Es gibt keine einheitliche Gewaltdefinition. Seitdem das Phänomen der familiären Gewalt wissenschaftlich untersucht wird, herrscht Uneinigkeit über eine angemessene Definition.
Der Begriff „Gewalt“ lässt sich vom altdeutschen Wort „waltan“ bis zu seiner indogermanischen Wurzel „ual-dh-“ zurückverfolgen. Laut Herkunftswörterbuch steht die indogermanische Wurzel für „stark sein, beherrschen“. Das altdeutsche Wort „waltan“ bezeichnet das spezifische Merkmal eines Herrschenden. Das heißt, Gewalt dient zur Machtausübung, zum Gefügigmachen und wird bei Ungehorsam zur Bestrafung und zur Unterdrückung angewandt (vgl. Lamnek/Ottermann 2004, S. 14).
Neben der Begrifflichkeit „körperlicher Übergriff“ bzw. „Gewalthandlung“ hat das Wort „Gewalt“ auch andere, ganz alltägliche Bedeutungen – im Sinne von „staatlicher Gewalt“ oder „polizeilicher Gewalt“. Im deutschsprachigen Raum steht das Wort Gewalt damit sowohl für den körperlichen Angriff, als auch für die behördliche Amtsgewalt oder die Staatsgewalt (vgl. Lamnek/Ottermann 2004, S. 14-15). Als Staatsgewalt bezeichnet man die Ausübung der Macht innerhalb eines Staates durch dessen staatliche Organe, wie z.B. die Verwaltung, die Polizei und die Gerichte. Somit kann der Begriff „Gewalt“ in Verbindung mit Staatsgewalt oder auch in Verbindung mit dem Gewaltmonopol des Staates ebenfalls einen legitimen Charakter annehmen.
Unter häuslicher Gewalt versteht man laut Weltgesundheitsorganisation: „jede gegen Frauen aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit gerichtete Gewalthandlung, durch die Frauen körperlicher, sexueller oder psychischer Schaden oder Leid zugefügt wird oder werden kann, einschließlich der Androhung derartiger Handlungen, der Nötigung oder der willkürlichen Freiheitsberaubung, gleichviel ob im öffentlichen oder privaten Bereich“ (Ministerium für Gesundheit, Soziales, Frauen und Familie (MGSFF) 2004, S. 9).
Häusliche Gewalt umfasst somit alle Formen der physischen, sexuellen, psychischen, sozialen und emotionalen Gewalt zwischen erwachsenen Menschen, die in nahen Beziehungen zueinander stehen oder gestanden haben (vgl. Berliner Interventionsprojekt gegen häusliche Gewalt (BIG) 2002, S. 5).
Die Kinder befinden sich in der Situation der häuslichen Gewalt nicht nur in einer Zeugenposition, sondern oft auch gleichzeitig in einer Opferposition. Man spricht in diesem Zusammenhang von Kindesmisshandlung, die sich in Misshandlungen, sexuellem Missbrauch oder Vernachlässigungen widerspiegelt (vgl. Kavemann 2000, S. 4). Gewalt gegen die Mutter ist damit auch immer eine Form der Gewalt gegen das Kind.
In der vorliegenden Diplomarbeit soll der Blickwinkel des Lesers vorrangig auf männliche Gewalt gegen Frauen gerichtet werden, dessen Zeuge die Kinder werden. Das Kind ist von der Gewalt nicht unmittelbar, sondern mittelbar betroffen, es wird Zeuge der Gewalt gegen die Frau.
Unter dieser Prämisse soll der Aspekt der Gewalt im Geschlechterverhältnis näher betrachtet werden. Gewalt im Geschlechterverhältnis meint Gewalt gegen Frauen aufgrund ihres Geschlechtes, also Gewalt, die Frauen in ihrer Geschlechtlichkeit angreift (vgl. Hagemann-White 1992, S. 22). Diese Form von Gewalt ist sowohl abhängig von der Geschlechtlichkeit des Opfers, als auch von der Geschlechtlichkeit des Täters. Empirisch gesehen ist Gewalt im Geschlechterverhältnis in der Regel männlich. Gewalt gegen Frauen findet allerdings auch auf einer anderen Ebene statt. Die Unterdrückung, das Abwerten, verächtlich und ohnmächtig machen der Frauen in unserer Gesellschaft, kann im weit gefassten Sinne als Gewalt gegen das Geschlecht Frau gewertet werden. Gewalt gegen Frauen kann nach Hagemann-White deshalb immer nur im Gesamtzusammenhang mit der patriarchalischen Unterdrückung und Erniedrigung von Frauen gesehen werden. Sie ist immer eingebettet und verankert in die gesellschaftlich vorherrschende Konstruktion des Geschlechterverhältnisses. Die meisten Kulturen und Gesellschaften sind von männlicher Überlegenheit und Dominanz geprägt. Auch unsere Gesellschaft ist männlich geprägt. Gewalt findet hier unter Ausnutzung eines strukturell vorgegebenen Machtverhältnisses statt (vgl. Hagemann-White 1992, S. 22). Durch bestimmte Strukturen in unserer Gesellschaft wird Gewalt an Frauen ermöglicht, begünstigt und oft sogar tabuisiert (vgl. Kapitel 2.4.). Carol Hagemann-White definiert Gewalt im Geschlechterverhältnis als „Verletzung der körperlichen oder seelischen Integrität einer Person im Zusammenhang der Geschlechtlichkeit des Opfers und des Täters, unter Ausnutzung eines Machtverhältnisses durch die strukturell stärkere Person.“ (Hagemann-White 1992, S. 23). Die strukturell stärkere Person ist in den meisten Familienkonstellationen der Mann, der seine Machtposition gegenüber der Frau durch Anwendung von direkter oder indirekter bzw. struktureller oder personaler Gewalt, wie Galtung es in seiner Definition zur strukturellen Gewalt bezeichnet, auslebt.
Sowohl im Zusammenhang mit der Diskussion um Gewalt im Geschlechterverhältnis, als auch mit der Diskussion um Gewalt im Eltern-Kind-Verhältnis wird immer wieder auf das Konzept der strukturellen Gewalt, welches von dem Friedensforscher Johan Galtung konzipiert worden ist, zurückgegriffen.
Galtung greift in seinen Ausführungen ein erweitertes Verständnis von Gewalt auf. Der bisher bekannte Begriff der personalen (direkten) Gewalt wird von Galtung durch den Begriff der strukturellen (indirekten) Gewalt erweitert. Während es sich bei der personalen Gewalt um direkte und unmittelbar von einem einzelnen Menschen (also dem Akteur) gegenüber einem anderen einzelnen Menschen ausgeübte Gewalt handelt, meint strukturelle Gewalt alle Formen von Unterdrückung und Ausbeutung von Menschen.
Strukturelle Gewalt ist indirekt (ohne Akteur) und nicht unmittelbar als solche identifizierbar. Unter struktureller Gewalt wird also all das verstanden, was kaum mehr als Gewalt erkennbar ist, aber dennoch Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft verursacht. Strukturelle Gewalt ist in das jeweilige System (die Struktur) eingebaut. Sie äußert sich in ungleichen Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen und ungleichen Lebenschancen durch ungleiche Verteilung von Ressourcen (vgl. Galtung 1975, S. 12).
Laut Galtung erzeugen sich strukturelle und personale Gewalt wechselseitig (vgl. Galtung 1975, S. 24). Empirisch gesehen sind beide Formen von Gewalt voneinander unabhängig, was sich aus der Existenz so genannter „bullies“ herleiten lässt. Darunter werden Menschen verstanden, die in jeder Art von System gewalttätig sind, völlig außerhalb jedes strukturellen, von der Gesellschaft als sinnvoll erkannten Zusammenhangs. Bei genauerer Überprüfung besteht jedoch eine Kausalbeziehung zwischen der strukturellen und der personalen Gewalt dahingehend, dass strukturelle Gewalt in ihrer Vorgeschichte auf personale Gewalt zurückzuführen ist (vgl. Galtung 1975, S. 24). So führen gewisse Strukturen zu einer gewissen Form von Gewalt.
Dabei ist bei der Betrachtung der Gewalt gegen Frauen eine Auseinandersetzung mit Galtungs Definition der strukturellen Gewalt wichtig. Neben der Ausübung direkter Gewalt, spielt hier insbesondere das Vorhandensein struktureller Gewalt in Form von ungleichen Machtverhältnissen eine besondere Rolle. Einerseits erleben Frauen direkte Gewalt, erfahren andererseits aber auch immer wieder, dass repressive Strukturen aufrecht erhalten werden. Unter diesen repressiven Strukturen ist eine immer noch in manchen Köpfen vorherrschende Rollenverteilung zwischen Mann und Frau gemeint. Frauen sind für Haushalt und Kinder zuständig, ihre Männer für das Einkommen. Unter struktureller Gewalt kann jedoch auch eine ungleiche Behandlung von Frauen und Männern in Personalauswahlverfahren oder Eignungstests verstanden werden. Aufgrund dessen kommt es dann immer wieder zu der oben dargelegten Kausalbeziehung, in der sich strukturelle und personale Gewalt wechselseitig erzeugen. Strukturelle Gewalt ist nach außen hin zwar nicht direkt erkennbar, ist aber meist wirksamer und für Frauen bedrohlicher als brachiale Gewalt - sie ist alltäglich, normal und still (vgl. Lau u.a. 1979, S. 146).
Durch das Vorhandensein struktureller Gewalt in unserem System wird es für die Frauen schwieriger, sich aus den vorgefertigten Macht- und Rollenverhältnissen auszubrechen.
„Häusliche Gewalt kommt in allen gesellschaftlichen Schichten vor“ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), 1998, S....