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Authentische Kriegsreflexionen? Eine Analyse von Otto Dix' Werk: Der Krieg

50 Radierungen

AutorCordula Gries
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2008
Seitenanzahl157 Seiten
ISBN9783638019712
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis39,99 EUR
Magisterarbeit aus dem Jahr 2007 im Fachbereich Kunst - Grafik, Druck, Note: 1,0, Philipps-Universität Marburg (Kunstgeschichtliches Institut), 77 Quellen im Literaturverzeichnis, Sprache: Deutsch, Abstract: Heute beschreiben Historiker ihn als die 'Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts' (Burgdorff u. Wiegrefe). Der Erste Weltkrieg sprengte alle bisher gültigen Kategorien und wurde zum Paradigma der Gewalterfahrung. Neueste Waffentechniken forderten die maximale Zerstörung. Der zermürbende Stellungs- und Grabenkrieg, der vor allem die Westfront bestimmte, verwüstete ganze Landstriche und forderte insgesamt über 3 Millionen tote Soldaten auf allen Seiten. Otto Dix, Künstler und Soldat, kehrte nach vier Jahren Kriegsdienst an der Front unversehrt zurück. Das Erleben des Krieges prägte fortan sein künstlerisches Schaffen. Diese Arbeit widmet sich seinem 1924 veröffentlichten Radierzyklus 'Der Krieg', in dem er das Sterben und Vegetieren der Soldaten in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges schilderte. Es wird die ideologisch geführte Debatte dargestellt, die sich seit der Veröffentlichung 1924 um die Radierungen entspann und der Bogen bis zum gegenwärtige Stand der Forschung gespannt. Die Analyse legt u.a. die künstlerischen Strategien dar, die Dix entwickelte, um dem Betrachter glaubhaft zu vermitteln, hier die Wirklichkeit, wie er sie erfahren hatte, zu schildern. So integrierte Dix beispielsweise in seine Bildkompositionen charakteristische Ästhetiken von Reportagefotografien, um den Authentizitäteindruck des Dargestellten zu verstärken. Aber auch der Vergleich mit zeitgenössischer Kriegsliteratur spielt in diesem Zusammenhang eine Rolle. Letztlich wird der Frage nachgegangen, inwiefern die 50 Radierungen des Zyklus eine Reflexion und Visualisierung der kriegsbedingten Traumatisierung des Künstlers sind.

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Leseprobe

4. Der Krieg (1923/24) - Betrachtung des Gegenstandes


 

4.1. Das Spektrum der Motive


 

Von den Kriegszeichnungen grenzen sich die Krieg - Radierungen inhaltlich insofern ab, als dass die Perspektive hier hauptsächlich auf den Menschen gerichtet ist, der von dieser riesigen Kriegsmaschinerie zermalmt wird. Nicht mehr die Energie der kriegerischen Auseinandersetzung steht im Mittelpunkt (vgl. Abb. 59) - wie es noch innerhalb der Kriegszeichnungen der Fall war-, sondern das Dasein und Sterben der Soldaten in der von Schützengräben und Granaten zerfurchten Landschaft der Westfront. Kampfgeschehen spielt folglich eine untergeordnete Rolle und taucht nur vereinzelt auf, etwa, wenn ein Sturmtrupp unter Gas vorgeht, (Abb. 12) oder ein Maschinengewehrzug sich mit sämtlichen Waffen durch den Morast aus Schlamm und Leichen quält (Abb. 41). Die Folgen der Kampfhandlungen dagegen beherrschen einen Großteil der Radierungen.

 

4.1.2. Soldatentod


 

Der Tod als Folge des Krieges spielt in fast jeder der fünfzig Radierungen eine mehr oder minder wichtige Rolle. Dementsprechend bildet die Darstellung eines Soldatengrabes das Leitmotiv ganz am Anfang des Zyklus (Abb. 1). Es ist ein „schlechtes Grab“. Otto Dix schilderte einmal in einem Feldpostbrief an eine gute Freundin, den Zustand eines guten und eines schlechten Soldatengrabes. Letzteres beschreibt er anhand einer Zeichnung (Abb. 60) folgendermaßen:

 

 „(…) Der liegt kaum einen Meter tief. Zufällig wurde dort später der Laufgraben vorbeigeführt, und nun streckt der Mensch seine Beine heraus in den Schützengraben. Auch liegt er nicht in gleicher Richtung mit seinem Grabhügel. Das ist weniger schön. (…) Es regnet viel und der Franzose schießt viel. Das ist alles was man sagen kann...“[73]

 

Seinen Grabhügel hat das hier in der Radierung gezeigte Soldatengrab zwischen den Linien bereits eingebüßt. Vermutlich haben weitere Granateinschläge diesen zerstört und die Leiche des Soldaten freigelegt. Vom silbrigen Mondlicht beschienen, streckt sie uns ein Bein entgegen. Die Erde ist aufgewühlt und das Kreuz zu ihren Füßen gekippt. Zwischen den Beinen des Toten macht sich bereits eine Ratte zu schaffen und komplettiert den entwürdigenden Anblick dieser letzten ‚Ruhestätte’ für einen Gefallenen.

 

Die Galerie der Toten setzt sich den ganzen Zyklus hindurch fort. Dix entwickelt ein Panorama des Kriegstodes, welches diesen in allen Facetten schildert. Da sind die gerade im Gas Vergifteten (vgl. Abb. 3), deren aufgedunsene und dunkel verfärbten Leiber aufgereiht liegen. Oder der tote Sappenposten (Abb. 18), der zwar fast schon skelettiert, aber noch wie im Augenblick seines Todes an der Grabenwand lehnt. Ein Schuss mitten ins Herz hat ihn auf der Stelle getötet und sein linkes Bein hochschnellen und in dieser grotesken Haltung erstarren lassen. [74]

 

Fast abstrakt wirkt da der Totentanz Anno 17 (Abb. 19), der einen Trupp im Drahtverhau verendeter Soldaten zeigt. Eine Leuchtkugel wirft für einen Moment einen hellen Schein auf die Toten. Sie starben vermutlich im Angriff auf die feindliche Stellung. Die Erregung und Dynamik des vorangegangenen Gefechtes ist in ihrer ‚lebhaften’ Totenstarre noch gegenwärtig. Es scheint tatsächlich als vollführten die Toten einen Tanz. Zwei Totenköpfe in Nahaufnahme beschließen letztlich den Zyklus (Abb. 50). Es wirkt als lache der eine über den anderen, der die Reste seines Gebisses zu einem gequälten Grinsen verzieht. Obwohl die Schädelknochen als Symbol des Todes das Todesthema in eine eher verallgemeinernde Sphäre überführen, verortet Dix es ganz konkret in der Realität des Ersten Weltkrieges, indem er dem Toten an dieser Stelle einen Namen gibt: Unteroffizier Müller aus der II. Kompanie, geb. im Mai 1894 in Köln.

 

4.1.3. Verwundung und Erschöpfung


 

Ist der Soldat nicht tot, so zeigt Dix ihn schwer verwundet und sterbend oder vollkommen erschöpft. Das durch seine klare und ausgewogene Gestaltung bestechende Blatt Ruhende Kompanie (Abb. 14) schildert, wie sich die Überlebenden einer Kompanie im Schutz der Dunkelheit niederlassen, um von den vorangegangen Kämpfen wenigstens einen Augenblick auszuruhen.

 

Wenn die Zurückgekehrten zum Appell antreten (Abb. 49), erschöpft, zerlumpt, verdreckt und mit hängenden Schultern, bilden sie ein Panorama von sehr individuellen Typen. Trotz aller Tragik, die sich in den Radierungen verdichtet, verzichtet Dix nicht auf seinen makabren Humor und die bittere Ironie, die in der Gegenüberstellung der abgekämpften Truppe mit ihrem steifen Kommandanten in Rückenansicht und seinen blitzblank gewichsten Stiefeln durchscheint. Auch weiß man nicht, wen Dix meint, wenn er das Blatt 7 aus Mappe V Verwundetentransport im Houthulster Wald nennt (Abb. 47). Meint er den Verwundeten, der in dem Tragetuch transportiert wird, oder die Verwundeten, die ihn transportieren. Denn auch die Sanitäter humpeln am Krückstock daher und schleppen den Verletzten ins Lazarett. Der Regen prasselt auf sie nieder und sie nehmen ihn reglos hin als spürten sie ihn nicht. Auch den hilfesuchenden Blick des Verletzten ignorieren sie. Das Elend soll nicht zu nah an ihre Seelen kommen, weshalb sie dumpf, ohne einen Blick zur Seite ihren gefährlichen Dienst verrichtend, weiterstapfen.

 

Andere schaffen es nicht ihre Seelen zu schützen und erleiden dort durch das Erlebte und Gesehene schwerste Verwundungen wie der wahnsinnig gewordene Soldat, der in der Nacht durch das Labyrinth aus Gräben und Ruinen irrt (Abb. 22). Er trägt seinen Tornister auf dem nackten Oberkörper und weiß nur noch durch krampfartiges Lachen, die permanenten Ängste zu vertreiben. Die qualvoll Sterbenden porträtiert Dix mit bewusster Distanzlosigkeit (vgl. Abb. 6 u.26). Auch die auf dem Schlachtfeld verwesenden Toten (vgl. Abb. 16,  23, 38 u. 42) hält er in unerbittlichen Nahaufnahmen fest. Dem Betrachter wird es dadurch unmöglich die Distanz zum Dargestellten zu wahren. Im Gegenteil, Dix macht ihn zum Augenzeugen, der das Geschehen aus nächster Nähe verfolgt. Diese distanzlose Betrachterperspektive, die bei den meisten der 50 Radierungen beobachtet werden kann, ist meines Erachtens mitverantwortlich für die enorme Suggestivkraft, die der Zyklus besitzt.

 

4.1.4. Alltag an der Front


 

Nur wenige Radierungen thematisieren den Alltag an der Front, vorausgesetzt man begreift den Tod nicht als alltäglich. Da kriechen beispielweise die Essenholer auf allen Vieren durch den eingestürzten Graben, um von der feindlichen Stellung nicht entdeckt zu werden (Abb. 43). Den blechernen Henkeltopf haben sie zwischen die Zähne geklemmt. Er soll die wahrscheinlich schon kalte und magere Ration aus der Gulaschkanone fassen, die die Frontstellungen mit Verpflegung versorgt.

 

Die beklemmende Enge eines Unterstandes wird dem Betrachter in Abb. 45 gegenwärtig. Während der bullige Soldat mit einem Kameraden Skat kloppt, geht der bebrillte Intellektuelle auf Läusejagt. Sein magerer Körper ist bereits von Läusebissen übersäht. Das blendende Licht und die Erschütterungen durch Granateinschläge, welche die Skatspieler auffahren lassen, stören die erschöpft Schlafenden in ihren engen Kojen nicht. Die beengte Situation des Unterstandes vermittelt Dix dem Betrachter, indem er seinen Protagonisten nur wenig Raum zur Entfaltung gibt. Die Schlafenden stapeln sich im Hintergrund und können kaum ihre Gliedmaßen ausstrecken, während der Läusejäger im Vordergrund nur in geduckter Haltung stehen kann, wenn er nicht mit dem Kopf an die Decke stoßen will. Die sichtbaren Grenzen des gezeichneten Raumes bilden zugleich die Darstellungsgrenzen und verstärken dadurch den Eindruck räumlicher Enge. Die imaginären Grenzen des Raumes verlaufen außerdem hinter dem Rücken des Betrachters und involvieren diesen dadurch im Geschehen. Dix lässt den Betrachter somit nicht als Zuschauer außen vor, sondern macht ihn zu einem Teil seiner Bildkomposition und seiner hier geschilderten Erinnerung.

 

4.1.5. Landschaft


 

Neben dem Mensch ist die Landschaft das zweite beherrschende Thema des Zyklus. Auch sie wird Opfer und gerät in das Mahlwerk des Krieges. Bei Langemarck (Februar 1918) (Abb. 7) ist sie zum Niemandsland geworden. Eine Müllhalde des Krieges türmt sich im Vordergrund auf. Aus aufgewühlten Erdmassen sprießen Eisenträger mit Stacheldraht und abgebrochene Bäume. Alte Fässer, Schädel und Tote modern dort vor sich hin. Die Zerstörung setzt sich in der Ferne endlos fort. Furor muss hier gewütete haben. Lediglich die ruinösen Überreste von Gehöften, erinnern an vergangene friedliche Zeiten, als der Boden noch Früchte trug.  Nun ist er zum Massengrab für abertausende Soldaten, Tiere und Kriegsmaschinen geworden.

 

Als der Abend in der Wijtschaete-Ebene (Abb. 27) im November 1917 einbrach, prägten ihr Profil die unzähligen, gefallenen Kämpfer. Bis an den Horizont erstreckt sich das Leichenfeld, das Dix hier visualisiert. Im Zyklus werden Mensch und Landschaft Eins, sie verschmelzen und bilden eine Schicksalsgemeinschaft auf Gedeih und Verderb. Die Landschaft bietet Schutz, wenn sich die Armeen wie Maulwürfe in ihr vergraben, sie raubt das Leben, wenn sie die Schutzsuchenden verschüttet, die Toten versinken und...

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