Der Fall der Mauer
November 1989
»Das war der Tag, an dem der Zweite Weltkrieg zu Ende ging …«
Es war Donnerstag, der 9. November 1989, als ich diese Zeile in meine Schreibmaschine tippte. Ich saß in einem Büro von Studio Hamburg und sollte den Abendkommentar für RTL sprechen. Im Fernsehen lief die Zusammenfassung eines Fußballspiels. Die ARD hatte den Beginn der Tagesthemen verschoben, um die Sendung nicht zu unterbrechen. Ich schaltete weiter. Im gemeinsamen Dritten Programm des Norddeutschen Rundfunks und des Senders Freies Berlin mühten sich Reporter, die undurchsichtige Lage an der Westseite der Berliner Mauer zu analysieren.
Gegen 19.00 Uhr an diesem Abend hatte Günter Schabowski, Mitglied des SED-Politbüros, am Ende einer Pressekonferenz fast beiläufig und in geübter Bürokratensprache eine weltpolitische Sensation verkündet: »Dann haben wir uns dazu entschlossen, heute eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen.«
»Gilt das auch für Westberlin?«, fragte ein Journalist.
»Also, doch, doch«, antwortete der DDR-Politiker. »Ständige Ausreise kann über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD beziehungsweise Berlin-West erfolgen.«
Ständige Ausreise? Ungläubiges Staunen machte sich in den Gesichtern der westlichen Korrespondenten breit. Ein italienischer Journalist fragte, ab wann denn diese Regelung gelte.
Irritiert blickte Schabowski auf seine Vorlage. Dann stammelte er: »Das tritt nach meiner Kenntnis, äh, ist das sofort, unverzüglich.«
Die Nachricht hatte mich im Auto erreicht. Maggie Deckenbrock, stellvertretende Chefredakteurin des neuen kommerziellen Fernsehsenders RTL, rief an und fragte mich, ob ich nicht den Kommentar zur Maueröffnung sprechen wolle, der Chefredakteur des Senders sei gerade in Urlaub. Man könne ihn nicht erreichen.
»Zur was?«, fragte ich.
»Zur Maueröffnung.«
Sie haben es tatsächlich gemacht, dachte ich und willigte ein. Zum Studio Hamburg musste ich durch die ganze Stadt fahren. Während ich mich durch den stockenden Verkehr quälte, wanderten meine Gedanken zurück.
Am Montag jener Woche hatte mich abends der damalige Chefredakteur des Spiegel, Werner Funk, zu Hause besucht. Wenige Tage zuvor hatte Egon Krenz, Nachfolger des abgelösten Staats- und Parteichefs Erich Honecker, die im Oktober verhängte Visasperre für die Tschechoslowakei aufgehoben. Jetzt durften DDR-Bürger wieder nach Prag reisen – und hatten dadurch die Möglichkeit, sich von dort aus über Ungarn in den Westen abzusetzen. Funk fand das politisch höchst gefährlich.
Als er sich vor der Haustür verabschiedete, sagte er: »Der ist völlig verrückt. Die laufen ihm doch jetzt alle weg.«
»Dem bleibt nichts anderes übrig«, sagte ich. »An Stelle von Krenz würde ich jetzt die Mauer aufmachen.«
Funk lachte laut: »Du immer mit deinen Ideen …« Er lief die Treppe nach oben.
»Weißt du was«, antwortete ich. »Wenn du ein Loch in der Badewanne hast, dann ziehst du besser den Stöpsel raus. Dann läuft das Wasser durch den Abfluss und nicht in die Wohnung …«
Während ich ins Haus zurückging, schoss mir ein Gedanke durch den Kopf. Die sind auch nicht blöder als du. Die machen das.
Am nächsten Morgen, es war Dienstag, der 7. November 1989, suchte ich mir bei Spiegel TV den besten Reporter, der im Haus war. Ich stieß auf Georg Mascolo, einen Jungjournalisten, den ich ein gutes Jahr zuvor beim privaten Rundfunksender Radio FFN abgeworben hatte.
»Georg, schnapp dir ein Kamerateam und fahr nach Ostberlin«, sagte ich.
»Und welche Geschichte soll ich da machen?«, fragte Mascolo.
»Keine bestimmte«, erwiderte ich. »Bleib in der Nähe der Mauer. Da passiert irgendetwas«.
Ungläubig schüttelte er den Kopf. »Und wie stellst du dir das vor?«
»Keine Ahnung. Fahr nach Ostberlin, pass auf, was passiert, und geh dahin, wo die Menschen hingehen.«
Georg machte sich mit dem Kamerateam auf die Reise zur Beobachtung der Mauer in Berlin.
Es war eine Mauer, die zwei Weltsysteme trennte, den Ostblock und den Westen, Kapitalismus und Sozialismus, eine Grenze, die Familien auseinanderriss und die gemacht schien für die Ewigkeit. Hochgerüstete Armeen standen sich hier gegenüber, bis an die Zähne bewaffnet, ausgerüstet mit nuklearen Sprengkörpern, mit denen die Welt mehrfach hätte in die Steinzeit zurückbombardiert werden können.
Hier in Berlin war sie 44,8 Kilometer lang und vier Meter hoch.
Nach achtundzwanzig Jahren sollte sie ihren schrecklichen Sinn verlieren. Niemand schien zu merken, dass dieser Moment unmittelbar bevorstand. Vierzig Jahre und dreißig Tage waren vergangen, als Staat und Bevölkerung der DDR begannen, einen neuen Umgang miteinander zu proben.
Donnerstag, der 9. November 1989, war ein ruhiger Herbsttag. Das Kamerateam fing eine symbolträchtige Szene ein. Am Ufer der Spree wanderten ein paar Schwäne über einen Fußweg, auf den sie nicht gehörten. Zwei Volkspolizisten näherten sich mit einer volkseigenen Wolldecke und warfen sie über die Vögel. Sie wurden ergriffen und zurück ins Wasser geworfen. Es war wie ein Sinnbild der kommenden Ereignisse: Der Obrigkeitsstaat entließ seine Kinder aus der behördlich reglementierten sozialistischen Geborgenheit in die Freiheit.
Das Kamerateam war in der Nähe der Mauer geblieben, in einer Kneipe am Prenzlauer Berg. Dort lief ein Fernseher mit DDR-Programm. In den 19.30-Uhr-Nachrichten meldete die Sprecherin Angelika Unterlauf die Neuregelung der DDR-Ausreisebestimmungen: »Die zuständigen Abteilungen der Volkspolizei sind angewiesen, auch Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich zu erteilen.« Es war der Startschuss für ein neues Zeitalter.
Das Kamerateam stürzte auf die Straße. Innerhalb weniger Minuten machte sich eine Trabikolonne auf den Weg nach Westen.
»Wie komme ich am schnellsten nach Steglitz?«, fragte ein aufgeregter junger Mann mit einem Stadtplan in der Hand die Westreporter.
»Steglitz in Westberlin?«
»Na, Mensch, na logo, wo denn sonst?«
Es begann ein Massenansturm auf den nächsten Grenzübergang, Bornholmer Straße, Prenzlauer Berg. Das Prinzip Freiheit sollte ausgetestet werden. Doch vor die Ausreise hatten die Behörden den Stempel gesetzt. Nur mit aufgedrucktem Visum sollte der spontane Ausflug in den Westen möglich sein. Der Stempel wurde zur Hälfte auf das Passfoto gesetzt, um die Drängler später identifizieren zu können und ihnen gegebenenfalls die Rückkehr zu verweigern. Die Grenzer arbeiteten zügig, die Schnecke drehte auf. Der Atem der Geschichte bestand hier aus einer Dunstwolke aus Zweitakterabgasen. Der Aufbruch in ein unbekanntes Land in derselben Stadt endete zunächst im Verkehrsstau.
Tausende versammelten sich und riefen immer wieder im Chor »Aufmachen, aufmachen« und »Wir kommen zurück, wir kommen zurück«.
Das Kamerateam war auf einen Zaun geklettert und filmte ununterbrochen, was sich hier zusammenbraute. Die Menschen standen an, um einmal im Westen ein Bier zu trinken. So viel Jubel hatte sich selten aus Warteschlangen erhoben. Doch ohne Pass und Visumstempel lief hier noch immer nichts. Ordnung musste sein im Staate DDR, immer schön der Reihe nach, im sozialistischen Gang. Binnen weniger Minuten war der Personalausweis zum Fahrschein in die Freiheit geworden. Manche spürten, dass die Republik der Genossinnen und Genossen gerade ihren Ungeist aufgab. Wozu sollte noch ein Pass gut sein? Die Freiheit braucht keine Papiere. Vor laufender Kamera zerriss ein Mann seinen DDR-Ausweis: »Wie lange wir gewartet haben, darauf, achtundzwanzig Jahre hat es gedauert. Ich lebe dafür. Ohne das.« Er ließ die Reste zu Boden fallen.
Die Masse harrte aus. Nur die Geduld kannte in der DDR keine Grenzen. Man hatte seine Bürger erzogen. Die Grenzer, viele davon Stasi-Mitglieder, verstanden die Welt nicht mehr. Hier vor ihren Augen zeigte sich, dass die Staatspartei ihre Massenbasis verloren hatte. Binnen zwei Monaten hatte sich ein Volk seiner Angst entledigt.
Die Tagesschau verkündete um 20.00 Uhr die Weltsensation, als handle es sich um eine Routinemeldung aus dem ost-westlichen Alltag: »Ausreisewillige DDR-Bürger müssen nach den Worten von SED-Politbüromitglied Schabowski nicht mehr den Umweg über die Tschechoslowakei nehmen …«
Dann sendete das Erste Deutsche Fernsehen die Live-Übertragung eines Fußballspiels. Es war das DFB-Pokal-Achtelfinale zwischen dem VfB Stuttgart und Bayern München. Als die Tagesthemen um 22.30 Uhr beginnen sollten, hatten die Bayern mit 3:0 gewonnen. Doch statt auf den Fall der Mauer umzuschalten, sendete die ARD die Zusammenfassung des Spiels Kaiserslautern gegen Köln (2:1), das gleichzeitig stattgefunden hatte. Dafür wurde der Beginn der Tagesthemen an diesem historischen Tag um elf Minuten verschoben.
In der Bornholmer Straße wurde währenddessen Geschichte gemacht. Diensthabender Offizier war der stellvertretende Leiter des Kontrollpunktes, Oberleutnant Harald Jäger. Dreiundzwanzig...