In der Öffentlichkeit ist häusliche Gewalt eine männliche Domäne. Die konträre Vorstellung, dass die Frau den Mann schlägt und dieser sich nicht einmal wehrt, erscheint unglaubwürdig bis undenkbar und wird „unter einer Glocke des Schweigens versteckt“.[1] Dieses Szenario kann nur, wenn überhaupt, als die Ausnahme der Ausnahme akzeptiert werden. Doch, dass es keine Ausnahme zu sein scheint, zeigen die kontrovers zu diskutierenden Hell- und Dunkelfeldwerte in diesem Bereich. Zur Untermauerung dieser Diskussion werden zwei Beispiele aus jeweils einer Hell- und Dunkelfeldstudie aus der Schweiz und Österreich aufgeführt. Die Statistik für das Jahr 2005 weist im Kanton Zürich bei den Hellfeldzahlen einen Anteil von 22% männlicher Opfern von häuslicher Gewalt aus.[2] Die Gesamtzahl der ermittelten Fälle ist in der Regel höher, weil die Dunkelfeldzahlen nicht in der Statistik auftauchen. Bei den Dunkelfeldstudien[3] stellt das österreichische Bundesministerium in der Zusammenfassung des Gewaltberichtes 2001 resümierend fest, „dass die meisten empirischen Untersuchungen insgesamt ungefähr gleich große Raten der Gewaltanwendung von Frauen und Männern in Lebensgemeinschaften und bei nicht zusammenlebenden Paaren nachweisen.“[4] Demzufolge sind die Schätzungen der Dunkelfeldstudien bis zu 50% Frauengewalt in heterosexuellen Beziehungen. Die Studien zu Gewalt gegen Männer unterscheiden sich in der Fragestellung, in der Methodik aber auch in der Frage wie stark sie das Dunkelfeld mit einbeziehen und welche Samplingmethode verwendet wird. Für eine ganzheitliche Erfassung müssen die kognitiven Filtermethoden umgangen werden. Psychologische Faktoren (Angst, Scham…), aber auch Verdrängungs- und Kontrollmechanismen, soziale Repräsentationen von Gewalt (wie schätzt der Gewaltbetroffene das Erlebte ein?), internalisierte Normen und Werte müssen bei der Befragung durch eine besondere Atmosphäre des Verständnisses und der Zusicherung von Anonymität so breit wie möglich ausgeschaltet werden.
Vielfältige, jedoch kritisch zu hinterfragenden wissenschaftlichen Forschungsberichte, internationale Studien[5] sowie kriminologische, soziologische, psychologische und medizinische
Vergleiche in den jeweiligen Fachzeitschriften und ganz aktuell die Pilotstudie des außeruniversitären Forschungsverbundes „Gewalt gegen Männer“[6], geleitetet von Ludger Jungnitz, Hans-Joachim Lenz u.a. Projektbeteiligten zeugen, unabhängig des Ausmaßes, von der Existenz dieses Phänomens im häuslichen Bereich. Die Pilotstudie[7] wurde vom Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) im Jahre 2001 in Auftrag gegeben und die Ergebnisse in dem Buch „Gewalt gegen Männer“ 2007 veröffentlicht. Selbst die Forscher der Pilotstudie wiesen schon in den ersten Zeilen ihrer Einleitung darauf hin, dass, wenn gegenüber Außenstehenden erwähnt wurde, dass diese Pilotstudie zu Frauengewalt stattfindet, diese sich immer nochmals vergewisserten, ob sie auch richtig gehört hätten.[8] Der Kriminologe Prof. Dr. Michael Bock äußerte sich in der Sendung Kontraste wie folgt: „Die menschliche
Aggressivität ist nicht geschlechtsspezifisch und die Frage der Körperkraft spielt eine höchst untergeordnete Rolle, wenn man die Schwächen des Partners kennt, dann ist es überhaupt kein ins Gewicht fallender Faktor.“[9] In der Öffentlichkeit und sogar von ExpertInnen[10] kann
dieser Sachverhalt kaum nachvollzogen werden.
In dieser Arbeit wird die Gewalt nur im Kontext von heterosexuellen Beziehungen dargestellt. Trotz des persönlichen Bewusstseins dieses Tabu-Themas in der Öffentlichkeit und der eigenen soziokulturellen Erfahrung (meine Großmutter hat meinem Großvater des Öfteren in meinem Beisein geschubst und geschlagen, ohne dass er sich wehrte!) wurde ich bei meiner Recherche von der Literatur, den Zahlen und Statistiken überrascht. Es ist als positiv zu bezeichnen, dass es diese Ergebnisse der Pilotstudie in Deutschland gibt und äußerst erstaunlich, dass sie mehr darstellen, als die Ausnahme einer Ausnahme. Niemals hätte ich vermutet, dass die vorgefundenen Zahlen, wenn sie nur annähernd stimmen, in solche Höhen steigen. Bei der Recherche zu diesem Thema wurde im Vorfeld Kontakt zu verschiedenen ExpertInnen in diesem Bereich aufgenommen, mitunter zu Helmut Wilde, Dipl. Psychologe und 1. Vorsitzender des Männerbüros „Talisman“[11] in Trier, zu SozialarbeiterInnen von Beratungsstellen, zu Frau Birgit Meyer, der Gleichstellungsbeauftragte der Hochschule Esslingen und zu Hans-Joachim Lenz, Diplom-Soziologe, Männerforscher und Mitglied des Forschungsverbundes der Pilotstudie. Er unterstützte mit partiellen Empfehlungen[12] diese Arbeit, die das Ziel hat, dieses Thema zu enttabuisieren, um betroffene Männer zu ermutigen, gegen das Widerfahrene vorzugehen. Die/der Gewaltbetroffene, ob Frau oder Mann, muss erkennen, dass es grundsätzlich Unrecht ist, wenn Frau oder Mann durch Anwendung unterschiedlichster Gewaltformen physisch, psychisch oder sexualisiert verletzt wird. Oft fühlen sich die Betroffenen noch schuldig und suchen die Verantwortung des Widerfahrenen bei sich selbst.[13] Dieses Unrecht verstößt gegen das Recht auf Unversehrtheit des Körpers und somit gegen eines der wichtigsten Grund- und Menschenrechte.
Die Fragestellung ist, die Ursachen zu klären, warum Frauengewalt in der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen wird. Was muss eintreten, um bei diesem Thema zu einem Paradigmenwechsel zu kommen? Wie könnte ein neues Geschlechtersystem aussehen, wenn das patriarchalische, geschlechterstereotype System als Initialzündung von Gewalt enttarnt ist? Wenn enttarnt wird, dass auch Männer unter der „geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung und mithin unter dem (modernisierten) Patriarchat leiden, dass ihnen die Möglichkeit der psychosozialen Entfaltung verwehrt sind“[14], könnte dann von ihnen selbst eine neue Denkgrundlage ausgehen? Würde das neue Geschlechtersystem aufhören mit zweierlei Maß zu messen, weil anerkannt wird, dass Frau und Mann in gleicher Weise verletzlich ist? Wenn einer Frau Gewalt widerfährt, insbesondere brutale Gewalt, so ist das zutiefst verachtenswert. Das vorhandene Hilfesystem muss so schnell wie möglich greifen, um diese Frau aufzufangen. Aber - ist es nicht genauso verachtenswert und furchtbar, wenn Männern diese Gewalt widerfährt? In unserem Geschlechtersystem gelten Männer als unverletzlich, stark und beschützerisch. Gahleitner und Lenz stellen den normierten deutschen Mann als Konstrukt einer idealen Männlichkeit vor. Dieser muss demnach „heterosexuell, verheiratet mit Kindern, gesund, (tat-)kräftig, mittleren Alters, deutscher Pass“ und „erwerbstätig“[15] sein Sie weisen darauf hin, dass dieser Idealmann nicht in seiner Widersprüchlichkeit, Bedürftigkeit und Verletzlichkeit gesehen wird. „In männlichkeitsdominierten Verhältnissen, wird Männlichkeit und Verletzlichkeit als Paradoxie wahrgenommen, als nicht miteinander vereinbar.“[16] Männer werden dazu erzogen, erlittenen Schmerz hinzunehmen und sich bloß nicht „mädchenhaft“ anzustellen. Durch die vorhandenen Rollen-konstruktionen wird die Tatsache von gewaltbereiten Frauen in einer Paarbeziehung von der Öffentlichkeit übersehen und verdrängt, als wäre sie nicht existent. Selbst wenn die betroffenen Männer ihre Scham überwinden und sich als Gewaltbetroffene outen, wird ihnen meist nicht geglaubt. Der Gewaltakt wird bagatellisiert bis verniedlicht, weil „Mann“ sich ja wehren kann.
Im Gegenzug dazu wird, durch den ausgeübten Druck der Frauenbewegung, den Frauen inzwischen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit geglaubt. In der Pilotstudie wird von einem Fall berichtet, in der Polizei und Nachbarn bei einem Mann, dem Gewalt widerfahren ist, ganz selbstverständlich davon ausgegangen sind, dass der Mann der Täter sei.[17]
In einem ersten Schritt wird die Definition von Gewalt in ihren unterschiedlichsten Gewaltformen dargestellt. Besonders die sexualisierte Gewalt wird in der Pilotstudie unter dem Aspekt der physischen und psychischen Verletzung der Persönlichkeit hervorgehoben. Nachdem im Unterkapitel „Gewalterfahrung versus Gewaltwiderfahrnis“ zunächst die Definition der personaler Gewalt aus der Pilotstudie aufgegriffen wurde, wird die Notwendigkeit einer neuen Gewaltsprache diskutiert, die von den Forschern der Pilotstudie eingefordert wird. Aus diesem Hintergrund heraus wird der Opferbegriff in dieser Arbeit konsequent mit „Gewaltbetroffene/r“[18] umgesetzt. Die Gründe hierfür werden in dem o.g. Kapitel erläutert. Für den Begriff der Täterin/des Täters konnte noch kein adäquater Ersatz in der Literatur gefunden werden. Er wird, wann immer möglich, mit dem Begriff der/des „Gewaltausübende/n“ oder der „gewaltausübenden Person“ versehen.
Im Kapitel „Häusliche Gewalt = männliche Gewalt?“ werden Resonanzen von ExpertInnen bei der Konfrontation mit der Pilotstudie...