müssen wir zwingend Geistwesen annehmen. Da aber auch Geistwesen nicht aus sich selbst sein können, sondern geschaffen werden müssen, so scheue ich mich nicht, diesen geheimnisvollen Schöpfer ebenso zu benennen, wie ihn alle Kulturvölker der Erde früherer Jahrhunderte genannt haben: Gott.5
Die Polarität findet sich auch in allen »Niederungen« der praktischen Wissenschaften. Chemiker gehen selbstverständlich davon aus, dass Salz nur entstehen kann, wenn die Gegenpole Säure und Base zusammenkommen. Die Säure ist dabei das (archetypisch männliche) Protonen abstoßende Prinzip, die Base das Protonen einsaugende (archetypisch weibliche). Auch der Aufbau der Moleküle gehorcht der Polarität, denn es sind gegenpolare Kräfte räumlicher und elektrischer Anziehung, die sie im Innersten zusammenhalten.
Bild 4
Zwei besonders gelungene Darstellungen
der wichtigsten Geschlechtshormone.
Die Vererbung folgt ebenfalls polaren Mustern mit den jeweils paarweise auftretenden Chromosomen und den beiden gegenpolaren Geschlechts-Chromosomen: das weibliche X und das männliche Y. Eine Ebene tiefer, innerhalb der Chromosomen, bestimmt der genetische Code der DNS den Erbgang, der dem Schlüssel-Schloss-Prinzip und damit ebenfalls dem polaren Prinzip folgt.
Die Polarität beherrscht natürlich auch die Welt der Technik. Elektrischer Strom braucht beide Pole, Plus und Minus, oder er bricht zusammen. Der Magnet lebt von Nord- und Südpol. Das Rad, von dem unser Fortschritt so lange lebte und es zum Teil immer noch tut, beruht auf der Spannung zwischen der Leere in der Mitte und der sie umkreisenden Peripherie. Das Tao Te King drückt das poetisch aus:
Wir fügen Speichen in einem Rad zusammen,
aber es ist das Loch in der Mitte,
das die Bewegung des Wagens bewirkt.
Wir formen Ton zu einem Topf,
aber es ist die Leere darin,
die das Gewünschte enthält.
Wir zimmern Holz für ein Haus,
aber es ist der Innenraum,
der es bewohnbar macht.
Wir arbeiten mit Seiendem,
doch Nichtsseiendes macht den Nutzen aus.6
Und selbst noch die Computer, die das Rad als Symbol des Fortschritts ablösten, leben von der Spannung zwischen der Null und der Eins und bauen auf diesem sogenannten binären System ihre und unsere neue Welt auf.
Der Ursprung der Polarität oder Polarität und Sexualität
Der menschliche Körper ist wie alle Materie dieser Schöpfung aus Atomen aufgebaut, welche ihrerseits Moleküle bilden, die wiederum Zellen ergeben. In der Zelle stehen der ruhende, alle Information enthaltende Kern und das aktive, die praktischen Lebensvorgänge unterhaltende Zytoplasma in...